Zum Hauptinhalt springen

Das Gefühl, das niemand haben möchte

Ariadne wird seit einiger Zeit von Neidgefühlen gegenüber ihrer Schwester geplagt, die, wie sie glaubt, mehr Unterstützung im Alltag erfährt als sie. Ist Neid erlaubt - und was kann sie tun, um mit dem nagenden Gefühl umzugehen?

Dear Daniel,

seit einiger Zeit schleicht sich bei mir ein Gefühl des Neids gegenüber meiner Schwester ein. Unsere äußeren Umstände sehen zunächst ähnlich aus: Wir haben beide ein Haus, Kinder und wohnen seit unserem Umzug auch relativ nah beieinander. Vorher habe ich das Gefühl von Missgunst nicht empfunden, da ich den Alltag meiner Schwester nicht so detailliert miterlebt habe. Mein Partner und ich sind momentan beruflich sehr überlastet. Die Kinder sind sehr oft krank und wir kämpfen darum, deshalb nicht auf der Arbeit ausfallen zu müssen und machen teilweise Nachtschichten, um das zu kompensieren. Unsere Familien können aufgrund persönlicher Umstände nur manchmal und für ein paar Stunden aushelfen.

Bei meiner Schwester ist die Situation ganz anders: sie hat regelmäßige Unterstützung von verschiedenen Parteien und kann sich sogar Auszeiten wie Saunabesuche und Konzerte gönnen. Kaum gibt es bei ihr einen kleinen zeitlichen Engpass, hat sie gleich Hilfe an der Hand. An manchen Tagen, wenn wir mit einem "wir-sind-schlechte-Vorbilder"-Gewissen Tiefkühlpizza auf den Tisch stellen müssen, bekommt meine Schwester es mit Leichtigkeit hin, perfekt geschminkt ein gesundes Essen zu servieren, nachdem sie nach ihrer Sporteinheit frisch geduscht in der Küche erscheint. Warum schafft sie das? Weil ihr drei bis viermal die Woche jemand die Kinder abnimmt und manchmal, ganz nebenbei, auch fertig gekochtes Essen mitbringt, was sich alle nur noch schmecken lassen müssen.

Auch meine Schwester klagt über einen sehr stressigen Alltag. Momentan führt das dazu, dass ich sie nicht mehr fragen mag, ob wir zusammen Kaffee trinken. Ich kann es mir nicht mehr anhören, wie gestresst sie (trotz all dieser Hilfe) doch ist. Auch über andere Dinge mag ich mich nicht mit ihr austauschen, weil sich eine Art „Grundwut“ angesammelt hat, die jede Leichtigkeit von Grund auf blockiert.

Meine Wut und mitschwingende Enttäuschung wird von einem weiteren Aspekt verstärkt: Unsere Mutter ist für mich die momentan einzige Hilfe in Notlagen, hat aber leider nur sehr begrenzt Zeit und verteilt diese dann „gerecht“ auf uns beide und unsere Kinder auf. Für mich bedeutet das, dass sie zu uns als meine einzige Hilfe kommt, doch für meine Schwester ist sie eine von vielen Personen, die sie unterstützen. Ich habe unsere Mutter darauf angesprochen, ob sie uns nicht ein wenig mehr unterstützen kann, da wir sonst die Kinder nicht anderweitig abgeben können, meine Schwester aber schon. Sie äußert sich nicht direkt dazu, vermeidet die ihr unangenehme Frage und verteilt ihre Zeit weiterhin „gerecht“ auf.

Ich schäme mich dafür, all das meiner Schwester gegenüber zu empfinden. Ich sollte mich wahrscheinlich für sie freuen, dass wenigstens sie in ihrem „stressigen“ Alltag Hilfe erfährt. Habe aber das Gefühl, dass nur eine von uns diese Hilfe wirklich braucht: Ich. Ist Neid gegenüber den Geschwistern erlaubt? Was kann ich tun, um die Situation in anderem Licht zu betrachten?

