Elterngeld-Eklat: Klassenkampf von oben
Zwei Meldungen nebeneinander: Von benötigten 12 Milliarden Euro sollen nur zwei Milliarden für die Kindergrundsicherung bereitgestellt werden. Und: Der Kappungsbetrag für den Elterngeldanspruch wird von 300.000 Euro auf 150.000 Euro halbiert. Eine Meldung geht im medialen Diskurs völlig unter - die andere zieht einen enormen Aufschrei nach sich. Genau diese Dynamik zeigt, dass in unserer Gesellschaft vor allem die Aufmerksamkeit bekommen, bei denen sowieso die meisten Ressourcen vorhanden sind.
Empörung als politische Nebelkerze
Worum geht es eigentlich?
Mit dem neuen Bundeshaushalt macht vor allem eine Schlagzeile die große Runde: Die Bundesregierung kürzt am Elterngeld! Dabei geht es aber nicht um Leistungskürzungen, sondern um die Kappung des maximalen Einkommens, mit dem Eltern überhaupt Elterngeld bekommen. Waren es bislang 300.000 Euro Haushaltseinkommen pro Jahr, soll diese Grenze auf 150.000 Euro versteuerbares Einkommen pro Jahr gesenkt werden. Das entspricht in etwa einem Bruttohaushaltseinkommen von 180.000 Euro im Jahr. Im Klartext: Wer als Paar bislang zusammen mehr als 8.400 Euro Nettoeinkommen pro Monat zur Verfügung hat, soll den Plänen nach kein Elterngeld mehr erhalten. In den gut verdienenden Teilen der Elternbubble auf Twitter und Instagram tobt die Empörung.
Was dagegen völlig untergeht: Im gleichen Atemzug hat Finanzminister Christian Lindner für die Kindergrundsicherung lediglich 2 Milliarden Euro für die Jahre 2025 bis 2027 im Bundeshaushalt vermerkt. Bundesfamilienministerin Lisa Paus hatte 12 Milliarden Euro pro Jahr veranschlagt. Die Empörung dazu? Bleibt völlig aus. Das Social-Media-Echo auf den Bundeshaushalt wird bestimmt von empörten High-Income-Akademikerpaaren, die gerade ihre Felle davon schwimmen sehen.
Empörung für die Besserverdienenden
Ich halte es für eine strategisch platzierte, politische Nebelkerze, dass diese Meldung zum Elterngeld jetzt so durch die Medien peitscht. Denn daneben fällt völlig hinten runter, dass die Kindergrundsicherung de facto gerade scheitert. Während sich gerade sehr gut verdienende Menschen aufregen, geht sang- und klanglos unter, dass arme Menschen weiter arm bleiben sollen. Es ist kommunikationsstrategisch pure Absicht, dass diese beiden Meldungen nebeneinander stehend veröffentlicht wurden. Denn so wenden die Menschen mit den meisten Ressourcen und der entsprechenden Gestaltungsmacht ihre Energie dafür auf, die Kappung beim Elterngeld zu verhindern, statt die vollumfängliche Umsetzung der Kindergrundsicherung zu fordern.
Ja, die Kappung des Elterngeldes auf diesen Betrag ist als Signalwirkung katastrophal. Denn es ist fatal, dass Leistungen für Familien überhaupt gekürzt werden in einer Zeit, in der die Gesellschaft überaltert, die Betreuungssituation deutschlandweit in der absoluten Misere steckt und die Inflation hoch ist. Auch gleichstellungspolitisch ist es ein fatales Signal, weil so noch mehr gutverdienende Männer eine willkommene Ausrede haben, nicht in Elternzeit zu gehen. Ebenso begünstigt der Wegfall des kompletten Einkommens bei zuhause bleibenden Müttern finanzielle Gewalt. Diese Maßnahme wird unterm Strich zulasten der Frauen gehen.
