Wo beginnt die Gegenwart?
This used to be the future
Where it was at back then
Let's turn the whole bloody lot down
And start all over again
(Pet Shop Boys)
135/∞
Good evening, Europe!
Früher haben die Magnolien erst Ende April geblüht. Das sagt meine Mutter immer, weil meine Schwester Ende April geboren wurde und man sich dann natürlich sehr gut an solche Sachen erinnernt. 38 Jahre später blühen die Magnolien im Ruhrgebiet Mitte März, aber ich bin mir sicher, dass mein Sohn in 38 Jahren immer noch sagen wird: „Früher haben die Magnolien erst Ende April geblüht, hat meine Oma immer gesagt.“ Im Januar, wenn dann die Magnolien blühen.
Der Frühling ist also da und ich hatte wie immer (vgl. Newsletter #67 (Öffnet in neuem Fenster)) vergessen, wie gut mir Tageslicht, Sonnenschein und Wärme tun. Mein Kreativdampfkochtopf (s.a. Newsletter #85 (Öffnet in neuem Fenster)) hat also wieder ordentlich Druck drauf und ich habe ungefähr jeden zweiten Tag eine neue Idee für ein Drehbuch, eine Fernsehshow oder irgendein anderes Projekt — was theoretisch natürlich toll ist, praktisch aber etwas hinderlich, wenn man eigentlich genug anderen Kram zu erledigen hat, ein Buch schreiben, ein Album fertigstellen und einen ESC vorbereiten will.
Weil meine Eltern früher nur einen vergleichsweise kleinen Röhrenfernseher hatten, der in das brutto 60 Zentimeter breite Regal aus dem Flötotto-Profilsystem passen musste, war er von den mehr als fünf Meter entfernt stehenden Sofas aus quasi nicht mehr zu erkennen und wir haben die „Sendung mit der Maus“ und später die „Harald-Schmidt-Show“ und „Terminator 2“ lieber vom näher gelegenen Teppich aus verfolgt — sitzend, kniend, liegend. Auch die paar hundert Mixtapes, die ich für mich selbst oder für von mir verehrte Mitschülerinnen aufgenommen habe, entstanden alle auf diesem Teppich, vor der Braun-Stereoanlage kniend.
Die einzigen Möbelstücke in meinem Elternhaus, auf denen ich mehr Zeit verbracht habe als auf diesem Teppich, waren wahrscheinlich mein Schreibtischstuhl und mein Hochbett. Noch heute ist für mich erst Weihnachten, wenn ich am 1. Feiertag bei meinen Eltern in Dinslaken auf dem Teppich und halb unter dem Tannenbaum liege.
Bei der Keller-Aufräumaktion in unserem Elternhaus (vgl. letzter Newsletter (Öffnet in neuem Fenster)) - aus der man, wie mir erst jetzt auffällt, natürlich auch schön ein Fernseh- oder wenigstens YouTube-Format hätte zaubern können - habe ich einen anderen, deutlich älteren, fadenscheinigen Teppich mitgenommen, der seitdem in unserem Wohnzimmer liegt. Wir wohnen jetzt seit acht Jahren hier, aber - ich hasse mich selbst ein bisschen für die nun folgende Popkultur-Referenz - der Teppich hat die Wohnung erst richtig gemütlich gemacht. Er sieht aus, als hätte er immer schon in unser Wohnzimmer gehört.
Jetzt kann ich endlich auf meinem eigenen Teppich liegen (das ist unabdingbar: auf Teppichen liegt man, selbst wenn eine Couch in der Nähe ist) und hören, wie mein Bewegungsapparat komische Geräusche macht. Und ich kann mich fragen: Wenn diese Wohnung erst jetzt, nach acht Jahren, einen Liege-Teppich hat, war sie dann vorher auch schon meine Wohnung? Und wo beginnt eigentlich die Gegenwart?
In einer Welt voll Abrechnungszeiträumen, Jahresbestenlisten und Serien-Staffeln sind wir versucht, alles in Stichtage, Zeiträume und andere praktische Portionsgrößen umzurechnen (vgl. Newsletter #83 (Öffnet in neuem Fenster)). Der amtierende deutsche Bundeskanzler hatte vor zwei Jahren eine überraschende internationale Hitsingle mit seinem Begriff der „Zeitenwende“ (vgl. Newsletter #100 (Öffnet in neuem Fenster)), den er zwar nicht erfunden, aber immerhin einigermaßen fehlerfrei angewandt hatte. Wobei: War die versuchte Invasion der gesamten Ukraine durch Wladimir Putins Truppen nicht eigentlich nur die letzte, jetzt wirklich für alle (außer Sarah Wagenknecht, die AfD und die MAGA-Republikaner) sichtbare Konsequenz der Allmachtsphantasien des kleinwüchsigen Despoten gewesen?
