Mit der Familie brechen?
Die Planung der Weihnachtsbesuche steht an – und Corinna fragt sich, ob sie sich von ihrer erweiterten Familie lösen muss
Lieber Daniel,
ich möchte dir Folgendes erzählen: Ich bin Tochter einer nicht geliebten Mutter und Enkeltochter nicht liebender Großeltern. Soweit ich mich zurückerinnern kann, haben meine Großeltern ihre anderen Enkelkinder bevorzugt. Und auch meine Tante wurde meiner Mutter vorgezogen. Ich wurde immer als letzte umarmt, habe weniger Geschenke bekommen, wurde im Gegensatz zu den anderen Enkelkindern nicht mit in den Urlaub genommen, war gefühlt nie erwünscht. Und tatsächlich war ich nicht erwünscht – nach den Erzählungen meines Papas waren die Worte meiner Großeltern bei der Verkündung der Schwangerschaft mit mir: „Ein zweites Kind könnt ihr euch nicht leisten, das könnt ihr doch ihrer Schwester nicht antun“.
Meine Eltern, insbesondere meine Mutter, haben meines Erachtens schon damals den Warnschuss nicht hören wollen. Es wurde lange so getan, als wären diese familiären Beziehungen normal. Dass ich anders als meine Schwester und meine Cousinen behandelt wurde, wurde ignoriert. Mit 14 hatte ich es satt, mich nicht geliebt zu fühlen. Ich dachte so lange und manchmal auch heute noch, dass der Fehler für die fehlende Liebe meiner Großeltern bei mir liegt. Aus Wut zerstörte ich in einer verzweifelten Nacht mit Absicht einige ihrer Gegenstände. Danach brach ich den Kontakt ab.
Der Schreckschuss kam an. Meine Eltern hörten mir zu, stärkten mir den Rücken und zum ersten Mal spross wie ein kleiner Setzling die Kommunikation in unseren dysfunktionalen Familienstrukturen. Nur meine Großeltern wollten nichts hören. Aus ihrer Sicht bin ich diejenige, die den Verstand verloren hat und die Familie zerstörte. Sie sprechen in Gegenwart von anderen schlecht über mich und haben mich als Enkelkind aus ihrem Leben radiert. Da auch ich sie aus meinem Leben radierte, nehme ich ihnen das nicht übel.
Übel nehme ich ihnen, dass sie jegliche Kommunikation über die verletzenden Situationen verweigern und mich als verrückt deklarieren. Und übel nehme ich es meiner Tante und meinen Cousinen und in manchen Punkten auch meiner Mutter, dass sie das alles hinnehmen. An sich habe ich eine wundervolle Beziehung zu meiner Tante, mit ihr kann ich zum Teil über diese Familiendynamik reden. Aber meine Cousinen verweigern auch jedes Gespräch darüber, dass uns unsere Großeltern ungleich behandelt haben. Und das verletzt und nervt mich. Aber meine Familie ist klein. Ich habe außer meinen Eltern, meiner Schwester und meiner Tante und Cousinen keine weitere Familie. Manchmal würde ich am liebsten auch mit meinen Cousinen brechen. Ich habe keine Lust mehr zweimal im Jahr so zu tun, als wäre alles ok in dieser Familie. Wie zur Hölle gehe ich damit um, wenn so konsequent gewaltvolle Momente verschwiegen werden? Ich weiß um so viel Gewalt in dieser Familie und nicht nur mich betreffend. Ich weiß um körperliche Gewalt und psychische Gewalt gegen meine Mutter und meine Tante. Wie finde ich einen Umgang damit? Wie halte ich diese Spannungsfelder aus, dass ein Teil dieser Familie das gepflegt ignoriert? Wie halte ich den Wunsch nach Familie und gleichzeitig den Wunsch aus, mit einem Teil meiner Familie weiter zu brechen, aus? Wie pflegt man diese Brüche in der Seele?
Liebe Grüße, Corinna
Liebe Corinna,
danke für deinen Brief, der mich sehr beschäftigt. Ich wünschte, ich könnte dir einen konkreten Ratschlag geben, aber das kann ich natürlich nicht. Nicht nur, weil in dieser Situation, deinem Brief nach zu urteilen, in jedem Fall psychotherapeutische Interventionen gefragt sind. Sondern auch, weil darin zu viele Themen aufscheinen, über die man sprechen und sich austauschen müsste, um ein genaueres Bild von deiner Lage zu bekommen. Aber ich würde dir gerne ein paar Vorschläge machen, wie dem Schmerz, der mit dieser Gemengelage verbunden ist, begegnen könntest – einem Schmerz, den du meinem Gefühl nach als erstes konfrontieren solltest.
Du befindest dich offensichtlich in einem schon lange anhaltenden Abnabelungsprozess von deiner Familie befindest – ein Abnabelungsprozess, für den es gute Gründe gibt. Und es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass dieses Thema gerade hochkommt, da die familiären Weihnachtsbesuche in den Fokus rücken. Es spricht vieles dafür, dass du die „Brüche in deiner Seele“ ernsthaft angehen solltest und deine Beziehung zu den Teilen deiner Familie, die deine traumatischen Erfahrungen immer wieder aktualisieren, erst einmal pausierst. Das muss nicht gleich ein groß angekündigter konsequenter Bruch sein, sondern eher eine Art, dir eine Zeitlang etwas Luft zu verschaffen.
Du möchtest etwas von deiner erweiterten Familie, das sie dir schlicht nicht zu geben imstande ist. Um ein vielleicht klein wenig abgedroschenes Bild zu bemühen: Du stehst in einem Baumarkt und hörst nicht auf, nach dem Obstregal zu suchen, weil du Äpfel brauchst.
Die Erfahrung, in Familien weniger als andere Geschwister oder Verwandte geliebt zu werden, ist ein Trauma, das Menschen ein Leben lang begleitet. Zum einen gibt es für die Kinder, die diese Erfahrung machen, kaum eine Möglichkeit, sie zu verstehen. Zum anderen geht sie generell mit einer Verneinung der Realität der Kinder einher, denen in solchen Situationen meistens gesagt wird, dass ihre Wahrnehmung fehlender oder ungerecht verteilter Liebe falsch ist. Die einzige Möglichkeit für die betroffenen Kinder, all das zu integrieren, besteht oft darin, die Verantwortung für das Nicht-Geliebt-Werden auf sich selbst zu nehmen und sich als Menschen zu sehen, die diese Erfahrung gewissermaßen „verdienen“. Das geht manchmal sogar so weit, dass sie den Personen, von denen sie geliebt werden möchten, im Nachhinein Gründe dafür liefern, das nicht zu tun – so wie du es mit der Zerstörung des Eigentums deiner Großeltern beschreibst.
Es ist so gut wie unmöglich, als erwachsener Mensch einen Weg zu finden, eine „Entschuldigung“ für dieses Verhalten zu erhalten, Dinge „rückgängig“ zu machen oder die Menschen, die dich als Kind nicht geliebt haben, dazu zu bringen, dich doch zu lieben. Vieles an deinem Brief deutet darauf hin, dass du genau das allerdings versucht – wahrscheinlich ohne, dass es dir bewusst ist. Dir scheint sehr klar zu sein, dass die fehlende Liebe deiner Großeltern viel mit ihrer fehlenden Liebe für deine Mutter zu tun hat, dass du sie praktisch bei Geburt übertragen bekamst. Dennoch verhältst du dich so, als wäre dieses Wissen noch nicht richtig in dir angekommen. Du kannst ein System, das dich so verletzt hat, nicht in ein System umwandeln, dass dich plötzlich akzeptiert und liebt. Dafür müsste sich das ganze System von Grund auf verändern und du solltest es nicht als deine Aufgabe sehen, diese Veränderung aus dem Boden zu stampfen. Deine Aufgabe sollte es sein, Menschen zu finden, die dich lieben, und ein neues System in deinem Leben zu bauen, in dem du akzeptiert und geliebt wirst.
