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I remember you and me used to spend
The whole goddamned day in bed
Losing a whole year
(Third Eye Blind)

Good evening, Europe!

Dieser Newsletter sieht ein bisschen anders aus als die 85 (Öffnet in neuem Fenster) davor. Das liegt daran, dass er umgezogen ist und jetzt nicht mehr über den amerikanischen Anbieter Mailchimp (international bekannt geworden als Sponsor der ersten „Serial“-Staffel (Öffnet in neuem Fenster)) verschickt wird, sondern über das Berliner Unternehmen Steady. Das kann Euch im Wesentlichen so egal sein wie personelle Wechsel bei der nächtlichen Zeitungszustellung, aber erstens sieht's jetzt halt ein bisschen anders aus und zweitens ist mein kleiner Newsletter einer von mehr als drei Dutzend (Öffnet in neuem Fenster), die zum Start der neuen Newsletter-Angebote von Steady mit dabei sind. Schaut doch mal rein, da findet Ihr bestimmt noch andere Newsletter, die Euch interessieren — oder Ihr könnt Euren eigenen Newsletter starten, den ich dann vielleicht abonniere! Crazy, was?!

Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja: Am 13. März 2020. Das war der Tag, an dem innerhalb weniger Stunden die Welt, wie wir sie kannten, zum Stillstand kam — und das Warten begann.

Im „SZ-Magazin“ vom letzten Freitag sind gleich zwei Texte zum Lockdown-Jubiläum drin (beide online nur mit „SZ-Plus“-Abo lesbar): Alena Schröder schreibt (Öffnet in neuem Fenster) darüber, das die meisten Menschen immer noch sagen, es ginge ihnen okay, obwohl sie zunehmend zermürbt sind; Axel Hacke behauptet in seiner Kolumne (Öffnet in neuem Fenster):

Unser Leben ist ein Warten geworden. Warten auf die nächste Welle. Warten auf Impfstoff. Warten aufs Ende der Pandemie. Immer warten, warten, warten.

Wenn Herrn Hackes Leben erst im letzten Jahr so „geworden“ ist, bin ich eigentlich versucht, ihm herzlich zu gratulieren. Mein Leben bestand nämlich immer schon aus Warten.

Nie im Leben vergeht die Zeit so langsam wie wenn man an einem regnerischen Nachmittag darauf wartet, dass das Kind, mit dem man sich in der Schule zum Spielen verabredet hat, endlich von seinen Eltern gebracht wird. Und auch sonst bestand meine Schulzeit im Wesentlichen aus Warten darauf, den nächsten Termin abhaken zu können: „Nach der Mathearbeit, dann ist Freitag, dann sind Sommerferien“ — so hat es Benjamin von Stuckrad-Barre im „Hotel Matze“-Podcast (Öffnet in neuem Fenster) mit Matze Hielscher beschrieben und exakt so habe ich es selbst immer empfunden. (Der Podcast ist übrigens durchaus interessant und berührend, aber er krankt leider wie 95% aller deutschen Podcasts daran, dass die Macher*innen wie Quentin Tarantino nach dem Tod seiner Cutterin Sally Menke (Öffnet in neuem Fenster) glauben, man könne oder müsse dem Publikum einfach alles an Material vorsetzen. 160 Minuten sind einfach keine Größenordnung, in der ich irgendetwas konsumieren möchte — außer vielleicht meinen Mittagsschlaf!)

Jedenfalls ging es mir immer genauso: Freitag, Ferien, Geburtstag, Weihnachten. Dann kam endlich das Abi und die zehn Monate Zivildienst habe ich ernsthaft wochenweise abgehakt, in der absurden Annahme, dass sie so schneller umgingen — und danach wirklich mal etwas begönne. Die neue Zeiteinheit waren Semester und der Zeitraum zwischen zwei Haldern-Pop-Festivals. „Wenn ich die Hausarbeit abgegeben habe, gönne ich mir mal was besonderes!“ — zum Beispiel ein neues Computerspiel oder einen Ausflug ins örtliche Spaßbad, ich Opfer! „Praktikum, Auslandssemester, Bachelor-Abschluss, aber dann!“ Ich war 26, als ich den Schatten mehrerer Generationen preußisch-protestantischer Erziehung („Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“) entkommen und mich einfach hedonistisch in die Gegenwart bzw. das Leben schmeißen konnte. Auch, weil es keine äußeren Termine mehr gab, an denen ich mich hätte orientieren können oder müssen, musste ich mit dem Feiern nicht mehr warten, bis irgendwas vorbei oder geschafft war — als freier Journalist musste ich nicht mal mehr Rücksicht auf Wochentage nehmen! (Dass Ben Gibbard von The Postal Service Recht hat, wenn er singt (Öffnet in neuem Fenster), es sei keine Party, wenn es jeden Abend passiere, ist dann wieder eine andere Geschichte.) Und gleichzeitig bin ich weiter nur in den Urlaub gefahren, wenn Freundinnen mich quasi dazu gedrängt haben, habe von ESC zu ESC gelebt und mir auch sonst nie viel „gegönnt“. Vielleicht fällt mir dieses Warten gerade deswegen so leicht — und weil mir eh nie auffällt (Öffnet in neuem Fenster), dass mir etwas fehlt.

