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9 Gründe, warum Second Hand kaufen keine Lösung ist

Bild: Photo by Darrien Staton, Unsplash

Second Hand Shopping erfreut sich wachsender Beliebtheit. Es gilt als nachhaltig, weil bestimmte Waren ein zweites/drittes/viertes Leben erhalten und so Ressourcen (Öffnet in neuem Fenster) schonen. Außerdem gilt es als sparsam, weil Second Hand ursprünglich mal günstiger als First Hand Mode sein sollte. Deshalb richtet sich der Rat, Second Hand zu kaufen, am liebsten an Menschen, die selbst wenig Geld haben. Mittlerweile geht der Second Hand Hype soweit, dass Influencer*innen Werbung für einschlägige Plattformen machen - alles für die Nachhaltigkeit, versteht sich. Doch ist der Rat, einfach Second Hand zu kaufen, wirklich immer gut? Spoiler-Alarm: Ist er nicht. Hier kommen 9 Gründe, warum Second Hand kaufen nicht immer eine Lösung ist.

1. Warum Second Hand kaufen keine Lösung ist: Fehlende Kapazitäten

Ebay Kleinanzeigen oder Vinted zu durchforsten, Flohmärkte zu durchwühlen oder Anzeigen zu schalten: All das braucht mentale Kapazitäten, die vor allem Alleinerziehende oder arme Menschen oder behinderte bzw. kranke Menschen oft nicht haben.

Vor allem die heißgeliebten Flohmärkte können sich als eine echte Mental Load Falle entpuppen:

  • Ich muss evtl. vorhandene Kinder wegorganisieren, wenn ich wirklich in Ruhe gucken will

  • muss Anfahrt und Abfahrt kalkulieren

  • muss genau überlegen, wie ich die Funde transportiere und

  • berechnen, wann ich spätestens da sein muss, wenn ich nicht vor den ausgesuchten Resten stehen will.

Wer aus verschiedensten Gründen nicht einfach mit dem hauseigenen SUV vorfahren kann, ist also schon vor Flohmarktbeginn das erste Mal gestresst. Gerade für arme Menschen, aber auch für chronisch Kranke oder Alleinerziehende kann das mitunter schon das K.O.-Kriterium sein, bevor die Suche überhaupt angefangen hat.

2. Second Hand braucht Zeit

Nicht jeder hat die Flohmärkte und Second Hand Shops großer Metropolen direkt vor der Tür. Wer auf dem Land lebt, muss sich konkrete Termine einplanen, um diese Orte aufzusuchen, weil allein die Anfahrt bis zu einer Stunde und mehr in Anspruch nehmen kann. All das ohne die Garantie, wirklich etwas zu finden. Unter Umständen muss man mehrere Stunden einplanen, bis auch nur ein einziges Kleidungs- oder Möbelstück gefunden ist, das den Anforderungen entspricht. Wenn ich allein für mehrere Kinder zuständig bin (Öffnet in neuem Fenster) / in mehreren Jobs arbeite / pflegende Angehörige bin, muss ich diese Zeit erst einmal aufwenden können. Auch das ewige Scrollen auf einschlägigen Plattformen ist etwas, das im Alltag erst einmal untergebracht werden muss. Nicht alle sind mit bequemen Bürojobs gesegnet, in denen man in der Mittagspause nebenher ein bisschen auf dem Handy scrollen kann.

Photo by Megan Lee (Öffnet in neuem Fenster) on Unsplash (Öffnet in neuem Fenster)

3. Second Hand kaufen ist lokal eingeschränkt möglich

Wer nicht in der Großstadt wohnt, stößt in Sachen Second Hand schnell an die Verfügbarkeitsgrenze. Während Babysortimente auch in ländlichen Kontexten noch gut zweiter Hand zu kaufen sind, wird das Angebot ab Gr. 134 schon dünner. Im Erwachsenensortiment kann es hingegen die Plus Size Mode sein, die man monatelang sucht, bevor man auch nur ein einziges cooles Teil ergattert hat.

Dazu kommt: Der Trip in die nächste Metropole kostet allerdings auch a) Zeit und b) Geld, das vor allem arme Menschen tendenziell eher nicht haben. Wer aus wirtschaftlichen Gründen Second Hand kauft, kann sich oft die zusätzlichen 20 Euro für das Zugticket nicht leisten. Selbst wenn ein Auto vorhanden ist, wird der vorhandene Sprit nur zögerlich verfahren, weil zur Arbeit zu kommen Vorrang hat. Wer aber aus wirtschaftlichen Gründen, vielleicht noch im Plus Size Segment, nach Second Hand sucht, fährt auch mit Onlineplattformen nicht immer besser.

