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Wie eine App die chinesische Küche abschaffte

Mit ein paar Klicks Essen zu bestellen, ist in China kinderleicht und teilweise günstiger, als selbst zu kochen. Wie machen Chinas Lieferdienste das?

Ein paar Knoblauchzehen und eine Packung Milch, ansonsten ist Kessys Kühlschrank leer. Dabei ist Kessy nicht knapp bei Kasse. Ganz im Gegenteil, sie gönnt sich einen ziemlichen Luxus: Kessy bestellt Essen, oft gleich mehrmals am Tag. Kessy ist eine Freundin von mir aus Shanghai, und sie ist eine von vielen Millionen Chines:innen, die das Kochen gegen ein paar Klicks in einer App eingetauscht hat.

Fast 550 Millionen Menschen in China bestellen regelmäßig Essen zu sich nach Hause. 2024 erwirtschaftete die Lieferdienstbranche umgerechnet 212 Milliarden Euro, also in etwa das BIP von Griechenland. Reissuppe oder Dumplings zu bestellen, ist teilweise günstiger, als selbst zu kochen. Geliefert wird jederzeit, an fast jeden Ort. Was es dazu braucht? Ein paar Klicks in einer App, nervige Anrufe oder Trinkgeld kann man sich sparen. Das bestellte Essen ist innerhalb weniger Minuten vor der Tür.

Ich wollte besser verstehen: Wie zur Hölle funktioniert das? Und verlernen etwa gerade 1,4 Milliarden Menschen zu kochen? Schnell wurde mir klar: Es geht um mehr als nur Essen. Es geht um Chinas einzigartiges Internet-Universum und den brutalen Wettbewerb in der chinesischen Tech-Welt. Im Zentrum steht die App, die heute fast 70 Prozent Marktanteil hält: Meituan. Ihr Erfolg erklärt, warum sich Chinas Mittelschicht das Kochen abgewöhnt hat.

Kapitel 1: Die Krieg der tausend Groupons

Die Geschichte davon, wie Chinas Bevölkerung das Kochen bleiben ließ, fängt mit etwas sehr amerikanischem an: Deals. Rabatte. Gewinne Gewinne Gewinne. Genauer gesagt mit dem Unternehmen, das in den 2000ern aus der Schnäppchen-Jagd ein Geschäft machte: Groupon. Groupon versprach 2-für-1 Menüs in deinem Lieblingsrestaurant, vergünstigte Kinotickets oder eine kostenlose Massage - wenn genug Interessierte zuschlagen. Groupons Gründer Andrew Mason sahnte ab, als viele Menschen infolge der Finanzkrise sparen mussten - oder wenigstens das Gefühl von Geld-Sparen haben wollten. 

Auf der anderen Seite des Pazifiks zog Groupon die Aufmerksamkeit eines chinesischen Unternehmers auf sich: Wang Xing, ein chinesischer Milliardär. Wang ist der Typ, der Regenschirme an der Straßenecke verkauft, sobald es anfängt zu regnen, sagen Unternehmensberater über ihn. (Öffnet in neuem Fenster) Im Internet zitiert Wang gerne klassische chinesische Literatur und Winston Churchill. Heute ist er Milliardär und hat sein Vermögen auf einem einfachen Prinzip aufgebaut: Schau, welche Start-ups in Amerika durch die Decke gehen, und adaptiere ihr Geschäft für den chinesischen Markt. Also gründete Wang Xing 2010 den Groupon-Klon Meituan. Und stieg damit in die Schlacht der tausend Groupons ein.