Liebe Grüße, Ariadne

Liebe Ariadne,

danke für deinen Brief. Es tut mir so leid, dass du dich in dieser Situation befindest. Was du durchmachst, ist sehr schmerzhaft. Umso wunderbarer finde ich, dass du die für solche Situationen einzige richtige Frage stellst: Wie lässt sich die Gemengelage anders betrachten und verstehen? Denn offensichtlich tut dir deine Sicht auf die Dinge nicht gut, sondern macht alles nur noch schlimmer – die Beziehungen zu deiner Schwester und deiner Mutter und dein Gefühl für dich und dein Leben.

Um es gleich am Anfang klarzustellen: Neid ist nicht nur erlaubt, sondern ein wichtiges Gefühl. Bitte schäm dich nicht dafür, auch wenn das einfacher gesagt als getan ist. Alle Gefühle, ob gute oder schlechte, müssen erfahren, durchlebt und bearbeitet werden. Alle Gefühle erfüllen wichtige Funktionen in unserer inneren Ökologie. Natürlich würde man viel lieber nur positive Gefühle erfahren, doch die meisten positiven Gefühle sind ohne ihre negativen Pendants nicht zu haben. Alle Menschen empfinden Neid, niemand von uns ist davor gewappnet. Dennoch ist Neid eines der Gefühle, die wir am stärksten verdrängen, weil wir uns selbst nicht als neidische Personen sehen wollen. Wir wissen aus Erfahrung, wie hässlich Neidgefühle andere Menschen machen können, wie bedürftig und auch wie ungerecht, und wir wollen uns nicht in diesem Licht sehen – auch wenn wir unsere Lage genauso empfinden.

Neid ist eines der Gefühle, die wir am stärksten verdrängen, weil wir uns selbst nicht als neidische Personen sehen wollen. Wir wissen aus Erfahrung, wie hässlich Neidgefühle andere Menschen machen können, wie bedürftig und auch wie ungerecht, und wir wollen uns nicht in diesem Licht sehen – auch wenn wir unsere Lage genauso empfinden.

Ich selbst kenne Neidgefühle auch sehr gut, zum Beispiel gegenüber Menschen, die aus großem Wohlstand kommen, und in Phasen, in denen es beruflich nicht gut läuft, auch gegenüber Kolleg*innen, die mehr Erfolg haben als ich. Ich merke auch, wie sehr ich nicht wahrhaben möchte, dass ich diesen Neid empfinde. Doch das Verdrängen von Neidgefühlen ist mit ihr größtes Problem: Denn wenn wir sie nicht anerkennen, gehen sie auch nicht weg und treiben weiter in unserem Un- und Halbbewussten ihr Unwesen. Je stärker wir sie verdrängen, desto größer werden sie. Erst, wenn wir uns selbst als manchmal neidische Personen akzeptieren, wenn wir uns also unseren Neid eingestehen, ihn erfühlen, durchleben, durchdenken und bearbeiten, können wir von ihm loskommen.

Wenn du nach anderen Sichtweisen auf deine Situation fragst, legt das nahe, dass du diesen ersten – und schwersten – Schritt schon getan hast. Ich finde, darauf solltest du stolz sein. Und weil du nach jenen anderen Sichtweisen fragst, möchte ich dich auf eine Ebene der von dir beschriebenen Gemengelage hinweisen, vor der du vielleicht die Augen verschließt: Du gehst davon aus, dass dir etwas zusteht. Etwas, das deine Schwester ungerechterweise an deiner Stelle bekommt. Für mich klingt dein Brief ein wenig so, als würdest du deiner Schwester ein Spielzeug wegnehmen wollen und dabei davon ausgehen, es gehöre dir, einfach, weil es dir gefällt.

Diese in gewisser Hinsicht infantile Ebene deiner Neidgefühle ist kein Zufall, denn gerade unsere Beziehungen zu unseren Geschwistern zeichnen sich häufig durch eine gewisse Regressivität aus. Sie werden von zu vielen frühkindlichen und kindlichen Erfahrungen geprägt, von zu vielen Dynamiken untereinander und mit unseren Eltern, als dass wir unseren Geschwistern einfach als die erwachsene Person gegenübertreten könnten, die wir geworden sind. Doch genau das müssen wir, wenn wir eine gute Beziehung mit ihnen führen wollen. Weder sind sie die Kinder, die sie einmal waren, noch sind wir es.