Vielleicht fällt es mir auch gar nicht leicht und ich glaube und erzähle das nur, wie Alena Schröder das in ihrem Text beschreibt. Ich kann ihre Argumente gut verstehen, aber ich denke, es ist wie bei den allgemeinen Corona-Entwicklungen im Moment: Es gibt gute und schlechte Nachrichten, je nachdem, wen man fragt, und was man unter „gut“ und „schlecht“ versteht — und beide Interpretationen können gleichzeitig zutreffend sein. Was wir alle seit einem Jahr erleben - und, das muss man wirklich immer wieder dazu sagen: im Großen und Ganzen erstaunlich gut meistern - ist einigermaßen mit nichts vergleichbar. Und trotzdem denke ich dann an meine mir beinahe (Öffnet in neuem Fenster) unbekannte Urgroßmutter (preußisch-protestantische Erziehung!), die mit ihren Töchtern in irgendwelchen Kellern die Bombardierungen von Berlin mitgemacht hat, und denke: „Na ja, so schlimm isses ja nu wirklich nicht!“ 

Woran ich seltener denke: Von den multiplen Traumata der Kriegszeit hatten sich die deutschen Familien bis 2019 nur bedingt erholt (von der Aufarbeitung der eigenen Verbrechen ganz zu schweigen), sie wurden schweigend von den Eltern an die Kinder weitergegeben; da werden wir jetzt bzw. nach Corona sehr viel Energie und Therapie brauchen, um aus dem kollektiven Burnout nicht die gleichen Langzeitschäden folgen zu lassen.

Die 33-jährige Sarah Everard hatte am Abend des 3. März die Wohnung einer Freundin im Londoner Stadtteil Clapham verlassen und war nie bei sich zu Hause angekommen. Vergangene Woche wurde ihre Leiche in einem Waldstück in der Grafschaft Kent gefunden. Der Fall hat nicht nur in Großbritannien für Trauer und Wut gesorgt, sondern über die sozialen Medien in aller Welt — denn er ist einigermaßen universell (Öffnet in neuem Fenster): Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2018 wurden 36 Prozent der Frauen in Deutschland schon mal draußen verfolgt, jede Zehnte wurde Opfer von sexualisierter Gewalt auf der Straße.

Man kann das, was jetzt auf Social Media passiert, ein Stück weit mit den Reaktionen auf den Mord an George Floyd im vergangenen Jahr vergleichen: Es ist schon wieder etwas passiert, was zuvor schon viel zu oft passiert war; die Menschen verbringen nach wie vor viel Zeit im Internet, verleihen dort ihrer Empörung Ausdruck und verlangen Konsequenzen. Und es führt dazu, dass man sich mal mit den eigenen Privilegien auseinandersetzen muss: Wenn die eine Hälfte der Bevölkerung sich jedes Mal Gedanken und Sorgen um ihre Sicherheit machen muss, wenn sie das Haus verlässt, und die andere quasi nie, läuft da etwas gewaltig falsch.

Und auch hier reicht es nicht, sich mit einem „Ich bin aber doch gar nicht so!“ aus der Verantwortung stehlen zu wollen. Statistisch gesehen müsste jeder Mann mindestens einen anderen kennen, der schon mal Frauen belästigt hat — die Chancen stehen sogar gut (bzw. schlecht), dass man selbst schon mal ein Verhalten an den Tag gelegt hat, das eine Frau als mindestens unerwünscht empfunden hat. Da heißt es, sensibler zu werden: für die eigenen Aktionen und für die im Freundes- und Kollegenkreis. Sexistische Kommentare zu benennen und zu kritisieren (ja, zusätzlich zu den rassistischen Kommentaren, Klaus-Jürgen — so schnell kommen wir da nicht mehr raus!) und den eigenen Söhnen beizubringen, dass „Nein“ nein bedeutet. Wenn Ihr dazu nur einen einzigen Social-Media-Post lesen wollt (und ich würde anderen Männern wirklich empfehlen, da ein bisschen mehr in die Tiefe zu gehen — z.B. mit JJ Bolas „Mask Off“, das ich im Januar vorgestellt (Öffnet in neuem Fenster) hatte), dann schaut Euch diesen Post (Öffnet in neuem Fenster) auf dem Instagram-Account „Der Hase im Pfeffer“ an!