Die Schlacht der tausend Groupons war ein Wettlauf in der chinesischen Tech-Branche um das Gruppenrabatte-Geschäft. Denn auch Chinas Bevölkerung liebt Deals und Rabatte. Und so verbrannten Hunderte Kleinunternehmen Cash wie Feuerholz beim Versuch, als der erfolgreichste Groupon-Klon Chinas hervorzugehen. Restaurants oder Spas, die ihre Deals auf einer der Plattformen listeten, mussten nur wenige Prozente Marge an die Groupon-Klons abtreten. Einige Groupon-Fakes bezahlen ihre Kunden sogar dafür, sie auf ihrer Plattform listen zu können. Die einzige Regel der Groupon-Schlacht war: So viel Marktanteil wie möglich, so günstige Deals wie möglich.

Als sich 2013 der Staub im Groupon-Wettkampf legte, blieb Wang Xings Meituan als einer der wenigen Überlebenden übrig. Meituan war immer noch bloß eine App für Schnäppchenjäger. Das ändert sich jetzt: Wang Xing will das Angebot in seiner App auffächern. Ab 2013 kann man auf Meituan Essen bestellen, und jetzt beginnt Chinas Koch-Revolution.

Kapitel 2: Wie Meituan die Lieferdienst-Branche eroberte

Wang Xing weiß schon damals: Chinas Großstädte sind voller junger Büroangestellter, die mittags kaum Zeit für eine vernünftige Mahlzeit haben. Und nach einem langen Arbeitstag wenig Lust, sich noch in die Küche zu stellen. Er hat den richtigen Riecher dafür, wie man aus dieser konsumverwöhnten Mittelschicht das meiste Geld rausschlägt. Nachdem er die Schlacht der tausend Groupons gewonnen hat, will Wang Xing jetzt die Lieferdienst-Branche erobern.

Meituan entwickelt sich in dieser Zeit zur Super-App, quasi ein digitales Schweizer Taschenmesser: Mit Super-Apps wie Meituan kann man Essen bestellen, ein Taxi rufen oder einen Arzttermin buchen. Alles ohne die App zu verlassen. Und was chinesischen Super-Apps den Durchbruch verschafft, ist dieses schwarz-weiße Kästchen hier:

Das ist ein QR-Code, der es ermöglicht, mit dem Smartphone zu bezahlen. Als die Konzerne Alipay und WeChat diese Option 2014 flächendeckend in China einführen, stirbt das Bargeld fast über Nacht aus. Kreditkarten haben sich in China nie richtig durchgesetzt. Aber diese QR-Codes machen Onlinekäufe jetzt schnell und unkompliziert - und es ist der letzte Baustein, der Wang Xing beim Abschaffen der Kochkunst gefehlt hat.

Meituan arbeitet mit derselben Strategie wie zu Zeiten der Groupon-Schlacht: So viele Anbieter auf der Plattform wie möglich, so günstige Angebote wie möglich. Meituans Sales-Angestellte schwärmen aus, um Restaurants und Imbissen ein unschlagbares Angebot zu machen: Ein größerer Kundenstamm, der zuverlässig online bestellt. Die App, mobiles Bezahlen, Himmel, sogar die Lieferant:innen stellen wir! Die Kund:innen an den Endgeräten bezirzt Meituan mit leckerem, günstigen Essen, das sie mit nur wenigen Klicks in der U-Bahn nach Hause bestellen können. Damit schaffen Chinas Lieferdienste einen Service, den kaum jemand ablehnen kann - weder die Restaurants und Imbisse, noch die Büroangestellten, die hungrig von der Arbeit nach Hause kommen.

Und dann geht es ganz schnell. 2015 kauft Meituan seinen Konkurrenten Dianping auf. 2019 schreibt Meituan das erste Mal schwarze Zahlen. Im selben Jahr bestellen fast 460 Millionen Chines:innen (Öffnet in neuem Fenster) regelmäßig Essen. Und Mahlzeiten nicht mehr selber zu kochen, sondern sich ins Büro, nach Hause, in den Park liefern zu lassen, ist das neue Normal geworden.

