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Alles muss raus!

And I just hope that you can forgive us
But everything must go
And if you need an explanation
Then everything must go
(Manic Street Preachers)

134/∞

Good evening, Europe!

Am Samstag stand ich mit meinen Geschwistern in einem Raum unseres Elternhauses, der immer als „Spielkeller“ bezeichnet wird, obwohl wir auch zu Zeiten, als wir alle noch in dem Haus lebten, ungefähr nie dort gespielt haben. Schon damals war der Raum eher Lager gewesen für all die Spielsachen, technischen Geräte, Bücher und Schulunterlagen, die wir in unseren eigenen Zimmern (erst „Kinder-“, dann „Jugendzimmer“ genannt) nicht mehr gebraucht hatten. Dominierendes Möbel war eigentlich immer mein Schlagzeug und dieser Raum war auch Proberaum und Heimstudio für meine verschiedenen Bands gewesen, aber der Begriff „Bandkeller“ hatte sich beim Rest meiner Familie nie durchsetzen können.

Wir standen jedenfalls dort, weil unser Vater sich zu Weihnachten gewünscht hatte, dass wir dort einmal „ausmisten“: Zu Vieles lagerte dort seit zu langer Zeit unangetastet, zu viel Neues (im Sinne von „noch Älteres“) war durch die Auflösung der Haushalte unserer verstorbenen Großeltern hinzugekommen — kurzum: Es sah aus wie die Schlussszene von „Jäger des verlorenen Schatzes“ (Öffnet in neuem Fenster), nur nicht ganz so ordentlich.

Mein Bruder hatte die Losung ausgegeben, dass wir alle nur so viel mitnehmen dürften, wie wir an diesem Tag mit dem eigenen Auto abtransportieren könnten. Ich hatte zuvor erst einmal meinen eigenen Keller entrümpeln müssen (Umverpackung meiner elektrischen Kaffeemaschine von 2008, Umverpackungen meiner Stereoanlage und meiner Boxen von 2013, you get the idea), um Platz zu schaffen für die Dinge, die ich definitiv aus Dinslaken mitnehmen wollte (ein C64 (Öffnet in neuem Fenster) inkl. Floppy-Laufwerk, eine Bontempi Hit Organ (Öffnet in neuem Fenster)).

Es ist ethisch, ökologisch und emotional ein bisschen schwierig, große Mengen Playmobil zu entsorgen, aber: der Mast vom Piratenschiff, das wir vor über 30 Jahren schon gebraucht erstanden hatten, brach ab, als wir es nur vom Regal nahmen (außerdem waren die Segel stockfleckig); ein Circus mit Tieren, Artisten und Band reicht völlig, zwei Circi, von denen der eine seit 1991 „der Alte“ ist und seitdem auseinanderbröselt, ergeben keinen Sinn; so gut wie kein Set war mehr vollständig zusammenzustellen — und Playmobil eignet sich, anders als Lego, nicht dazu, in wüsten Sammlungen voller Einzelteile die Kreativität von Kindern zu entfachen. Es war genau jene Sorte von die Phantasie untergrabendem, nach ständigen Erweiterungen schreienden Wegwerf-Spielzeug, vor der Michael Ende in „Momo“ schon weit vor meiner Geburt gewarnt hatte. (Dass die Drehorgel (Öffnet in neuem Fenster) auch nach über 30 Jahren - zwar etwas quäkend, aber doch deutlich vernehmbar - noch ihre Melodie abnudelte, hat uns allerdings schon beeindruckt.)

Ebenfalls recht rigoros waren wir mit unseren jeweiligen Frühwerken: ganze Stapel von Zeichnungen, Gemälden und Bastelarbeiten landeten im Altpapier. Ich wohne seit 20 Jahren nicht mehr in meinem Elternhaus und habe die Sachen in all der Zeit nicht vermisst. Wenn ich jetzt ein Wasserfarbenbild von 1998 mitnähme, wüsste ich erstens nicht, wohin damit (DIN A3), und würde das Bild damit ungerechtfertigt in den Zustand eines erhaltenswerten Objekts erheben, was spätestens dann zum Problem würde, wenn ich (oder mein Sohn) hier mal ausmiste: Jetzt war es ein 25 Jahre altes, fast ebenso lange vergessenes Bild, beim nächsten Mal würde es bedeutend älter sein und nur durch den Umstand, dass ich es irgendwann einmal von Dinslaken nach Bochum mitgenommen hätte, mit Bedeutung aufgeladen. Dann lieber einen lebensgroßen Eichhörnchen-Nussknacker aus Aluminium im Wohnzimmer stehen haben!

In etwas melancholischerer Stimmung hätte ich den Keller auch als Lager - womöglich gar: Friedhof - aus den Augen verlorener Träume betrachten können: hier das Schlagzeug, an dem ich für einen kurzen Moment tatsächlich kurz gedacht hatte, eine Rock’n’Roll-Karriere beginnen zu können; dort die Klappe, die ich gebaut hatte, um sie bei Dreharbeiten einzusetzen, weil ich ja eines Tages Filmregisseur werden wollte:

https://www.instagram.com/p/C4DQ6EbMSxs/ (Öffnet in neuem Fenster)

Aber die Sonne schien (draußen, nicht im Keller), über die im ganzen Haus installierten Lautsprecher ballerten Hits aus unserer Jugend, die eben nicht unsere Blütezeit war, und ich war und bin weiterhin zuversichtlich, dass da noch viel kommen kann: Ich arbeite seit drei Jahren an neuer Musik, die ich hoffentlich dieses Jahr mal veröffentlichen werde, ich habe jede Menge Ideen für Drehbücher. 

Das einzige, was wirklich besser war mit 16 oder 18: Ich hatte mehr Zeit, weil ich nicht die ganze Zeit von Social Media abgelenkt wurde, nicht selber kochen musste und mit sechs Stunden Schlaf ausgekommen bin.

Was hast Du veröffentlicht?

Die neueste Ausgabe unserer kleinen Musiksendung Coffee And TV (Öffnet in neuem Fenster) ist letzten Freitag bei Spotify online gegangen. Wir freuen uns, wenn Ihr sie alle hört und vor allem teilt, damit unsere Aufrufzahlen explodieren und wir im Sommer, wenn uns das bösartige Spotify vor die Tür setzt, zu einem großen, namhaften Anbieter wechseln und Geld verdienen können!

Im Blog (Öffnet in neuem Fenster) wollen wir dieses Jahr über die ganzen wichtigen Alben schreiben, die 1999 erschienen sind. Angefangen habe ich mit „Clarity“ von Jimmy Eat World.

Sicherlich habt Ihr auch die aktuelle Diskussion über die Neuausgabe von Michael Endes „Jim Knopf“-Büchern mitbekommen. Diskussionen sind ja erstmal etwas Interessantes (auch wenn sie in Deutschland meist nicht über eine Kakophonie von Monologen hinausgehen), aber es würde ja helfen, sie auf der Grundlage von Fakten zu führen. Und da setzt mein Text an, den ich für Übermedien (Öffnet in neuem Fenster) (aktuell noch hinter der Paywall) über „Jim Knopf“ und Michael Ende geschrieben habe. (Ihr wusstet natürlich schon, dass Michael Ende in den 1980er Jahren aus China, wohin Jim Knopf und Lukas reisen, das Phantasieland „Mandala“ gemacht hat, aber für alle anderen, die gerade erregt diskutieren, hab ich diesen editionsphilologischen Fakt noch mal mit etwas Hintergrund gefüttert.)

Was hast Du gehört?

Bei meiner Lieblingsradiosendung „Fresh Air“ (Öffnet in neuem Fenster) (oder direkt bei Apple Podcasts (Öffnet in neuem Fenster)) war Charan Ranganath zu Gast, ein Professor für Psychologie und Neurowissenschaften und Autor zahlreicher Bücher zum Thema Gedächtnis, um über den Akt des Vergessens zu sprechen. Für jemanden, der ein etwas ungewöhnliches Gedächtnis hat, sich für Neurowissenschaften interessiert und längere, tiefgründige Interviews mag, ist es ein Fest — aber vielleicht ist es ja für Euch auch so schön wie für mich.

Die Bochumer Musikerin Philine Sonny hat ihre zweite EP „Invader“ (Nettwerk; Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Amazon Music (Öffnet in neuem Fenster)) veröffentlicht, die richtig gut geworden ist — und damit meine ich nicht „ziemlich gut für einen lokalen Nachwuchs-Act“, sondern „Ich fänd’s auch geil, wenn es aus den USA käme und bei ‚All Songs Considered‘ und Pitchfork vorgestellt würde“-Gut. Wenn Ihr die Musik von The War On Drugs, Bully, Sharon Van Etten, Courtney Barnett oder Soccer Mommy mögt, solltet Ihr hier unbedingt reinhören — und sonst auch.

Was hast Du gesehen?

Zum ersten Mal seit vielen Jahren habe ich immerhin zwei Filme gesehen, die in der Kategorie „Best Picture“ für die Oscars nominiert sind: 

„Barbie“ (Video on demand bei z.B. WOW, Apple TV (Öffnet in neuem Fenster), Amazon Prime Video (Öffnet in neuem Fenster)) ist ein unglaubliches Meisterwerk (die ersten fünf Minuten zählen für mich zum Besten, was ich je im Kino gesehen habe — auch wenn ich den Film streng genommen auf meiner Couch gesehen habe, aber egal) und auch sonst stimmt an diesem Film einfach alles: das Set-Up, das Drehbuch, die Ausstattung, der Grad an Absurdität (manche Szenen wirken wie „Stranger Than Fiction“ oder „Being John Malkovich“ in homöopathischen Dosen), die Selbstironie, die Darsteller*innen. Es ist für mich einigermaßen unverständlich, wie die Regisseurin Greta Gerwig bei einem so runden Gesamtpaket in der Regie-Kategorie übersehen werden konnte, aber ich habe die Filme der tatsächlich nominierten Regisseur*innen zugegebenermaßen auch alle nicht gesehen — vielleicht waren deren Leistungen einfach noch besser.