Allerdings ist es auch so: Wie das Handelsblatt (Öffnet in neuem Fenster) berichtet, werden gerade einmal 60.000 Familien von diesem Einschnitt betroffen sein - das macht circa 0,732 Prozent der Familien mit mindestens einem Kind unter 18 Jahren aus (Quelle: bpb). Im Vergleich dazu sind knapp 20 Prozent aller Kinder in Deutschland armutsgefährdet - nämlich 2,9 Millionen. Die Empörung der gutverdienenden Elternbubble, die ist allerdings bei den 0,732 Prozent Einkommenssteuerpflichtigen - nicht bei den 20 Prozent aller Kinder. Dabei wäre sie dort dringend nötig.
Denn wie SPIEGEL, Süddeutsche Zeitung sowie ein Blick ins FDP-Wahlprogramm verraten, plant Christian Lindner für die bereitgestellten 2 Milliarden Euro in Sachen Kindergrundsicherung auch nicht, sie in tatsächlich monetäre Leistungen zu investieren. Nein, stattdessen ist das Geld unter dem Stichwort "Kindergrundsicherung" für den Ausbau der IT-Infrastruktur vorgesehen, um Antragsverfahren bisher vorhandener Leistungen zu digitalisieren.
Wer Geld hat, hat Einfluss
Man sollte einen gesellschaftlichen Aufschrei erwarten und brennende Reden zugunsten der 2,9 Millionen armer Kinder in diesem Land. Aber die Empörung, die bleibt bei den 0,732 Prozent aller Familien mit Kindern unter 18 Jahren, deren zu versteuerndes Haushaltseinkommen über 150.000 Euro liegt. Zum jetzigen Zeitpunkt (5. Juli 2023, 17:12) hat die Petition "Nein zur Elterngeld-Streichung" von Verena Pausder knapp 403.000 Unterschriften - innerhalb von nicht ganz 48 Stunden. Die Petition "Stoppt Lindners Blockade der Kindergrundsicherung" (Öffnet in neuem Fenster) hingegen, die seit Mitte April läuft, kommt auch nach mehrmaliger Erwähnung auf größeren Instagram-Accounts gerade einmal auf knapp 102.000 Unterschriften.
Im Klartext: Die 0,732 Prozent aller Familien, die von der Elterngeldkappung betroffen sind, konnten in 48 Stunden viermal so viele unterstützende Stimmen hinter sich vereinen wie die 20 Prozent aller Kinder, die von Armut betroffen sind, in drei Monaten gesammelt haben.
Es geht also in dem Diskurs um Elterngeldkappung und Kindergrundsicherung nicht um eine Neiddebatte, wie viele einkommensstarke Verfechterinnen jetzt behaupten. Sondern es geht um Macht, Einfluss, das Vorhandensein und die Nutzung von Ressourcen. Es geht darum, dass klar wird: Wer den medialen Diskurs bestimmt und damit potentielle Veränderung bewirken kann, hängt vor allem an - Geld.
Die Elterngeldkappung trifft NICHT die Mitte der Gesellschaft
Wer die nötigen Ressourcen hat, bringt oft auch die nötige Bildung - oder Berater*innen - mit, die es braucht, um die Massen zu den eigenen Gunsten zu bewegen.
So spricht Initiatorin der Petition "Nein zur Elterngeld-Streichung" Verena Pausder von den betroffenen 60.000 Familien als "Mark der Gesellschaft" und glaubt, die Kürzungen würden die "leistungsbereite Mitte" ansprechen. Kommunikationsstrategisch ist das klug. Denn von diesen Formulierungen fühlen sich all diejenigen angesprochen, die hart für ihr Geld arbeiten und (vielleicht das erste Mal in ihrem Leben) gerade einen komfortablen Lebensstandard genießen, der zwar nicht ausschweifend ist, aber alltägliche Annehmlichkeiten erlaubt. Selbst wenn sie gar nicht betroffen sind.
Denn es ist eben nicht die Realität, dass Menschen mit einem versteuerbaren Einkommen von mehr als 150.000 Euro (also einem Jahresbrutto von ca. 180.000 Euro) genau diese Mitte stellen würden. Das durchschnittliche Haushaltseinkommen in Deutschland lag 2021 bei knapp 59.000 Euro im Jahr (Quelle: Destatis (Öffnet in neuem Fenster)). Das ist nur knapp unter einem Drittel des Kappungsbetrags. Von der Mitte der Gesellschaft, die mehr als 150.000 Euro verdient, kann also lange nicht die Rede sein. Verena Pausder und all diejenigen, die die Empörung vorantreiben, spielen mit der Abstiegsangst, die die deutsche Bevölkerung sowieso zu jeder Zeit umtreibt, indem sie ihr Narrativ so formulieren, dass sich all diejenigen angesprochen fühlen, die schon für 60.000 Euro im Jahr hart arbeiten müssen.
Näher an der Kindergrundsicherung als an Elterngeldkappung
Mehr als 90 Prozent der deutschen Familien sind näher daran, die Kindergrundsicherung gebrauchen zu können als an einem versteuerbaren Einkommen von 150.000 Euro.
Warum solidarisieren sich also so viele Menschen eher mit den einkommensstarken 0,732 Prozent Familien, die von der Kappung des Elterngeldes betroffen sein werden, als mit den 21% all der Kinder und Jugendlichen, die von Armut gefährdet sind?
Zum einen, weil die Elterngeld-Empörung so raffiniert genau die Abstiegsangst anspricht, die vor allem Eltern in Deutschland durch Inflation und Klimakrise so stark spüren. Vielen ist bewusst, dass die aktuelle Entwicklung zu einer Reduzierung des Wohlstandes führen wird. Jetzt in knackigen Headlines von "Elterngeld-Streichung" zu reden, ist kommunikationsstrategisch schlau, weil es auch denen, die gar nicht betroffen sind, das Gefühl vermittelt: Der Staat nimmt uns etwas weg. Zu den Sorgen der vergangenen Monate, mit Inflation und Heizkrise, kommt jetzt eine weitere, gefühlte Bedrohung hinzu. Man hat das Gefühl, sich wehren zu müssen. Es lassen sich viele Menschen mobilisieren, die gar nicht weiter hinterfragen, was an dem Inhalt der Petition eigentlich dran ist.
Zum anderen wirkt die Petition gegen die Elterngeldkappung aber auch deshalb besser, weil das Stichwort "Grundsicherung" so eng mit Scham und Vermeidung verknüpft ist. Es ist der gesellschaftliche Klassismus. Die gesellschaftliche Ächtung von Armut und Bedürftigkeit machen es so schwer für die Kindergrundsicherung die gleichen Massen an Energie zu bewegen wie für das Elterngeld für die oberen 5 Prozent.
Unsere Gesellschaft hängt immer noch dem Narrativ an, dass man sich ja nur genug anstrengen müsse, um ein gutes Leben zu haben. Bedeutet im Umkehrschluss: Den Gedanken zuzulassen, dass ich näher an der Kindergrundsicherung bin als an der Möglichkeit, 150.000 Euro versteuerbares Einkommen zu erwirtschaften, fühlt sich unterbewusst nach Versagen an. Die Kindergrundsicherung wird von vielen immer noch nicht als strukturelle Notwendigkeit verstanden, weil die Ursachen für Armut immer noch so sehr ins Private verschoben werden. So stellte man mir auch im Rahmen dieser Diskussion die alt bekannte Frage, ob das Geld aus der Kindergrundsicherung wirklich bei den Kindern ankäme und nicht von den Eltern für Alkohol, Zigaretten oder Luxusgüter ausgegeben werde?
Die Klischees rund um Armenhass, die Unterstellung, dass arme Menschen an ihrer Misere selbst schuld seien und dass arme Eltern mit mehr Geld ihren Kindern auch kein besseres Leben bieten wollen würden, sorgen dafür, dass die Unterstützung für die Kindergrundsicherung verhalten ist.