Kapitel 3: Wer wirklich für das günstige Essen bezahlt

Chinesische Großstädte sind viel dichter bewohnt als europäische Städte. Sie gleichen einem Bienenstock, in dem eine Bevölkerungsgruppe oft unsichtbar bleibt. Und zwar Wanderarbeiter:innen aus den ländlichen Regionen, die auf der Suche nach Arbeit in die Städte strömen. Sie sind es, die auf Motorrädern täglich tausende Bestellungen ausliefern. Pro Bestellung verdienen sie damit rund 50 Cent (Öffnet in neuem Fenster). Manche arbeiten 12-Stunden-Schichten, um über die Runden zu kommen. Selten haben sie eine Krankenversicherung, und gegen Kündigungen oder nicht gezahltes Gehalt können sie sich nicht wehren. Regelmäßig werden sie in Verkehrsunfälle verwickelt, mehrere Lieferant:innen sind bereits vor Erschöpfung bei der Arbeit gestorben. (Öffnet in neuem Fenster) 

Die Löhne der Lieferant:innen sind die größten Kosten für Meituan und Co. Die Lieferdienste drücken die Löhne also, wo es nur geht, um profitabel zu bleiben. Dabei helfen ihnen die riesigen Mengen an Nutzerdaten, die sie über ihre Apps sammeln. Dank dieser Daten schlägt der Meituan-Algorithmus den Lieferant:innen immer effizientere Routen vor und drängt sie, doch noch ein bisschen schneller zu fahren. Das macht die Arbeit besonders brutal (Öffnet in neuem Fenster), denn je mehr Lieferungen je schneller ausgeführt werden, desto besser fürs Geschäft. Die Fahrer:innen werden deshalb oft mit einem gamifizierten Punktesystem oder verschiedenen Rängen belohnt und für Verspätungen bestraft. 

Nach einem Vorstoß der chinesischen Behörden 2021 müssen die Lieferdienste den Fahrer:innen einen Mindestlohn zahlen und auf die Einhaltung von Pausen achten. Und die Meituan-App loggt inzwischen Fahrer:innen automatisch aus, die länger als 12 Stunden online sind. Doch gerade während der Pandemie und der Wirtschaftskrise in China hat sich die Lage der Lieferant:innen wieder verschlechtert. Allein zwischen Januar und März 2020 hat Meituan 450.000 neue Fahrer:innen eingestellt, darunter viele junge, arbeitslose Uni-Absolvent:innen. Bei so viel austauschbarer Arbeitskraft haben Meituan und Co also wenig Anlass, die Löhne zu erhöhen.

Kapitel 4: Heißt das, die chinesische Küche geht den Bach runter???

Und was heißt das nun, wenn ein ganzes Land (oder zumindest die junge Stadtbevölkerung) aufhört zu kochen? Dass in China immer weniger Menschen kochen, liegt nicht daran, dass sie gutes Essen nicht wertschätzen. Chinesische Küche begeistert nach wie vor ein Millionenpublikum. Das zeigen Foodblogger wie Li Ziqi (Öffnet in neuem Fenster) oder der Starkoch Wang Gang (Öffnet in neuem Fenster), die im chinesischen Internet Kochtipps teilen und sich durch die chinesische Restaurantszene testen. Stattdessen verändert sich schlicht das Konsumverhalten - so wie wir in Deutschland nicht mehr zu Mediamarkt gehen, sondern neue Lautsprecher auf Amazon bestellen. Oder kaum noch Karten lesen können, weil Google Maps uns den Weg zeigt. Apps wie Meituan konnten in China so erfolgreich gedeihen, weil Verstädterung, Digitalisierung und eine boomende Tech-Branche genau zur richtigen Zeit zusammenfielen.

Kessys Nachbarn, ein älteres Ehepaar, steht übrigens von morgens bis abends am Herd. So ganz stimmt es also nicht, dass ganz China aufgehört hat zu kochen.

Obwohl Kessy und ich uns nicht sicher waren, ob das ältere Ehepaar nebenan nicht doch einen Meituan-Shop betreibt.

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Kategorie Tech