Deine Beschreibung folgt einem klassischen Muster geschwisterlichen Neids: Ihr beide konkurriert um die Aufmerksamkeit und die Zuneigung eurer Mutter – und wahrscheinlich tut ihr das bewusst und unbewusst schon seit dem Kleinkindalter, was deinen Gefühlen der Missgunst vielleicht auch ihre Tiefe und Schärfe gibt.

Die Beschreibung deiner Neidgefühle folgt einem klassischen Muster geschwisterlichen Neids: Ihr beide konkurriert um die Aufmerksamkeit und die Zuneigung eurer Mutter – und wahrscheinlich tut ihr das bewusst und unbewusst schon seit dem Kleinkindalter, was deinen Gefühlen der Missgunst vielleicht auch ihre Tiefe und Schärfe gibt. Das Verhalten deiner Mutter hat dabei sicherlich auch eine große Rolle gespielt, doch inzwischen bemüht sie sich deiner Beschreibung nach, ihre Ressourcen zu gleichen Teilen auf euch beide aufzuteilen. Doch das genügt dir nicht, weil du glaubst, dass dir mehr Aufmerksamkeit als deiner Schwester zustehe, dass du ein Anrecht auf mehr Ressourcen hättest. Ich hoffe, du kannst sehen, dass dieser Glauben auf einer kindlichen Fehlannahme beruht. Deine Mutter ist nicht verpflichtet, dir oder deiner Schwester auszuhelfen. Ihr seid beide erwachsen, beide führt ihr euer eigenes Leben. Von ihr zu verlangen, dass sie dir öfter als deiner Schwester unter die Arme greift, weil du es deiner Meinung nach schwerer hast, stellt einen Anspruch an sie, den sie dauerhaft nicht erfüllen kann, muss oder sollte. Auch wenn es sich für dich falsch anfühlt, verhält sie sich wahrscheinlich richtig.

Du schreibst nicht, warum du, dein Mann und deine Kinder in die Gegend gezogen oder zurückgekehrt seid, in der deine Schwester und deine Mutter leben. Es ist anzunehmen, dass bei deiner Entscheidung auch die Überlegung eine Rolle gespielt hat, ihr könntet die Form der Unterstützung erfahren, die du im Leben deiner Schwester beobachtest. Ich kann nachvollziehen, wie groß die Enttäuschung sein muss, dass das sich diese Hoffnung nicht erfüllt hat. Aber ich muss dir auch sagen, dass niemand ein „Anrecht“ auf diese Art von Unterstützung hat und dass es Zeit braucht, um Beziehungen zu Menschen aufzubauen, die eine solche Hilfe nach sich ziehen. Es klingt so, als würde deine Schwester schon lange in der Gegend leben und als hätte sie sich ein soziales Netz aufgebaut, das du aufgrund deiner späteren Ankunft (oder Rückkehr) schlicht noch nicht aufbauen konntest.

Du möchtest die Seite deiner Schwester nicht sehen, um dein Gefühl der Ungerechtigkeit aufrechterhalten zu können. Du möchtest sie nicht als komplexe Person anerkennen, die in anderen Bereichen ihres Lebens sicherlich auch mit großen Herausforderungen zu kämpfen hat, damit du weiterhin fühlen kannst, dass du es einfacher haben solltest.