Gut verdienende, gut ausgebildete Paare zu unterstützen, die hübsche Häuser besitzen und traumhafte Urlaube machen, wie sie uns von vielen Influencerinnen präsentiert werden, fällt uns hingegen leicht. Weil sie uns die Illusion bieten, dass dies auch mal unser Leben sein könnte. Sie präsentieren uns ein Leben, von dem wir uns gern vormachen, dass wir es genauso erreichen könnten. Ihnen also im Kampf für ihr Elterngeld zur Seite zu stehen, ist für uns einfach. Denn das gesellschaftliche Narrativ sagt uns: Wenn du dich genug anstrengst, könntest das auch du sein! Uns mit der Realität zu konfrontieren, dass es wahrscheinlicher ist, einmal Grundsicherung zu beziehen als plötzlich zu den oberen 5 Prozent der Einkommensschichten zu hören, ist hingegen so beängstigend, dass wir das Thema als Ganzes beiseite schieben.
Klassenkampf von oben
Gleichzeitig führt dieses Maß der Empörung aber auch ganz perfide zu Armenhass. Eine Followerin schrieb mir, dass ein Bekannter die Petition von Verena Pausder weiterleitete mit den Worten, dass die Bundesregierung wolle, "dass nur noch die Atzen Kinder kriegen". Es ist ein perfides Aufwiegeln der Einkommensstarken gegen diejenigen, die gerade dringend Unterstützung bräuchten, um die Kindergrundsicherung durchsetzen zu können. Die Rhetorik der Petitionsinitiatorin selbst, die unreflektiert die oberen 5 Prozent der Verdienenden als "leistungsbereite Mitte" bezeichnet, spaltet. Zu implizieren, dass vor allem diese 5 Prozent, die mehr als das Dreifache des durchschnittlichen Haushaltseinkommens verdienen, der Motor der Gesellschaft seien, während Fachkräfte in der Altenpflege, in Kitas, auf Müllwagen oder in Reinigungsfirmen lange nicht angemessen bezahlt werden, spaltet. Das ist Klassenkampf von oben.
Genau diese Einkommensstarken, die sich fälschlicherweise als Mitte der Gesellschaft definieren, sind es, die jetzt nach Solidarität rufen, weil ihrer Empörung berechtigte Kritik entgegengesetzt wird. Es wirkt geradezu skurril, dass gerade eine Gruppe Menschen, die über das größte Maß der im Kapitalismus wichtigsten Ressource verfügt, für sich Solidarität einfordert, wenn sie ausnahmsweise ein (zugegeben im großen Kontext fragwürdiges) Opfer zugunsten der finanziell weniger gut aufgestellten Familien bringen soll.
Das ist nämlich der Aspekt, der dabei völlig verloren gegangen ist: Ursprünglich war der Auftrag des Bundesfinanzministers, beim Elterngeld allgemein zu kürzen. Es war im Grunde eine Entscheidung zur Umverteilung der Last, als Lisa Paus sich entschieden hat, das Geld den sehr gut verdienenden, oberen 5% aller Familien wegzunehmen statt der Altenpflegerin und dem Maurergesellen in Zeiten von Inflation noch weniger Elterngeld auszuzahlen.
Doch dieser Aspekt wird seitens dieser lauten Minderheit völlig ausgeklammert. Stattdessen werfen sehr gut verdienende Menschen denen, die tatsächlich zur Mittelschicht gehören, jetzt vor, die Elternschaft auseinander zu dividieren, eine Neiddebatte zu führen. Dabei ignorieren sie gekonnt, dass sie selbst diese Solidarität, die sie für sich fordern, denjenigen vorenthalten, die noch nie (volles) Elterngeld bekommen haben. Dazu gehören beispielsweise Menschen in Bürgergeldbezug oder Alleinerziehende, die Unterhaltsvorschuss bekommen.
Wie solidarisch ist Gleichstellung, die Arme vergisst?
