4 Arten von Bewegungen, die dir beim Denken helfen
Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: über Zahlenreihen, Theaterspielen und Metaphern.
In der aktuellen Serie dreht sich alles um eine Erkenntnis: Denken findet nicht nur im Gehirn statt. Wer besser lernen, arbeiten und kommunizieren will, sollte wissen, wo noch.
Ich habe Physikunterricht gehasst. Einmal aber machte unser Lehrer etwas, an das ich mich bis heute erinnere: Er diskutierte mit uns in der Klasse darüber, ob ein Fahrradfahrer mit einer gewissen Maximalgeschwindigkeit gegen einen Läufer (ebenfalls mit einer maximalen Geschwindigkeit) ein Rennen mit einer Distanz von 50 Metern gewinnen würde. Statt mit uns im Physikraum alle wichtigen Messgrößen zu berechnen und uns das Experiment auf dem Papier durchführen zu lassen, gingen wir raus auf einen nahegelegenen Parkplatz, ein Mitschüler musste sein Fahrrad mitnehmen, und führten das Experiment durch. Spektakulär! (Also im Vergleich zum Rumsitzen in der Schule.)
Heute weiß ich: Die Idee war gut. Es gab aber eine Schwachstelle. Eigentlich hätten wir alle unsere Fahrräder mitnehmen müssen. Wir hätten alle selbst das Experiment durchführen sollen.
Ich habe es letzte Woche schon beschrieben: Bewegungen und Lernen hängen eng miteinander zusammen. Heute geht es darum, welche Arten von Bewegung am besten beim Lernen helfen. Anne Murphy Paul hat in ihrem Buch “The Extended Mind” beschrieben, dass Forscher:innen zwischen vier Arten unterscheiden: kongruente Bewegungen, neuartige Bewegungen, selbstreferentielle Bewegungen und metaphorische Bewegungen.
1. Ab auf die überdimensionale Zahlenreihe!
Kongruente Bewegungen – das klingt etwas komplizierter, als es ist: Man drückt den Inhalt eines Gedankens in körperlicher Form aus. Aber nicht in irgendeine, sondern eine passgenaue. Ein Beispiel sind Zahlenreihen, die Kindern helfen sollen, Addition und Subtraktion zu lernen. Sie stehen dabei auf einer überdimensionalen Zahlenreihe und lösen die Aufgaben, indem sie die Reihe entweder entsprechend hoch oder runter gehen. Wie genau die Bewegung durchgeführt wird, ist dabei kongruent mit der mentalen Operation: Wer noch unsicher ist, kann einen Schritt nach dem anderen machen. Wer sicherer wird, kann auch direkt zur richtigen Zahl springen. Es gibt Studien, die zeigen: Schüler:innen, die auf diese Weise üben, sind später besser in Mathematik.
Den Körper in einer Weise zu bewegen, die mit dem Denken kongruent ist, hilft den Kindern dabei, den schwierigen Übergang vom Konkreten zum Abstrakten zu vollziehen. Oder mathematisch ausgedrückt: nicht mehr mit den Fingern zu zählen. Das ist nicht trivial. Wir können aber nicht unser ganzes Leben lang die Hände hervorholen, wenn wir etwas berechnen wollen.
2. Raus aus der Beobachterrolle
Wenn ich einen Basketball werfe, mache ich das automatisch. Ich habe das schon so oft gemacht, ich kann mir auch gerade jetzt, beim Schreiben, genau vorstellen, wie ich die Bewegung durchführe. Wie aber ist das bei Bewegungen, die wir noch nie gemacht haben? Nehmen wir Physikstudent:innen, die sich mit der Zentripetalkraft (da geht es um das Drehmoment) beschäftigen sollen. Sie haben Achsen weder selbst schon öfter mal gekippt, noch können sie sich das sonderlich gut vorstellen (dafür ist es zu abstrakt). Da helfen sogenannte neuartige Bewegungen.