Was macht der Garten? Das Wetter folgt offenbar den aktuellen Trends und findet jetzt in sogenannten „Wellen“ statt: Nach Schnee und Frühling sind wir gerade wieder in einer Phase, wo es arschkalt ist und sich Regen und Sonnenschein in Fünf-Minuten-Intervallen abwechseln. Irgendetwas draußen auszusäen macht da nicht so viel Sinn — aber die Bäume und Sträucher knospen nun und schon bald werden die Fliederbüsche wieder in voller Blüte stehen.

Was hast Du gehört? „A Billion Little Lights“, das dritte Album der New Yorker Band Wild Pink (Royal Mountain Records; Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Apple Music (Öffnet in neuem Fenster)). Ich kenne die ersten beiden Alben nicht, aber das hier ist perfekte Frühlingsmusik: ein bisschen pastellig-optimistisch, ein bisschen schläfrig-melancholisch; zwischen Joshua Radin, Rogue Wave und Stars; organisch, mit gelegentlichen Country-Gitarren und cleveren Texten, die unser Leben im Jahr 2021 kommentieren („You're a fucking baby but your pain is valid, too“ aus „Oversharers Anonymous“ (Öffnet in neuem Fenster)!). Vor zwölf, dreizehn Jahren wäre solche Musik bei „Scrubs“ oder in iPod-Werbespots gelaufen, heute hört man sie allenfalls noch auf dem Haldern-Pop-Festival — wenn …, aber wir drehen uns im Kreis.

Tatsächlich schon auf dem Haldern Pop gespielt haben Balthazar aus Belgien, von denen ich aber auch noch nie gehört hatte. Ihr fünftes Album „Sand“ (PIAS; Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Apple Music (Öffnet in neuem Fenster)) habe ich mir ehrlich gesagt vor allem wegen des Covers (Öffnet in neuem Fenster) mit dem sympathischen See-Elefanten angehört — es hat mir dann aber auch gut gefallen. Irgendwo zwischen Air, Broken Bells und Zoot Woman entstand vor meinem geistigen Auge 70er-Jahre-Lounge-Party in Orange und Ocker, bei der der See-Elefant entspannt an einem Algen-Cocktail nippte und mit dem Kopf wippte.

VanJess ist ein kalifornisches R&B-Duo, das aus den nigerianisch-stämmigen Schwestern Ivana und Jessica Nwokike besteht. Zweieinhalb Jahre nach ihrem Debütalbum, das ich auch nicht kenne, ist jetzt ihre EP „Homegrown“ (Keep Cool; Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Apple Music (Öffnet in neuem Fenster)) erschienen und ich sage mal so: Wenn Ihr 90er-R&B liebt (und wer tut das nicht?!), wird Euch diese Musik bestimmt gefallen!

Was hast Du gesehen? Seit mehr als 20 Jahren wollte ich „Grosse Pointe Blank“ (klassische 90er-Jahre-„Übersetzung“: „Ein Mann — ein Mord“) mit John Cusack, Minnie Driver und Dan Aykroyd gucken. Ich hatte den Film sogar schon mal auf VHS aufgenommen! Jetzt habe ich es dank Disney+ (Öffnet in neuem Fenster) endlich geschafft: John Cusack spielt einen Auftragskiller, der zu seinem 10-jährigen Abi-Treffen in die alte Heimat fährt und gleichzeitig versucht, mit seiner Ex-Freundin anzubandeln, einen Auftrag auszuführen und Kollegen loszuwerden, die es auf ihn abgesehen haben. Wenn Ihr sagt: Das klingt aber ganz schön nach einem 1990er-Jahre-Film im Windschatten von Tarantino und Coen Brothers, dann muss ich sagen: Ihr habt Recht. Wenn ich den Film damals auf Video geschaut hätte, hätte ich ihn vermutlich sensationell gefunden und würde ihn heute mit warmen Erinnerungen gucken. So, trotz Filmmusik von Joe Strummer: Hmmmm.