Der sehr kluge Freund und Kollege Nils Minkmar hat vor ein paar Wochen in seinem (immer sehr empfehlenswerten) Newsletter „Der siebte Tag“ geschrieben (Öffnet in neuem Fenster), mit dem Attentat auf die Redaktion des französischen Satiremagazins „Charlie Hebdo“ am 7. Januar 2015 habe „der umfassende Angriff auf die offene Gesellschaft“ begonnen. Nils kennt sich - anders als ich - in Frankreich bestens aus, deswegen würde ich ihm nicht widersprechen. Aber ich erinnere mich - deutlich stärker von amerikanischer Populärkultur geprägt - an 9/11, an die Islamophobie und Paranoia, an die Reaktionen (Öffnet in neuem Fenster) (heute würde man sagen: den shitstorm und die cancel culture) auf die Kritik, die die Countryband The Dixie Chicks an George W. Bush und seinen Kriegsplänen im Irak geäußert hatten, und an freedom fries (Öffnet in neuem Fenster). War da die offene Gesellschaft nicht auch schon reichlich angegriffen worden? Und wann (oder: für wen) war die überhaupt je richtig offen gewesen?
Jeder Kipppunkt ist auch die Folge eines vorherigen Kipppunkts: Als die Flugzeuge am 11. September 2001 einschlugen, hatte Al Qaida zuvor schon die US-Botschaften in Daressalam und Nairobi (Öffnet in neuem Fenster) und die USS Cole (Öffnet in neuem Fenster) angegriffen. Vor dem 24. Februar 2022 hatte Wladimir Putin schon die Krim und Teile der Ost-Ukraine annektiert, rechte Parteien in ganz Europa unterstützt (Öffnet in neuem Fenster) und - Jahre, bevor er überhaupt Präsident wurde - die Neonazi-Szene in Dresden bei ihrem Aufbau unterstützt (Öffnet in neuem Fenster).
Wenn man weit genug rauszoomt, sind das wahrscheinlich alles Variationen auf der Klaviatur der Weltgeschichte. Alles hängt mit allem zusammen und - um mal Douglas Adams zu zitieren - schon die Bäume waren ein Holzweg gewesen und man hätte die Ozeane niemals verlassen dürfen. Es ist eine immerwährende Gleichzeitigkeit von großen und kleinen, guten und schlechten Ereignissen — oder wie Max Goldt es einmal formuliert hat: „Auch in der Nazizeit war zwölfmal Spargelzeit.“
Wiewohl tendieren wir als Menschen natürlich dazu, alles in ein „Davor“ und ein „Danach“ aufzuteilen, auch und gerade im Privaten. Etwas Neues hatte begonnen, als ich am 2. Juni 1999 im Zug nach Berlin (Öffnet in neuem Fenster) zum ersten Mal „You Get What You Give“ von den New Radicals hörte; als mich Stefan Niggemeier am 5. Mai 2007 fragte, wie denn mein „Verhältnis zum Grand Prix“ sei, woraufhin wir offenbar vier Tage später einen ESC-Führer (Öffnet in neuem Fenster) veröffentlichten, der hernach zum Oslog (Öffnet in neuem Fenster) und zu meinem Job als assistant commentator führte; am 23. Januar 2010, als ich in meine erste eigene Wohnung zog, die praktischer- oder unpraktischerweise direkt neben dem Bochumer Bermuda3eck lag.
Ich könnte jede Menge Daten benennen, ab denen alles anders war: Die Geburt meines Sohnes; Tage, an denen ich besondere Menschen kennengelernt hatte, die mich - mal mehr, mal weniger lange - sehr geprägt haben; der Tag, an dem das Telefon klingelte und meine Omi (Öffnet in neuem Fenster) gestorben war. Aber wenn danach wirklich „alles anders“ gewesen wäre, wer war ich denn dann davor gewesen — und wer jetzt?
Vergangene Woche Dienstag war ich in Köln, wo Craig Finn von The Hold Steady und Marcus Wiebusch von kettcar auf der Bühne im WDR-Funkhaus über ihre Vorbilder, ihre Songwriting-Prozesse und Texte sprachen und - natürlich - auch Songs vortrugen.