Wenn du deine Situation ändern möchtest, könntest du erst einmal lernen, in einem Obst- und Gemüseladen oder einem Supermarkt nach den Äpfeln zu suchen. Im zweiten Schritt könntest du schauen, was es in einem Baumarkt sonst noch so gibt, wenn du dich dort wiederfindest – vielleicht kannst du manchmal ja auch mit dem Microfasertuchpaket und den Blumenzwiebeln aus dem Kassenbereich etwas anfangen.
Mit einiger Sicherheit wirst du in deinem Leben nie eine gute Beziehung zu deinen Großeltern haben. Auch mit deinen Cousinen dürfte das schwierig werden. Und der springende Punkt ist der, dass du es auch nicht musst. Selbst wenn sie über Nacht wie magisch zu anderen Menschen würden und begännen, dich zu lieben, würde das nichts daran ändern, wie du dich im Inneren fühlst. Ich würde mir für dich wünschen, dass es dir gelänge, damit aufzuhören, sie dazu zu bringen wollen, deinen Standpunkt zu verstehen und dich gern zu haben. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind sie dazu schlicht nicht in der Lage, wer weiß warum. Vielleicht sind sie einfach keine besonders guten Menschen, vielleicht haben sie selbst bestimmte traumatische Erfahrungen gemacht. In jedem Fall möchtest du etwas von ihnen, das sie dir nicht geben können. Um ein vielleicht klein wenig abgedroschenes Bild zu bemühen: Du stehst in einem Baumarkt und hörst nicht auf, nach dem Obstregal zu suchen, weil du Äpfel brauchst.
Wenn du deinen Anteil am problematischen familiären System, in dem du dich befindest, und damit auch deine Situation ändern möchtest, müsstest du erst einmal lernen, in einem Obst- und Gemüseladen oder einem Supermarkt nach den Äpfeln zu suchen. Im zweiten Schritt könntest du schauen, was es in einem Baumarkt sonst noch zu kaufen gibt, wenn du dich dort wiederfindest – vielleicht kannst du manchmal ja auch etwas mit dem Microfasertuchpaket und den Blumenzwiebeln aus dem Kassenbereich anfangen. Das heißt, wie schon gesagt, dass du mit deiner erweiterten Familie nicht gleich „brechen“ musst. Aber du musst sie auch nicht an Weihnachten oder zu sonstigen Anlässen sehen. Verbringe die Feiertage mit Menschen, die dich gernhaben. Und falls niemand von ihnen Zeit haben sollte, mach dir allein einen schönen Tag. Von solchen Tagen hat man eh immer zu wenig.
Es kann sein, dass unter anderem diese Scham dafür sorgt, dass du dich weiterhin im Baumarkt aufhältst. Und wie gesagt, du musst in einen gut geführten Obst- und Gemüseladen, am besten einen, in dem es eine große Auswahl von Äpfeln gibt.
In deinem Brief stechen zwei Szenen besonders für mich heraus: Zum einen deine vorsichtige Benennung körperlicher und psychischer Gewalterfahrungen. Und zum anderen die Beschreibung deines wütenden Verhaltens als 14-Jährige. Was die Gewalt betrifft: Das ist in jedem Fall etwas, mit dem du dich in psychotherapeutische Hände begeben solltest, selbst wenn du selbst nicht Opfer körperlicher Gewalt geworden bist. Dein Teenagerverhalten allerdings ist eine andere Frage: Ich kann mir gut vorstellen, dass du dich trotz aller Erklärungen dafür schämst. Deshalb würde ich dir vorschlagen, deinen Großeltern einen Brief zu schreiben, in dem du dich für diese Nacht entschuldigst, und dir zu überlegen, wie du die zerstörten Dinge ersetzen könntest. Nicht um ihr Verhalten zu rechtfertigen oder zu entschuldigen – in keinem Fall - sondern einfach um diesbezüglich mit dir selbst ins Reine zu kommen. Es kann sein, dass unter anderem diese Scham dafür sorgt, dass du dich weiterhin im Baumarkt aufhältst. Und wie gesagt, du musst in einen gut geführten Obst- und Gemüseladen, am besten einen, in dem es eine große Auswahl von Äpfeln gibt.
Ich wünsche dir von Herzen alles, alles Gute für diesen schweren Weg, liebe Corinna. Du bist nicht allein.
Liebe Grüße, Daniel