Zwei Wissenschaftler:innen baten eine Gruppe von Student:innen deshalb, den Apparat in der Hand zu halten und selbst zu erfahren, wie es sich anfühlt, die Achse zu kippen; eine zweite Gruppe von Student:innen schaute einfach zu, während jemand anderes die Verwendung des Apparats demonstrierte. Genau wir wir damals, als unser Mitschüler mit seinem Fahrrad losfuhr.
Anschließend wurden die Mitglieder beider Gruppen auf ihr Verständnis des Konzepts des Drehmoments getestet. Die Forscher:innen fanden heraus, dass die Schüler:innen, die das Drehmoment am eigenen Leib erfahren hatten, bei der bessere Ergebnisse erzielten. Ihr besseres Verständnis zeigte sich vor allem bei den Antworten auf die schwierigsten theoretischen Fragen. Anne Murphy Paul schreibt: “Nur diejenigen, die sich physisch beteiligen, werden das tiefere, von innen kommende Verständnis erlangen, das sich aus der physischen Aktion ergibt.”
3. Werde zum Chromosom
Die dritte Art von Bewegungen, die uns beim Lernen und Denken helfen kann, ist die selbstbezogene Bewegung. Also: Bewegungen, bei denen unser Körper selbst die Rolle von der Sache einnimmt, die wir verstehen wollen. Zum Beispiel, in dem Schüler:innen einer Schulklasse nicht nur theoretisch über das Sonnensystem sprechen, sondern jedes Kind einen Planeten spielt und sich die Kinder so im Raum aufstellen, wie die Planeten im Sonnensystem liegen. Wie beim Theaterspielen, nur zum Lernen.
Joseph Chinnici von der Virginia Commonwealth University hat seine Schüler:innen zu Chromosomen werden lassen. Sie sollten die Zellteilung und Fortpflanzung von innen heraus verstehen, indem sie diese Prozesse mit ihrem eigenen Körper nachspielen. Nachdem er seinen Ansatz über mehrere Jahre hinweg verfeinert hatte, veröffentlichte Chinnici einen Bericht über seine Methode in der Zeitschrift The American Biology Teacher. Er beginnt mit der Verteilung von Baseballkappen und T-Shirts, auf denen jeweils ein Buchstabe für ein Gen steht: Großbuchstaben für dominante Gene, Kleinbuchstaben für rezessive Gene usw. Ihr ahnt das Ergebnis: Schüler:innen, die sich mit Rollenspielen zur Mitose und Meiose beschäftigten, hatten das Konzept besser verstanden.
4. Beweg deine Sprache – und dann dich
Zuletzt geht es darum, welche Kraft Sprachbilder haben, die in unserem Gehirn motorische Areale aktivieren. Unsere Sprache ist voll von Metaphern, die Bewegungen implizieren. Wenn man über Meinungen diskutiert, redet man über Standpunkte. Wenn zwei Menschen sich nicht mehr streiten, nähern sie sich an. Wenn ein Unternehmen nach einer Flaute wieder erfolgreich ist, bewegt es sich in die richtige Richtung. Oder: Ein Stein kommt ins Rollen. Wie Metaphern unser Denken beeinflusst, habe ich in dieser Ausgabe (Öffnet in neuem Fenster) schon einmal beschrieben.
Es kann uns aber auch beim Denken helfen, wenn wir diese Metaphern einfach mal in die Tat umsetzen und physisch nachspielen. Ein Beispiel: In einem Experiment der University of Wisconsin-Madison testeten Wissenschaftler:innen die Redewendung “Thinking outside the box”, indem sie Student:innen Aufgaben gaben, die einige tatsächlich innerhalb eines drei Meter großen Pappkartons erledigen mussten; andere durften dabei neben dem Karton sitzen (also: outside the box). Die Teilnehmer:innen, die im wahrsten Sinne des Wortes "außerhalb des Kartons" dachten, erstellten eine Liste mit kreativen Lösungen, die im Durchschnitt 20 Prozent länger war als die Liste derjenigen, die innerhalb des Kartons ein Brainstorming durchführten.
Schön, dass letzte Woche so viele das Jubiläums-Angebot genutzt haben und jetzt auch echte Brains (Öffnet in neuem Fenster) geworden sind! Bis zum nächsten Freitag! Euer Bent 🫶🏻🧠