4. Second Hand kaufen ist für Plus Size umso schwieriger

Diejenigen, die am liebsten von Second Hand Käufen schwärmen, haben meist eins gemeinsam: Eine eher normgerechte Statur. Wer allerdings aus der Norm fällt, steht bei Second Hand oft vor dem Problem eines sehr begrenzten Sortiments. Besonders schwierig wird's im Plus Size Bereich (Öffnet in neuem Fenster), seitdem Oversize im Trend ist. Tatsächlich geben normgewichtige Influencer*innen oft den Tipp, Oversized Looks doch einfach Second Hand zu ergattern, indem man schöne Teile einfach in Gr. 48 aufwärts kauft. So spare man Geld und ärgere sich nicht so sehr, wenn der Trend wieder vorbei ist.

Ist nur schlecht, für die, die diese Größen regulär kaufen. Das Plus Size Angebot jenseits der Größe 46 ist eh oft schon sehr beschränkt. Wenn nun auch all jene, die eigentlich kleinere Kleidergrößen brauchen, in diesem Bereich “wildern”, wird dicken Menschen zusätzlich Angebot weggenommen. Das führt zu weiterer Diskriminierung, denn gerade bei dicken Menschen wird sehr genau hingeschaut, ob sie gut gekleidet sind. Sitzt die Kleidung zu eng oder stehen nur wenige Outfits zur Auswahl, zieht das im Zweifel verstärktes Mobbing sowie eine Verstärkung bestehender Vorurteile nach sich.

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5. Second Hand lässt sich nicht (immer) anprobieren

Zum verknappten Angebot kommt dazu, dass Mainstream-Schnittmuster immer weniger den tatsächlichen Proportionen eines Körpers entsprechen, desto weiter sie hochgradiert werden. Denn tatsächlich wird das Schnittmuster einfach nur mit einem bestimmten Faktor vergrößert. Man müsste aber eigentlich mit jeder steigenden Konfektionsgröße genau hinschauen, wo genau die Mehrweite eigentlich gebraucht wird. Bedeutet in der Konsequenz: Je größer die Konfektionsgröße, desto weniger kann man Kleidung einfach in einer bestimmten Größe kaufen und darauf setzen, dass das Kleidungsstück passt. Vielmehr sammelt man ein wahres Sammelsurium an verschiedenen Konfektionsgrößen, weil jeder Schnitt unterschiedlich sitzt.

Gerade mehrgewichtige Personen, aber auch alle anderen aus der Norm Fallenden, müssen also immer vorab nach den Maßen der Kleidungsstücke fragen. Und müssen dann auf den guten Willen der Verkäuferin/des Verkäufers hoffen. Selbst wenn die Maße übermittelt werden, kann das Erlebnis dennoch frustig enden - denn im Gegensatz zu First Hand kann man sich das Kleidungsstück nicht einfach eine Größe kleiner/größer zeigen lassen. Stattdessen muss man die Plattform der Wahl mühevoll ein zweites Mal durchforsten in der Hoffnung, das begehrte Kleidungsstück in der (dann hoffentlich) passenden Größe noch einmal zu finden.

6. Warum Second Hand kaufen ein teures Risiko sein kann

Gerade für arme Menschen sind Vinted & Co nicht zwingend ein guter Tipp. Bei Kinderkleidung in recht einheitlichen Größen kann das zwar hervorragend hinhauen. Aber bei Kleidung für mich selbst habe ich bei Vinted schon hart daneben gegriffen. Das Problem: Bei Second Hand gibt's keine Erstattung. Man bleibt auf dem Kleidungsstück und dem ausgegebenen Geld sitzen, wenn es nicht passt. Besonders für arme Menschen ist das kritisch. Denn wenn man über die 15 Euro für die Jeans (ggf. plus Versandkosten) lange nachgedacht hat, weil man stattdessen davon auch mindestens zwei Abendessen auf den Tisch stellen könnte, ist es umso bitterer, wenn die Jeans dann nicht sitzt. Oder im Zweifelsfall doch nicht so einwandfrei ist wie beschrieben oder womöglich nie ankommt. Während man zwar First Hand eventuell mehr Geld ausgibt oder billig, aber aus eher desaströsen Produktionsbedingungen kauft, hat man da immerhin die Möglichkeit, Dinge zu reklamieren. Eine Möglichkeit, die für arme Menschen unerlässlich ist.

