Migration und transgenerationale Traumata
20.08.2023: Fatih Çevikkollus Buch "Kartonwand"
Den meisten Menschen ist Fatih Çevikkollu wohl als bissiger Kabarettist bekannt. Einer, der da hin geht, wo es wirklich sticht - und dem es trotzdem gelingt, dass alle miteinander lachen können. Egal wer da im Publikum sitzt. So kenne ich ihn zumindest. Sein erstes Buch (Öffnet in neuem Fenster) allerdings erzählt eine ganz andere Geschichte. Eine sehr persönliche, die gleich mit mehreren Tabus bricht.
Vom Leben hinter der Kartonwand
Es ist die Geschichte derer, die in den 60er Jahren als Arbeitsmigrant:innen nach Deutschland gekommen sind, aber nie wirklich hier ankamen. Die hier arbeiten sollten, aber dann auch bitte wieder gehen. Junge Menschen, die hier Familien gegründet haben, ohne eine Chance, sich um die Kinder zu kümmern. Das könnten wir grundsätzlich alles wissen, aber Fatih Çevikkollu bringt uns diese Geschichte so nah, dass wir das nicht nur wahrnehmen, sondern uns damit auseinandersetzen müssen.
Seine Premierenlesung am 17. August 2023 im Kölner Theater im Bauturm war bis auf den letzten Platz besetzt. Und obwohl Fatih eingangs im Gespräch mit Moderatorin Aslı Sevindim ankündigte, dass das hier kein witziger Abend wird: An der ein oder anderen Stelle kann er es sich dann doch nicht verkneifen, die Anspannung und Betroffenheit durch eine kurze Pointe ein bisschen aufzulockern.
Ein bemerkenswertes Gespräch
Und damit das hier nicht zu kurz kommt: Ich habe an dem Abend nicht nur von Fatih Çevikkollu einiges gelernt, sondern auch von Aslı Sevindim, die das Gespräch auf der Bühne mit so viel Feingefühl und Platz für Gedanken und Gefühle moderiert hat, dass ich mir das unbedingt für meine Arbeit abgucken möchte. Nicht sofort auf alles eine Antwort haben. Die eigene Geschichte nicht zum Thema machen und den Raum offen halten für die Geschichte des Gegenübers. Sich Zeit lassen für Fragen. Kein Moment des Schweigens war überflüssig oder unangenehm. Ich halte das für eine große Kunst.

Aber zurück zur Kartonwand und Fatih Çevikkollus Geschichte: Er erzählt darin von seinem Aufwachsen zwischen Deutschland und der Türkei. Von einer Mutter, die ihre Kinder in die Heimat schickt, um in Deutschland arbeiten zu können. Einer Mutter, die als Grundschullehrerin kommt - und in Deutschland nur als Näherin einen Job bekommt. Und die irgendwann beginnt, psychische Auffälligkeiten zu entwickeln, die so stark sind, dass sie nicht mehr gesellschaftsfähig ist.
Es ist auch die Geschichte eines Vaters, der viel arbeitet und in dessen Leben wenig Platz ist, eine emotionale Bindung zu seinen Kindern aufzubauen. Der mitunter kalt und unbarmherzig ist. Die Geschichte einer Familie, die in Deutschland nie richtig heimisch wird, weil das am Ende auch gar nicht vorgesehen ist.
Aber es ist auch die Geschichte eines kölschen Jungen, der im Stadtteil Nippes aufwächst und versucht, das Beste zu machen aus einer Welt in der es nie die Sicherheit gibt zu bleiben. In der die Kartons immer präsent sind, in denen all die Sachen lagern, die in der Heimat so viel besser genutzt werden können als in diesem kalten Land, das die Menschen, die am Wirtschaftswunder mitgearbeitet haben, gar nicht haben will.
Was hat das mit mir zu tun?
Jetzt ist es kein Geheimnis, dass ich eine Kartoffel bin. Eine Biodeutsche. Eine, die zu der Mehrheitsgesellschaft gehört, die sich jahrzehntelang bemüht hat, Menschen wie die Familie Çevikollu auszugrenzen. Und trotzdem habe ich während der Lesung und der Gespräche zwischen den Buchauszügen viel genickt. Habe mich - und ich hoffe, das klingt nicht zu übergriffig - einfühlen können in die Welt aus der Fatih Çevikkollu erzählt. Weil es eben eine Familiengeschichte ist. Und weil ich Teile dieser Familienbezüge aus meiner Geschichte dann eben doch kenne.
Und deswegen glaube ich, ist dieses Buch nicht nur eins, das eine Diskussion anstoßen kann darüber, was es mit Menschen macht, die als Arbeitskräfte in den 60ern und 70ern in ein postnationalsozialistisches Deutschland gekommen sind. Nicht nur eins, mit dem sich vor allem Menschen mit internationaler Geschichte gesehen und verstanden fühlen. Erklärungen finden für transgenerationale Familientraumata.
Weil Fatih Çevikkollu so schonungslos offen über seine Familie, die psychische Krankheit seiner Mutter und seine Suche nach Bindung und Verbindung schreibt und spricht, ist dieses Buch eins, das gerade das anbietet: Eine Verbindung. Über das Persönliche und das Menschliche. Über Gefühle von Wut und Trauer.
Ich wünsche Fatih Çevikkollu, dass sein Wunsch in Erfüllung geht, dass dieses Buch eine Debatte anstößt auf ganz vielen Ebenen. Ich wünsche es uns allen. Weil diese Debatten uns am Ende näher zusammenbringen können, wenn wir bereit sind, sie offen und empathisch zu führen. Und Raum zu lassen für die damit verbundenen Gefühle von Wut, Trauer und Enttäuschung. Sie gehören dazu, zu einer vielfältigen Erinnerungskultur, deren Geschichte nach 1945 eben nicht einfach abgeschlossen ist.
Linktipps:
• Weitere Lesungstermine (Öffnet in neuem Fenster) auf der Verlagsseite des Kiwi-Verlags
• Buchbesprechung in der ARD-Sendung “Westart” (Öffnet in neuem Fenster)
• “Die Arbeitsmigration reißt Wunden (Öffnet in neuem Fenster)” - “Interview” Podcast vom 17. August 2023, DLF Kultur
• “#UnterAlmans - migrantische Geschichte (Öffnet in neuem Fenster)” - ARD Mediathek
Dieser Post erschien erstmalig am 20. August 2023 auf Substack