Vielleicht fällt es deiner Schwester auch einfacher als dir, nach Hilfe zu fragen oder Unterstützung anzunehmen. Vielleicht gehört sie zu den Menschen, die die beneidenswerte Fähigkeit haben, sich das zu nehmen, was sie brauchen. Vielleicht haben sie und ihr Mann auch weniger herausfordernde Jobs als du und dein Mann. Dein Brief klingt in jedem Fall ein wenig so, als glaubtest du, sie habe es in ihrem Leben ohnehin etwas „einfacher“ und als läge darin die eigentliche, die größte Ungerechtigkeit. Vielleicht liege ich bei dieser Vermutung auch falsch. Doch mit großer Wahrscheinlichkeit erliegst du einer typischen Wahrnehmungsfalle. Du vergleichst dein Inneres mit dem Äußeren deiner Schwester, oder damit, wie du sie wahrnimmst. Du weißt nicht, wie es bei deiner Schwester innerlich aussieht und deine Wahrnehmung der angeblichen Ungerechtigkeit ist so groß, dass du dich dafür auch nicht interessierst. Selbst wenn deine Schwester dir sagt, es gehe ihr nicht gut und sie leide auch unter Stress, nimmst du es nicht ernst, weil sich ihr Leben deiner Vorstellung nach nur zwischen Spa, Sport, Dusche und Schminkspiegel abspielen kann. Du möchtest ihre Seite nicht sehen, um dein Gefühl der Ungerechtigkeit aufrechterhalten zu können. Du möchtest sie nicht als komplexe Person anerkennen, die in anderen Bereichen ihres Lebens sicherlich auch mit großen Herausforderungen zu kämpfen hat, damit du weiterhin fühlen kannst, dass du es einfacher haben solltest.

Liebe Ariadne, die meisten der Paare, die ich kenne, müssen mit weniger Hilfe bei der Kinderbetreuung auskommen als gerecht ist. Häufig werden sie damit regelrecht alleingelassen. In den meisten Paaren ist die Verantwortung für die Kinderbetreuung immer noch ungleich zu Lasten der Frauen verteilt. Die meisten jungen Familien haben es schwer, einfach, weil das Heranziehen von Kindern schwer und herausfordernd ist, egal wie bereichernd und schön es sein kann. Dein Neid ist in vieler Hinsicht auch ein Ausdruck deiner Überforderung angesichts einer strukturellen Ungerechtigkeit des Systems, in dem wir leben.

Ich muss zugeben, dass ich an deiner Stelle genauso neidisch wäre wie du. Aus der Perspektive von jemandem, dem es immer wieder schwer fällt, nach Hilfe und Unterstützung zu fragen, möchte versuchen, dir ein paar konkrete Vorschläge zu machen, die dir vielleicht beim Durchleben deiner Neidgefühle helfen könnten.

Ich muss zugeben, dass ich an deiner Stelle genauso neidisch wäre wie du. Aus der Perspektive von jemandem, dem es immer wieder schwer fällt, nach Hilfe und Unterstützung zu fragen, möchte versuchen, dir ein paar konkrete Vorschläge zu machen, die dir beim Durchleben deiner Neidgefühle helfen könnten: Anstatt deine Schwierigkeiten in einer Art Umkehr auf deine Schwester zu projizieren, könntest du mehr Menschen um Hilfe fragen. Du könntest deinen Mann bitten, weniger zu arbeiten und mehr auszuhelfen. Ihr könntet beide überlegen, ob das Leben, das ihr euch aufgebaut habt, zurzeit wirklich tragfähig ist, und ob es möglich wäre, sich wirtschaftlich so zu beschränken, dass ihr zumindest temporär etwas weniger arbeiten müsst. Du könntest versuchen, mehr Dankbarkeit für all die Geschenke zu kultivieren, die dein Leben dir gegeben hat: Eine Familie, wunderbare Kinder, ein Haus, die Fähigkeit, einer Beschäftigung nachzugehen, die dich ausfüllt. Du könntest deine Schwester, so unsympathisch und so ungerecht vom Glück verfolgt sie auch sein mag, in jedem Fall ihr eigenes Leben leben lassen. Und vielleicht könntest du dir selbst auch ab und zu mal eine gezielte Auszeit nehmen, indem du die Kinder mal einen Abend bei ihrer allzu glücklichen Tante ablädst und selbst ins Konzert gehst, egal, wie absurd diese Idee gerade für dich klingen mag.

Ich wünsche dir alles Gute für deinen Weg, liebe Ariadne. Bitte schäm dich nicht für deinen verständlichen Neid, sondern versuch, ihn als Anregung für Veränderungen in deinem Leben und deiner Sicht aufs Leben zu benutzen. Auch wenn das eine schwere Aufgabe ist – ich bin mir sicher, dass du sie irgendwie meistern wirst.

Alles Liebe,

Daniel

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Dear Daniel und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden