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Das passiert in deinem Gehirn, wenn du raus in die Natur gehst

Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: Warum dein Gehirn nicht überall gleich gut denken kann.

Ein Mann steht im Wald vor einer Holzhütte, über der Hütte leuchtet der Mond golden.

In der aktuellen Serie dreht sich alles um eine Erkenntnis: Denken findet nicht nur im Gehirn statt. Wer besser lernen, arbeiten und kommunizieren will, sollte wissen, wo noch.

Ich habe eine romantische Vorstellung: Wenn ich irgendwann mal ein Buch schreiben sollte, nehme ich mir ein paar Wochen frei, buche eine Hütte oder ein kleines Ferienhaus an der Nord- oder Ostsee und schreibe dort mit Blick auf das weite Meer Seite für Seite. Wenn ich nicht mehr weiterkomme und eine Schreibblockade habe, packe ich mich warm ein (in meiner Vorstellung ist es nie Sommer) und gehe am Strand spazieren, bis ich wieder klar denken kann.

Klingt gut, oder?

Ich weiß, dass es einige Autor:innen gibt, die tatsächlich so arbeiten. Und ich weiß, seit ich mich damit beschäftige, dass Denken nicht nur im Gehirn stattfindet, auch, warum diese Vorstellung nicht nur schön, sondern auch sehr hilfreich sein kann. Zeit in der Natur zu verbringen, baut Stress ab (Öffnet in neuem Fenster) und verbessert die Fähigkeiten, sich zu erinnern, aufmerksam (Öffnet in neuem Fenster) und konzentriert zu sein. Heute geht es darum, warum das so ist und was wir machen können, wenn wir die meiste Zeit unseres Tages in Innenräumen verbringen (und nein, einfach mehr herauszugehen ist nicht die einzige Antwort).

Wer in die Natur geht, erinnert sich besser

In der Kognitionswissenschaft wird das menschliche Gehirn häufig mit einem Computer verglichen. Der Vergleich hat aber einen offensichtlichen Schwachpunkt: Während ein Laptop auf gleich gut funktioniert, egal ob er im Büro oder im Park oder zu Hause benutzt wird, wird das Gehirn durch die Umgebung, in der es arbeitet, stark beeinflusst.

Ein Beispiel: Menschen, die kürzlich Zeit im Grünen verbracht haben, erkennen (Öffnet in neuem Fenster) beispielsweise mehr Fehler bei einer Korrekturarbeit und geben bei einem kognitiven Test schnellere und genauere Antworten als Menschen, die gerade einen Spaziergang in einer städtischen Umgebung gemacht haben. Auch das Arbeitsgedächtnis – unsere Fähigkeit, Informationen, die für die gerade zu lösende Aufgabe relevant sind, im Gedächtnis zu behalten – profitiert von der Zeit, die wir in einer natürlichen Umgebung verbringen.

Für eine Studie (Öffnet in neuem Fenster) von der University of Chicago ließen Forscher:innen die Teilnehmer:innen erst eine knappe Stunde entweder durch eine Art botanischen Garten laufen, oder aber durch belebte Straßen in der Stadt. Anschließend testeten sie das Arbeitsgedächtnis der Teilnehmer:innen. Diejenigen, die durch den botanischen Garten liefen, erzielten eine um 20 Prozent höhere Punktzahl. Das zeigt auch: Wenn wir spazieren gehen, ist es nicht nur die Bewegung, die sich auf unser Denken auswirken kann (darum ging es vor zwei Wochen) – wichtig ist auch, wo wir spazieren gehen.

Wer in die Natur geht, grübelt weniger

Gregory Bratman, Assistenzprofessor an der University of Washington, bat die Teilnehmer:innen in einer seiner Studien (Öffnet in neuem Fenster), sich einem Gehirnscan zu unterziehen und eine Messung des ruminativen Denkens durchzuführen. Als Rumination bezeichnen Psycholog:innen es, wenn wir wieder und wieder dieselben negativen Gedanken aufgreifen und wiederholen. In der Biologie bezeichnet der Begriff das Wiederkäuen bei Kühen. Ich würde sagen: Es geht ums Grübeln.

