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Warum können Giraffenbabys so viel mehr als Menschenbabys?

Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: darüber, wie sich ein Baby-Gehirn die Welt erschließt.

Kurz vorab: Es gibt etwas zu feiern! Das Leben des Brain ist für den Goldenen Blogger (Öffnet in neuem Fenster) nominiert. Das ist der älteste Internet-Preis Deutschlands. Er wird seit 2007 jährlich in mittlerweile 16 verschiedenen Kategorien vergeben. Aus 3.200 Vorschlägen gehört Das Leben des Brain jetzt zu den drei Nominierten in der Kategorie "Newsletter". Das ist nicht mal ein Jahr nach der ersten Ausgabe ziemlich geil und freut mich sehr! Im April kommt es zu einem Online-Voting. Ich sage euch natürlich Bescheid 😇

Habt ihr euch schon mal gefragt, warum viele Tiere direkt nach ihrer Geburt deutlich mehr können als Menschenbabys? Neulich bin ich über dieses Video (Öffnet in neuem Fenster) aus einem Zoo in Houston (USA) gestolpert. Es zeigt die Geburt einer Giraffe. Am Ende sagt die Stimme aus dem Off: "Sie brauchte zwar ein paar Versuche, aber nach gut einer Stunde konnte sie von alleine stehen." 

Nach einer Stunde! Wie erbärmlich menschliche Babys im Vergleich dazu sind. Hat jemand mal versucht, ein menschliches Baby nach einer Stunde hinzustellen (ich hoffe nicht)? Eben. In den ersten Monaten können Babys so gut wie gar nichts: schreien, rumgucken (aber nicht sonderlich weit), kacken, rumfuchteln. Das wars. 

Viele Tiere kommen aus dem Ei oder dem Mutterleib mit Gehirnen, die schon so weit entwickelt sind, dass sie ihren Körper kontrollieren können. Bis ein menschliches Gehirn die volle erwachsene Struktur und Verdrahtung hat, vergehen etwa 25 Jahre dauert. Na danke auch. 

Aber: Das Ganze muss seinen Sinn haben. Vielleicht wird man über diesen Sinn ewig spekulieren. Es gibt aber Hinweise. Darum geht es heute. 

Natur gegen Erziehung? Eher nicht. 

Lange beschränkten Wissenschaftler:innen die Debatte über das aufwachsende Gehirn auf zwei simple Gegenspieler: Natur vs. Erziehung. Also die Frage, wie viele unserer Eigenschaften schon in den Genen angelegt sind und wie viele durch unsere Umwelt entstehen. Mittlerweile werden diejenigen Forscher:innen lauter, die sagen: Diese Aufteilung ist sinnlos. Gene und Umwelt sind eng miteinander verbunden. Denn die Umwelt eines Neugeborenen hat durchaus Einfluss auf die Gene. Damit ist nicht nur die physische Umwelt gemeint, also das Sofa im Wohnzimmer und das Wetter draußen. Sondern auch das soziale Umfeld, also die Mutter, der Vater, der Onkel (Lieben Gruß an meine Nichten!). 

Alles, was um das Baby herum passiert, hat Auswirkungen auf sein Gehirn. Das Gehirn nimmt die Informationen auf und verarbeitet sie. Die Neuronen beginnen zu feuern. Manche tun das öfter gleichzeitig als andere, es bilden sich Verbindungen. Darüber habe ich schon mehrfach geschrieben (Öffnet in neuem Fenster): "Neurons that fire together, wire together." Das Fachwort dafür ist "Plastizität". Sie ist die Voraussetzung allen Lernens. 

Gleichzeitig gehen Verbindungen verloren, die wir nicht benutzen. Auch hier gibt es einen schönen Merksatz: "If you don´t use it, you lose it." Das ist mindestens genauso wichtig. Denn als Baby haben wir noch doppelt so viele Neuronen, als wir als Erwachsene brauchen. 

Warum ich Asiat:innen nicht gut unterscheiden kann

Das Tolle an beiden Vorgängen: Sie machen unser Gehirn komplexer. Verbindungen, die gebraucht werden, entstehen. Verbindungen, die nicht gebraucht werden, fallen weg. So kann sich das Baby-Gehirn nahezu perfekt auf die jeweilige Umwelt einstellen, in der es aufwächst. Welche Auswirkungen das hat, sehen wir jeden Tag. 

Ein Beispiel: Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich kann Asiat:innen schlecht auseinanderhalten. Bevor hier gleich jemand die Rassisten-Keule schwingt: Aus Sicht der Hirnforschung ist das überhaupt kein Wunder. Abgesehen davon: 

Als Baby habe ich gelernt, die Gesichter um mich herum zu erkennen. Erst war ich darin ziemlich schlecht. Nicht mal meine Mutter habe ich erkannt (im Gegensatz zu dem Geruch ihrer Muttermilch). Irgendwann habe ich gelernt, wie ein Gesicht aussieht und wurde immer besser darin, die Gesichter auch zu unterscheiden. Das Problem: Um mich herum lebten als Baby und Kind vor allem deutsche Kartoffeln. Diversität? Fehlanzeige. Mein Gehirn hat nicht gelernt, zum Beispiel die Feinheiten asiatischer Gesichter auseinander zu halten.  Warum? Weil das eine Funktion gewesen wäre, die für mein Gehirn unwichtig war. (Im Alter zwischen 6 und 9 Monaten wäre ich da wahrscheinlich noch besser drin gewesen (Öffnet in neuem Fenster).) 

Andersrum gilt das Gleiche übrigens auch für Asiat:innen, zum Beispiel in der Sprache. Deshalb müssen nicht-lustige Komiker auf deutschen Bühnen nur die "R"-Laute durch "L"-Laute ersetzten, um Asiat:innen nachzuahmen. Für asiatische Babys war es nicht wichtig, den Unterschied dieser Laute zu lernen, weil sie in ihrer Sprache keinen Sinnunterschied machen. 

Unsere Anpassungsfähigkeit ist ziemlich gefährlich

Die Auswirkungen davon, dass unser Gehirn sich so gut an seine Umwelt anpasst, können aber auch deutlich ernster sein und nicht nur Gesichter oder die Sprache betreffen. Denn eine Folge ist auch: Kinderarmut wirkt sich aufs Gehirn aus (Öffnet in neuem Fenster). Vernachlässigung wirkt sich aufs Gehirn aus. Ignoriert zu werden wirkt sich aufs Gehirn aus. 

Man könnte sagen: Das Feature der menschlichen Babys, im Vergleich zu anderen Tieren, ist ziemlich risikoreich, gefährlich. Warum also leisten wir es uns? Warum hat die Evolution uns in diese Situation gebracht? Wir müssen dadurch irgendeinen Vorteil haben. Die meiner Meinung nach beste Antwort auf diese Fragen liefert die Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman Barrett. 

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Kategorie Wie das Gehirn lernt

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