Dann lieber Filme mit warmen Erinnerungen: „Wo die wilden Kerle wohnen“, die Spike-Jonze-Verfilmung von Maurice Sendaks legendärem Kinderbuch, hatte ich 2009 im Kino gesehen und geliebt. Jetzt war es acht Jahre her, dass ich den Film zuletzt gesehen habe, und weil er trotz FSK-6-Freigabe nichts ist, was ich dem Kind vor seinem zehnten Geburtstag vorsetzen würde, habe ich ihn jetzt eben alleine geguckt. Immer noch toll! Das Drehbuch hatte Jonze mit meinem großen Helden Dave Eggers geschrieben, der wiederum mit seiner Frau Vendela Vida das Drehbuch zum wunderbaren Indie-Film „Away We Go“ (Regie: Sam Mendes mit dem Un-Sam-Mendes-haftesten Film seiner Laufbahn) geschrieben hatte. John Krasinski und Maya Rudolph spielen darin ein junges Paar, das sein erstes Kind erwartet und sich auf einen Roadtrip macht, um Verwandte und Bekannte zu besuchen und dabei unerwartet viel über Familien lernt. Es ist erstaunlich, wie Eggers und Vida es geschafft haben, Figuren zu schreiben, die eigentlich als Karikaturen reine cringe comedy erzeugen müssten, dann aber von Großschauspieler*innen wie Catherine O’Hara, Allison Janney, Maggie Gyllenhaal und Jeff Daniels derart mit Leben gefüllt werden, dass man sie trotz aller Furchtbarhaftigkeit beinahe noch mag. Ich hatte den Film ebenfalls 2009 im Kino und zuletzt vor acht Jahren auf DVD gesehen, hab ihn dann aber gestern gleich zwei Mal geschaut: Einmal „normal“, einmal mit Audiokommentar von Sam Mendes, Dave Eggers und Vendela Vida.

Außerdem hab ich zwecks Inspiration wieder ein paar Dokumentationen über Künstler*innen geguckt: „Howard“ (Öffnet in neuem Fenster) über den Komponisten und Texter Howard Ashman („Der kleine Horror-Laden“, „Arielle“, „Die Schöne und das Biest“) auf Disney+, „What happened, Miss Simone?“ (Öffnet in neuem Fenster) über Nina Simone auf Netflix, sowie in der arte-Mediathek Filme über Karl Lagerfeld (Öffnet in neuem Fenster) und Alvar Aalto (Öffnet in neuem Fenster) (aktuell nicht verfügbar).

Was hast Du gelesen? Bisher hätte ich ja behauptet, dass wir in Deutschland alles in allem doch recht gut durch die Pandemie gekommen sind. Dann habe ich bei „Spiegel Online“ den Text (Öffnet in neuem Fenster) von Sascha Lobo über die ganzen großen und kleinen Versäumnisse der Bundesregierung gelesen und seitdem sehe ich das auch ein bisschen anders. Andererseits fand ich die eher relativierende Kolumne (Öffnet in neuem Fenster) von Thomas Fricke an gleicher Stelle auch gut nachvollziehbar. Womöglich gilt da wieder das große Paradoxon der Corona-Zeit: Beide Interpretationen können gleichzeitig zutreffend sein.

Ebenfalls bei „Spiegel Online“ erschien ein sehr lesenswerter Gastbeitrag (Öffnet in neuem Fenster) von Mohamed Amjahid über die Art, wie die Deutschen mit der Erinnerung an den Holocaust umgehen. Und Willi Winkler hat in der „Süddeutschen Zeitung“ einen Nachruf (Öffnet in neuem Fenster) auf Lou Ottens geschrieben, den Erfinder der Musikkassette, dem ich hunderte Stunden auf dem Teppich vor der elterlichen Stereoanlage verdanke und der vorletzte Woche im Alter von 94 Jahren verstorben ist.

Außerdem hat Sue Reindke, die ja quasi dafür verantwortlich (Öffnet in neuem Fenster) ist, dass ich überhaupt mit diesem Newsletter angefangen habe, einen neuen Newsletter gestartet, der sich im weitesten Sinne dem Thema Arbeit und Weiterentwicklung widmet (so ganz genau habe ich das den bisherigen Ausgaben noch nicht entnehmen können). Die letzte Ausgabe (Öffnet in neuem Fenster) über Professionalität und die Wertschätzung für optimierte Prozesse fand ich jedenfalls sehr gut!

Was hast Du gelernt? Es gibt eine Website (Öffnet in neuem Fenster), auf der man sich Videos aus belebten Innenstädten (pre-Corona, natürlich) anschauen und raten kann, wo sie aufgenommen wurden. Ein großer Spaß für Erdkunde-Nerds wie mich — und ein ganz kleines bisschen wie Urlaub.

https://www.youtube.com/watch?v=UJIVuy0klBo (Öffnet in neuem Fenster)

Habt eine schöne Woche!

Herzliche Grüße,
Euer Lukas
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