Es war ein sehr schöner Abend (ich hatte natürlich vergessen, wie schön es ist, Menschen beim Musizieren zuzuschauen und -zuhören) und ich dachte - immer auf der Suche nach Stichtagen, Zeiträumen und anderen praktischen Portionsgrößen - darüber nach, wie kettcar die Zeit vom Abi bis in die ersten Semester untermalt hatten, The Hold Steady den Sommer 2009, der den Übergang vom schüchternen Nerd im Studentenwohnheim zum immerhin halbwegs erwachsenen Popkulturjournalisten markiert hatte, und kettcar dann 2017 wieder übernommen hatten, mit ihrem phantastischen Album „Ich vs. Wir“ (Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Amazon Music (Öffnet in neuem Fenster)).
Im Zug zurück nach Bochum hörte ich „Heaven Is Whenever“ (Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Amazon Music (Öffnet in neuem Fenster)), das Hold-Steady-Album aus dem Jahr 2010, das ich damals sehr intensiv gehört hatte und dann in den letzten zehn Jahren vermutlich gar nicht mehr. Und ich war wirklich überrascht, wie gut das war und wie viele Erinnerungen an Menschen und Orte die ganzen Songs auslösten, die ich offenbar alle in der Zwischenzeit vergessen hatte: I don't want this to stop / I want you to know / I don't want you to settle / I want you to grow.
Was macht der Garten?
Plötzlich waren die ersten Frühlingstage da und ich hatte das dringende Bedürfnis, die Pflanzkübel von den Resten der Vorsaison zu befreien und mit der Anzucht der neuen Pflanzen zu beginnen. Ich glaube, so viele verschiedene Gemüsesorten und Kräuter haben wir noch nie eingesät, jetzt schauen wir mal, was daraus wird. (An den ersten paar Tagen wird daraus erstaunlich wenig, wie mir dann immer wieder einfällt, aber Brokkoli und Radieschen geben definitiv schon mal Vollgas.)
Was hast Du veröffentlicht?
In der neuesten Ausgabe unserer kleinen Musiksendung „Coffee And TV“ (Öffnet in neuem Fenster) erzähle ich noch ein bisschen mehr über den Abend mit Craig Finn und Marcus Wiebusch und spiele neue Songs von kettcar, Sevdaliza, Dan Bern und anderen.
Für Übermedien (Öffnet in neuem Fenster) (aktuell noch hinter der Bezahlschranke) habe ich mir „Polaks Schlagertalk“ angehört, eine sehr kurzweilige neue Podcast-Reihe (Öffnet in neuem Fenster), in der der Comedian und Autor Oliver Polak deutsche Schlagergrößen interviewt.
Und im Blog habe ich in unserer 25-Jahre-1999-Serie über „Performance And Cocktails“ (Öffnet in neuem Fenster) von den Stereophonics geschrieben und über meinen ersten Hamburg-Besuch (Öffnet in neuem Fenster) im März 2004.
Was hast Du gehört?
In der aktuellen, dritten Staffel des WNYC-Podcasts „Blindspot“ (Öffnet in neuem Fenster) (Apple Podcasts (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Amazon Music (Öffnet in neuem Fenster)) geht es um den Beginn der AIDS-Epidemie in den USA. Es ist wieder einer dieser völlig professionellen NPR-Podcasts, nach dem man erstmal drei Monate kein deutsches Radio mehr hören will; ich interessiere mich sehr für das Thema und habe das Gefühl, dass es schon in meiner Generation fast völlig vergessen ist. Es geht um Schwule, people of color und andere marginalisierte Gruppen, um Kinderhospizstationen, Stigmata und Lady Di, um den furchtbaren „War on Drugs“ der Republikaner, der alles noch schlimmer gemacht hat, und obwohl das alles so deprimierende, düstere Themen sind, schaffen es Kai Wright, Lizzy Ratner und ihr Team, das ganze mit einer fast verwirrenden Leichtigkeit zu erzählen, den stillen Held*innen von damals kleine Denkmäler zu errichten und der Hoffnung Raum zu geben.
Winona Fighter sind eine Punkrockband aus Nashville, die ich gerade für mich entdeckt habe. Sängerin Coco schreibt Texte, die man als feministische Manifeste bezeichnen könnte — oder einfach als sehr clever, sehr lustig und handwerklich sehr gut (wenn man elaboriertes Fluchen und Beleidigen als Handwerk betrachtet, was man in diesem Fall natürlich unbedingt tun sollte). Bisher gibt es von der Band einige Singles und die EP „Father Figure“ (Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Amazon Music (Öffnet in neuem Fenster)) aus dem Jahr 2022, die auf alle Fälle Bock auf mehr machen.
Was hast Du gesehen?