Die Verfechter der höheren Einkommen argumentieren: Die Kappung würde perspektivisch verhindern, dass mehr Frauen an entscheidenden Stellen in Wirtschaft, Politik und Unternehmensverbänden arbeiten könnten und sich so ja auch nichts verändern könnte. Aber es ist doch so: Es ist egal, ob an diesen Positionen Männer oder Frauen sitzen, wenn ihre Solidarität vor allem sich selbst gilt. Wer in Anbetracht einer drohenden Wirtschaftskrise vor allem sich selbst absichert, obwohl die eigenen Ressourcen so zahlreich sind, wird auch in entscheidenden Positionen keine Hilfe bei der Herstellung sozialer Gerechtigkeit sein.
Solidarisch wäre gewesen, wenn sich diejenigen, die ihren Einfluss jetzt nutzen, um in zahlreichen Medien Interviews zugunsten der Top 5 Prozent zu geben, gesagt hätten: "Hey, die Kappung des Elterngeldes ist mies, aber wenn du das schon machst, lieber Christian Lindner, dann mach doch wenigstens die 12 Milliarden für die Kindergrundsicherung voll!" Die betroffene Einkommensgruppe hätte sich jetzt so wirkmächtig mit den armen Menschen dieser Gesellschaft solidarisieren können. Denn wer jetzt schon über so viele Ressourcen verfügt, findet so viel einfacher Lösungswege als diejenigen, bei denen das Geld manchmal nicht mal bis zum 30. des Monats reicht.
Aber genau das passiert nicht. Im Gegenteil, die Empörung der Gutverdienenden verdrängt alles andere. Zahlreiche Menschen melden mittlerweile zurück, dass ihnen neben der Elterngeld-Debatte überhaupt gar nicht bewusst war, dass die Kindergrundsicherung laut dem Haushaltsentwurf überhaupt nicht zielführend umgesetzt werden soll. Die politische Nebelkerze funktioniert: Die gesamte Republik ist wegen der oberen 5 Prozent der Einkommenssteuerpflichtigen in Aufruhr und keiner denkt an die tatsächlich armen Menschen.
Da hilft in meinen Augen auch das Argument, dass diese Kappung ein gleichstellungspolitischer Rückschritt sei, nicht, um Verständnis zu schaffen. Denn wenn es am Ende wieder nur um weiße, sehr gut verdienende Frauen in privilegierten Positionen geht, die wir retten sollen, hat das mit Gleichstellung nichts zu tun, wenn Armutsbetroffene dafür in Vergessenheit geraten.
Es geht um Verhältnismäßigkeiten
Eigentlich entbrennt hier gerade genau die Klassendebatte, die wir als Gesellschaft schon so lange brauchen. Nicht nur, weil es notwendig ist, dass sich der reale Mittelstand endlich miteinander solidarisiert, damit so etwas wie die Vermögenssteuer, die Erbschaftssteuer oder das bedingungslose Grundeinkommen wirklich diskutiert und umgesetzt werden können. Sondern auch, weil es gerade für diejenigen, denen es wirtschaftlich sehr gut geht, Zeit wird, sich über die Verhältnismäßigkeiten Gedanken zu machen, über die wir hier diskutieren.
Denn jetzt kommen Frauen, deren zu versteuerndes Einkommen mit dem ihres Partners addiert mutmaßlich über 150.000 Euro liegt, und behaupten, ohne Elterngeld würden sie gar kein Kind bekommen können. Es wird höchst emotional die Zerstörung des eigenen Lebensentwurfs beklagt. Weil es offenbar vorstellbarer ist, gänzlich auf Kinder zu verzichten als den eigenen Lebensstil zu hinterfragen und Veränderungswillen zu zeigen.
Ich hingegen habe beide Kinder mit dem Mindestsatz von 300 Euro großgezogen - während mein Mann wieder in Ausbildung war und maximal 500 Euro Netto heimgebracht hat. Kinderkriegen geht also durchaus auch mit deutlich weniger als 150.000 Euro im Jahr.
Millionen von Menschen leben jeden Tag in der Notwendigkeit, ihr Einkommen genau durchrechnen und ihren Lebensstandard immer wieder in Frage stellen oder tatsächlich reduzieren zu müssen. Da ist durchaus zurecht zu erwarten, dass jemand, dessen Haushaltseinkommen zu den oberen 5 Prozent gehört, im Zweifel seinen Lebensstil auch entsprechend anpassen kann - oder im Vorhinein entsprechende Polster anlegt.