„American Fiction“ (Amazon Prime Video (Öffnet in neuem Fenster)) ist die Geschichte eines mäßig erfolgreichen Schwarzen Schriftstellers (Jeffrey Wright; völlig zurecht als bester Hauptdarsteller nominiert), der aus Trotz in kurzer Zeit ein klischeetriefendes Buch schreibt, das alle Erwartungen der weißen Mehrheitsgesellschaft und des Literaturbetriebs an Black literature erfüllt, und damit unerwarteten Erfolg hat. Auch hier sind bereits die ersten Minuten sensationell. Der Film ist aber nicht nur ein vielschichtiger, spielerischer Kommentar auf den Literaturbetrieb, Medien und die (amerikanische) Gesellschaft an sich, sondern auch eine Familiengeschichte, die wie eine Flipperkugel in kurzer Zeit immer wieder die Richtung ändert. Ich habe immer wieder gedacht, dass weniger talentierte Menschen aus der Grundidee und Vorlage (das Drehbuch basiert auf dem Roman „Erasure“ von Percival Everett, den ich nicht gelesen habe) vermutlich eine sechs- bis achtteilige Serie gemacht hätten, und wir Cord Jefferson als Drehbuchautor und Regisseur dankbar sein sollten, dass er die ganze Geschichte inkl. wunderbarer Nebenstränge in 117 Minuten erzählt. (Die Filmmusik von Laura Karpman ist übrigens auch ganz großartig und ebenfalls für einen Oscar nominiert; Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Amazon Music (Öffnet in neuem Fenster).)

Was hast Du gelesen?

Der wahnsinnig kluge Jens Balzer hat ein Buch über mein Lieblingsjahrzehnt geschrieben: „No Limit — Die Neunziger, das Jahrzehnt der Freiheit“ (Rowohlt (Öffnet in neuem Fenster)) erzählt die Geschichte der 1990er Jahre von ihrem Beginn am 9. November 1989 bis zu ihrem Ende am 11. September 2001. Das hat Chuck Klosterman in seinem großartigen (Öffnet in neuem Fenster) „The Nineties“ auch schon getan, aber eben aus US-amerikanischer Perspektive. Balzer tut dies nun mit einem Blick auf Tekkno-Bunker in Berlin und „national befreite Zonen“ im Osten, mit etwas weniger Pop und deutlich weniger Sport, dafür mit mehr Philosophie, Helmut Kohl und Gerhard Schröder. Obwohl ich immer geschworen hätte, schon sehr viel über die Neunziger zu wissen, habe ich noch richtig viel gelernt. Und ich habe mich einmal mehr gefreut, zu der relativ kleinen Gruppe von Menschen zu gehören, die alt genug sind, um das Zeitalter von CDs, Privatfernsehen, Anrufbeantwortern und Modems noch miterlebt zu haben, aber jung genug, dass schon deren Kinder in einer völlig anderen Welt aufwachsen.

Claire Moses war für die „New York Times“ (Öffnet in neuem Fenster) auf Alderney, der einzigen Kanalinsel, die von der britischen Regierung im zweiten Weltkrieg evakuiert worden war, nachdem die Deutschen sie besetzt hatten. Auf der 7,8 km² großen Insel haben die Deutschen - und das wusste ich auch nicht - vier Lager errichtet, drei Arbeitslager und ein Konzentrationslager. Wie die Menschen auf der kleinen Insel, die nicht einmal zu Großbritannien gehört, mit dieser Besetzungsgeschichte umgehen, davon handelt die lesenswerte Reportage.

Außerdem hat Philip Kraut für „54 Books“ (Öffnet in neuem Fenster) sehr lesenswert über erwartbare Empörung vermeintlicher Sprachbewahrer vor dem Hintergrund eines ewigen Sprachwandels geschrieben. 

Was hast Du zum ersten Mal gemacht?

Die Festnahme von Daniela Klette (Öffnet in neuem Fenster) führt zu einer unerwarteten Wiederbegegnung mit Begriffen und Formulierungen, die Teil meiner Kindheitserinnerungen sind: In den Radionachrichten ist wieder vom „Gefängnisneubau von Weiterstadt“ die Rede und ich warte stündlich auf die Wiederkehr der beruhigenden Ortsmarke „Bonn“. Ohne RAF-Terror, SED-Diktatur und Nationalsozialismus untereinander gleichsetzen oder in irgendeiner Form verharmlosen zu wollen: Ich bekomme eine Ahnung davon, warum Menschen, die in der DDR oder im Deutschland zwischen 1933 und 1945 aufgewachsen sind, warme Kindheitserinnerungen an derart düstere Zeiten entwickeln konnten.

https://www.youtube.com/watch?v=w0N4twV28Mw (Öffnet in neuem Fenster)

Einer der besten Songs aller Zeiten — und dank des Werbefernsehens kennt ihn jetzt auch das Kind.

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Habt eine schöne Restwoche,

Euer Lukas

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