7. Aus zweiter Hand kaufen braucht Ressourcen

Wer 4 passende Jeans in der richtigen Farbe im Schrank hat, kann leichter Second Hand nach Ersatz gucken, wenn eine Jeans kaputt geht. Einfach, weil noch genug Jeans zur Überbrückung da sind, bis man eine passende Neue gefunden hat. Das bedeutet, man kann in Ruhe stöbern und ggf. die Versandzeiten abwarten. Wer allerdings armutsbedingt sowieso nur eine oder zwei Jeans besitzt und dann auch noch eine davon ersetzen muss, kann im Zweifel nicht auf Second Hand warten. Dann muss man die Jeans so schnell es geht ersetzen, weil sonst die Hose für die Arbeit fehlt und man ohne neue Jeans nicht mehr (lange) vor die Tür gehen kann.

8. Warum Second Hand kaufen eine solidarische Preis-Regulierung braucht

Seitdem Second Hand als Nachhaltigkeitstrend gefeiert wird, zieht die Preisspirale auf den Plattformen spürbar an. Während ich früher noch einen ganzen Karton Bücher verkaufen und im Anschluss zumindest für 1,5 bis 2 Wochen einkaufen gehen konnte, bekomme ich auf diesen Plattformen mittlerweile nur noch ein Bruchteil des Geldes. Einfach, weil die breite Masse entdeckt hat, dass sie ihren Minimalismus nicht nur leben, sondern damit auch noch Geld verdienen kann. Ein großes Angebot drückt natürlich die Ankaufspreise. Gleichzeitig merke ich auch - mit immer mehr Menschen, die ihre Markenkleidung auf diesen Plattformen anpreisen, steigt der durchschnittliche Preis pro Teil auf den Plattformen durchaus auch an. Es kann sein, dass man nach gebrauchten Kinderjacken für den Winter sucht und mehr als ⅔ des Neupreises bezahlen soll. Der Sparsamkeitsfaktor für Second Hand revidiert sich, wenn immer mehr besser situierte Menschen ihre kaum aufgetragenen Klamotten zu Preisen anbieten, die Neupreisen nahekommen. Das führt nämlich zu einer steigenden Preisspirale, sodass selbst die, die früher ihre Kleidung eher günstig angeboten haben, ihre Preise nun nachziehen. In die Röhre gucken die, die jeden Euro zweimal umdrehen müssen.

Photo by Becca McHaffie (Öffnet in neuem Fenster) on Unsplash (Öffnet in neuem Fenster)

9. Warum Second Hand kaufen Verzicht als Grundvoraussetzung braucht

Second Hand Konsum ist nur so nachhaltig und sparsam wie unsere eigenen, vorherigen Überlegungen das hergeben. Wenn wir also weiterhin im Überfluss konsumieren und nun Second Hand 16 Oberteile kaufen, von denen wir sowieso nur 6 regelmäßig tragen, lösen wir das eigentliche Problem nicht. Es wird dadurch nicht nachhaltiger, weil wir mit Überkonsum in der zweiten Hand ja nur die Überproduktion der ersten Hand bestätigen. Auch wird es dadurch nicht günstiger, weil wir ja trotzdem mehr Geld ausgeben als wir wollten. Vor allem wird die Gesellschaft davon aber nicht solidarischer. Denn gerade die, die es sich leisten können, den Kleiderschrank mit mehr zu füllen als sie tragen (können), grasen damit das Angebot für diejenigen ab, die auf günstige Kleidung angewiesen sind, weil sie sich nichts anderes leisten können. In der Konsequenz kaufen diese Menschen dann bei Primark, Shein & Co - weil es genauso günstig oder günstiger ist, schneller geht, weniger Vorbereitung und Mental Load benötigt und das Angebot schier unendlich ist.

Nur, damit diejenigen, die vor dem vollen Second Hand Kleiderschrank stehen, dann moralisch wertende Postings auf Instagram darüber teilen, wie schrecklich Shein & Co sind und dass wir als Konsument*innen ja etwas ändern müssten. Am Ende werden also wieder die beschämt, denen der Überkonsum anderer gar keine Wahl lässt. Dabei können sich Minimalismus (Öffnet in neuem Fenster)vor allem Menschen leisten, die eh schon viel haben. (Über das Problem mit Second Hand und Greenwashing hat auch Bianca alias Groschenphilosophin (Öffnet in neuem Fenster) schon geschrieben.)

Second Hand kaufen ist also nicht immer eine Lösung. Sprechen wir darüber, wie es besser gelingen kann

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