Immerhin wird genau das bei armen Menschen immer wieder angeprangert - dass man sich doch finanzielle Polster und Stabilität anlegen solle, bevor man Kinder bekommt, statt sich auf den Staat zu verlassen. Jetzt plötzlich erzählen aber genau diese oberen 5 Prozent der Einkommensschichten, dass sie genau das nicht könnten. Zu teuer seien die Kreditraten fürs Haus oder die Stadtwohnung in Berlin. Deshalb seien sie auf das Elterngeld angewiesen. Diese Aussagen sind so entlarvend, weil sie den Klassismus und die mangelnde Solidarität dieser Menschen und in unserer Gesellschaft offenlegen. Die Anspruchshaltung ist klar: Wer vermeintlich nichts leistet, soll sich bestmöglich disziplinieren. Wer allerdings schon sehr viel mehr Geld hat als die Durchschnittsbevölkerung, erhebt Anspruch darauf, den eigenen Lebensstil staatlich unterstützen zu lassen.
Es ist schon skurril, dass sich diese Eltern darüber beschweren, dass nun der Elternzeiturlaub nicht stattfinden könne, das zweite Auto verkauft werden müsste oder der Hausbau verschoben werden, wenn die Elterngeldkappung kommt. Und gleichzeitig eine viel, viel größere Anzahl an Eltern parallel dazu nicht weiß, wie sie eigentlich eine warme Mahlzeit auf den Tisch stellen soll oder den Ausflug ins Freibad bezahlen.
Es geht in der Debatte nicht darum, dass die betroffene Elterngruppe nicht wütend sein darf. Der Schock, wenn die eigene Zukunftsplanung auf den Kopf gestellt wird, ist legitim. Man darf erst einmal ins Schwimmen geraten. Aber es geht darum, dass sich diese Probleme für die betroffene Elterngruppe noch viel, viel einfacher lösen lassen als für den Durchschnittshaushalt. Der Standard, auf dem diese Probleme entstehen, ist so viel höher als das, was die meisten Familien an Lebensqualität je erleben werden. Das nicht aus den Augen zu verlieren wäre eine Voraussetzung, damit ECHTER gesellschaftlicher Wandel erst möglich wird.
Wem wollen wir solidarisch sein?
Während jetzt die gesamte Republik darüber diskutiert, ob 150.000 Euro zu versteuerndes Einkommen genug sind, um aufs Elterngeld zu verzichten, spricht beispielsweise niemand darüber, was Fachkräfte aus der offenen Jugendarbeit berichten. Dort ist es nämlich so, dass immer mehr Einrichtungen Mittagstische und Kochangebote einrichten müssen, damit ihre Schützlinge überhaupt EINMAL am Tag satt werden. Kinder und Jugendliche mitten in Deutschland leiden Hunger, während gut Verdienende ihren Lebensstil durch öffentliche Gelder absichern lassen wollen.
Ja, es ist absurd, dass die Bundesregierung erwägt, überhaupt an Familien zu sparen. Es ist nicht die Frage, dass es mit dem Ehegattensplitting, dem Dienstwagenprivileg oder der Vermögenssteuer andere Budgets gäbe, die man schaffen bzw. anzapfen könnte.
Aber die Klassenfrage, die sich an dieser Diskussion entbrennt, die ist grundlegend. Denn die kommenden Jahre werden durchwachsen - wirtschaftlich, politisch, klimatisch. In Hinblick darauf müssen wir uns selbst eine Frage stellen:
Wenn es um finanzielle, wirtschaftliche Knappheit, um Hunger, Durst, Vertreibung und Verfolgung, um Radikalisierung und den Erhalt unserer Demokratie geht - halten wir dann lieber zu den Armen und Schwachen oder lassen wir uns für die Empörung der oberen 5 Prozent einspannen?
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