Die Teilnehmer:innen machten nach dem Scan einen 90-minütigen Spaziergang im Freien. Wieder spazierte die Hälfte der Teilnehmer:innen durch ein ruhiges, grünes Naturgebiet, die andere Hälfte ging an einer stark befahrenen Straße entlang.

Nach der Rückkehr ins Labor führten alle Teilnehmer:innen die Messung des ruminativen Denkens erneut durch, sie ließen ihre Gehirne ein zweites Mal scannen. Die Personen, die die 1,5 Stunden in der Natur verbracht hatten, waren weniger mit den negativen Aspekten ihres Lebens beschäftigt; außerdem war ein Bereich des Gehirns, der mit dem Grübeln in Verbindung gebracht wird (ein Teil des präfrontalen Kortex) weniger aktiv als vor dem Naturspaziergang. Bei den Personen, die entlang einer stark befahrenen Straße spazieren gegangen waren, veränderte sich im Vergleich zu vorher kaum etwas.

Warum tut die Natur unserem Gehirn gut?

Annie Murphy Paul schreibt in ihrem Buch The Extended Mind: „Im Laufe von Hunderttausenden von Jahren, in denen wir uns im Freien aufhielten, wurde der menschliche Organismus genau auf die Merkmale seiner grünen Umgebung abgestimmt, sodass unsere Sinne und unser Verstand auch heute noch in der Lage sind, die Besonderheiten der natürlichen Umgebung leicht und effizient zu verarbeiten. […] Keine derartige evolutionäre Anpassung hat uns auf die erst vor kurzem entstandene Welt vorbereitet, in der wir heute fast unsere gesamte Zeit verbringen: die gebaute Umwelt mit ihren scharfen Linien, unnachgiebigen Strukturen und unerbittlichen Bewegungen.“

Die Diskrepanz zwischen den Reizen, die wir Menschen seit Jahrhunderten kennen, und den Anblicken und Geräuschen, mit denen unsere Sinne heute meistens konfrontiert werden, habe zur Folge, dass unsere begrenzten geistigen Ressourcen erschöpft werden. „Wir sind erschöpft, müde und ablenkungsanfällig, einfach aufgrund der Stunden, die wir in einer Umgebung verbringen, für die wir biologisch schlecht ausgerüstet sind“, schreibt Murphy.

Können wir Wege finden, den Innenraum der Natur anzupassen?

Wenn Studie nach Studie zu dem Ergebnis kommt, dass Zeit in der Natur sich positiv auf unser Denken auswirkt, wäre die einfachste Lösung, wieder deutlich mehr Zeit draußen zu verbringen. Fair enough. Es gibt aber auch Menschen, die das nicht können. Zum Beispiel, weil sie im Krankenhaus liegen.

Eine Studie (Öffnet in neuem Fenster), durchgeführt in einem Krankenhaus in Philadelphia, untersuchte, ob es einen Unterschied macht, wenn Patient:innen von ihrem Zimmer aus draußen Bäume sehen konnten oder nicht. Ich liebe die Ergebnisse der Studie:

Patienten:innen, die in Zimmern mit Blick auf Bäume untergebracht waren, brauchten nachweisbar weniger Schmerzmittel, sie erlitten weniger Komplikationen und hatten tatsächlich einen kürzeren Krankenhausaufenthalt als Patient:innen, die in ihren Zimmern auf eine Backsteinmauer hinausblickten. Die Pflegekräfte machten sich auch viel weniger negative Notizen über den Gemütszustand der Patient:innen bei denjenigen, die einen Blick ins Grüne hatten. Weitere Forschungen von Ulrich und anderen Wissenschaftler:innen legen nahe, dass der Kontakt mit natürlichen Elementen dazu beiträgt, Schmerzen zu lindern und die Genesung zu beschleunigen.

Wenn ich also jemals wirklich ein Buch schreiben sollte – ich würde meine Vorstellung vom in der Natur arbeitenden Autoren in die Tat umsetzen. Nicht nur aus Romantik, sondern auch aus Vernunft.

Verbringt die ganze nächste Woche mit Blick auf einen 5.000 Quadratmeter großen Garten und erhofft sich wahre Meisterleistungen im Denken: Euer Bent 🫶🏻🧠

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