Die diesjährige Oscar-Verleihung war die beste ihrer Art, die ich bisher gesehen habe. Und falls Ihr die letzten zwei Wochen unter einem Stein verbracht habt (was angesichts der Weltlage keine grundsätzlich schlechte Idee ist), solltet Ihr Euch unbedingt noch Ryan Goslings Auftritt mit dem Oscar-nominierten Song „I’m Just Ken“ ansehen:
https://www.youtube.com/watch?v=fo6T5BwxFh0 (Öffnet in neuem Fenster)Derart in Film-Euphorie, habe ich erstmal den großen Abräumer der letztjährigen Oscars geguckt: „Everything Everywhere All At Once“ (aktuell in Prime Video (Öffnet in neuem Fenster) enthalten), den Film über eine Waschsalon-Besitzerin, die sich auf dem Weg zur Steuerprüfung plötzlich in einem Multiversum wiederfindet und die Welt retten muss. Ich fand den Film wahnsinnig originell, aber auch ein bisschen anstrengend. Aber es ist ja auch mal schön, wenn ich nicht wie sonst direkt bei Beginn des Abspanns bei Letterboxd und IMDb meine Bewertung abgeben kann, weil ich mir für ein paar Tage nicht sicher bin, wie ich den Film finden soll (am Ende waren es dann 4 von 5 Sternen).
Für mehr Ryan Gosling habe ich endlich mal „Drive“ (aktuell bei Magenta TV (Öffnet in neuem Fenster) enthalten) geschaut, diesen wahnsinnig stylishen Film von 2011, in dem er einen Stunt-Fahrer spielt, der nachts als Fluchtwagen-Fahrer arbeitet und in eine üble Gangster-Geschichte hineingezogen wird. Es ist ein L.A.-Film wie „Pulp Fiction“ oder „The Big Lebowski“, derart überästhetisiert, dass auch die - für mich sehr überraschenden - Gewaltexzesse weniger ernst zu nehmen sind. Dafür, dass der Film dreizehn Jahre alt ist, eigentlich erstaunliches 90er-Jahre-Retro-Kino, das nach 80er Jahren aussehen und klingen soll — und entsprechend erfrischende 97 Minuten lang.
Was hast Du gelesen?
Tanya Gold hat für das „New York“-Magazin (Öffnet in neuem Fenster) über die öffentliche Abwesenheit von König Charles III und Catherine, der Prinzessin von Wales, geschrieben. Es ist eine gar nicht mal so lange, aber sehr erhellende Meditation über die Aufgabe der britischen Monarchie, die Bedeutung von Elizabeth II und Zauberei.
Rachel Handler hat sich für „Vulture“ (Öffnet in neuem Fenster) die neue romantische Netflix-Komödie „Irish Wish“ mit Lindsay Lohan angeschaut und ihre Rezension sollte an Journalismus-Schulen gelehrt werden, wenn es um das Thema „nukleare Option des Verrisses“ geht.
Mark Lasswell hat für die „Washington Post“ (Öffnet in neuem Fenster)eine Dokumentation über den Angriff der Hamas auf das Nova Festival in Israel am 7. Oktober 2023 gesehen. „#NOVA“ ist fast komplett aus Handyvideos der Opfer und Täter kompiliert und funktioniert offenbar wie ein Horrorfilm, der tatsächlich stattgefunden hat. Lasswell war später selbst am Tatort und erinnert eindrucksvoll daran, was da nochmal passiert ist und gegen wen die israelische Armee jetzt kämpft.
Was hast Du zum ersten Mal gemacht?
Nach Jahrzehnten, in denen irgendwelche Menschen immer vom Album „Rumours“ von Fleetwood Mac geschwärmt hatten, habe ich es endlich mal gehört. Ich hatte immer ein bisschen Angst vor dieser Band, weil ich sie irgendwie immer bei so Mucker-Truppen wie Chicago und Supertramp verortet hatte, deren Musik zu mögen mir immer unangenehm gewesen war. Es hat jetzt nicht meine Weltordnung, die besten Alben aller Zeiten betreffend, umgeworfen, aber es war besser als befürchtet.
Was hast Du gelernt?
Der deutsche Titel von Kazuo Ishiguros Roman „The Remains of the Day“ lautete ursprünglich „Was vom Tage übrigblieb“, der der gleichnamigen Verfilmung „Was vom Tage übrig blieb“.
https://www.youtube.com/watch?v=fCb7NJ4OeI8 (Öffnet in neuem Fenster)kettcar haben das Feuer nicht gestartet, aber sie sind ein Bengalo in der Nacht.
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Habt ein schönes Wochenende und eine schöne Osterzeit!
Always love, Lukas