Zum Hauptinhalt springen

30 Jahre Solingen

27.5.2023: Was gehört zur deutschen Erinnerungskultur? Wer gehört dazu? Welche Daten und Ereignisse haben wir präsent? 30 Jahre nach dem tödlichen Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç in Solingen.

Im vergangenen Jahr habe ich im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) verschiedene Interviews geführt. Für einen Film über das Einwanderungsland Deutschland. Angefragt wurde ich vom Regisseur dieses Films: Mirza Odabaşı.

Der Film für die bpb und der dazugehörige Bildband werden im Herbst erscheinen. Schon jetzt könnt ihr aber eine sehr persönliche Doku von Mirza Odabaşı im WDR sehen: “Hört uns zu!”. Es ist sein zweiter Film über die Folgen des Anschlags von Solingen. Seinen ersten Film (Öffnet in neuem Fenster) dazu hat er 2012 gedreht. Mit einem blutjungen türkischen Rapper, der in der Aktuellen Stunde einem sehr weißen, eher älteren Publikum sehr klare Worte über Rassismus und den Anschlag von Solingen entgegentextet. Der damals junge Rapper ist heute als Kabarretist unterwegs. Sein Name: Fatih Çevikkollu.

Fatih Çevikkollu mit runder Sonnenbrille mit blauen Gläsern und goldenem Rahmen, hellem Jeanshemd, Mikrofon, im Hintergrund das rote Dreieck der Sendung Aktuelle Stunde des WDR
Fatih Çevikkollu rappt in der Aktuellen Stunde über den Anschlag von Solingen. Zu sehen im ersten Film von Mirza Odabaşı von 2012. © WDR | Screenshot

In seinem aktuellen Film “Hört uns zu! (Öffnet in neuem Fenster)” (nur noch bis 25.05.2025) zeigt Mirza Odabaşı seine ganz persönliche Sicht auf die Entwicklungen seitdem. Dabei spricht er das Publikum, die weiße deutsche Mehrheitsgesellschaft, direkt an: “Ich versteh, dass du dich mit den Tätern nicht identifizierst. Und ich versteh, dass die Opfer von rechter Gewalt ganz oft nicht so aussehen wie du. Doch wie wollen wir uns auf Augenhöhe begegnen, wenn wir nicht gleichermaßen trauern über rassistische Gewalt?”

Und obwohl ich mich mit Rechtsextremismus, der Geschichte des Nationalsozialismus und ihrer Kontinuitäten bis ins Heute beschäftige, fühle ich mich angesprochen. Und ich finde das gut. Weil es mich auf etwas hinweist. Nämlich darauf, dass wir uns mit unserer deutschen Geschichte viel zu sehr um uns selbst drehen. Dass uns der weitere Blick und die größere Perspektive fehlt. Das ist auch der Grund, warum ich diesen Newsletter ins Leben gerufen habe. Weil ich meinen Teil dazu beitragen möchte, dass wir mehr in den Blick nehmen.

Titelbild von Hört uns zu: Im Hintergrund abgedunkelt den Blick von einem Wohnzimmer auf einen Balkon durch eine Glastür. Auf dem Balkon liegt eine Strickleiter, deren einer Teil über die Brüstung geworfen ist. Darüber drei Worte in großen weißen Buchstaben und drei Reihen: Hört uns zu!

Denn es gibt Gründe, warum in Deutschland trotz einer rassistischen Grundeinstellung in großen Teilen der Bevölkerung, in den 50er Jahren die ersten Menschen als Gastarbeiter:innen ins Land geholt wurden. Es gibt Gründe, warum Arbeitskräfte gefehlt haben. Es gibt Gründe, warum es diesen Menschen so schwer gemacht wurde, anzukommen und Teil dieser Gesellschaft zu sein. Es gibt Gründe, warum ihre Kinder und Enkel bis heute von einigen immer noch als “Ausländer” gelesen werden.

Mit diesen Gründen müssen wir uns beschäftigen. Ich, Du, wir alle. Zumindest dann, wenn wir wollen, dass Rassismus keinen Platz hat in unserer Gesellschaft. Denn nur dann wird es uns möglich sein, über Opfer rassistischer Anschläge als Teil unserer Gesellschaft zu trauern. Erst dann werden wir es unangemessen finden, wenn junge Männer pauschal als “Paschas” bezeichnet werden, weil bei ihnen ein kultureller Hintergrund gemutmaßt wird, der als nicht deutsch definiert wird. Auch das ist Thema im Film von Mirza Odabaşı.

Mirza Odabaşı sitzt am Steuer seines Autos. Screenshot aus dem Film

Und aus persönlicher Erfahrung kann ich nur sagen: Die Beschäftigung mit vielfältigen Perspektiven auf Erinnerungskultur hat mich bewegt. Innerlich und äußerlich. Sie hat mein Denken geöffnet, mein Empfinden, meine Wahrnehmung. Ich bin dadurch offener geworden, weicher, empathischer. Das mögen einige als Schwäche auslegen. Ich sehe es als Bereicherung. Sie nimmt meiner eigenen Geschichte und meinem eingelagert sein in diese Geschichte(n) nichts weg, sondern fügt etwas hinzu. Etwas, das ich viel zu lange nicht gesehen habe. Deshalb an dieser Stelle auch ein großes DANKE an Mirza Odabaşı für das Vertrauen - und die Einladung, mich auf den Weg zu machen.

Dieser Newsletter erschien erstmalig am 27. Mai 2023 auf Substack

Kategorie Erinnerungskultur