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Kann man Schmerzen wegdenken?

Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: Über einen Psychiater, der sich die Plastizität des Gehirns zu eigen gemacht hat.

Es war 1994. Der Amerikaner Michael Moskowitz fuhr mit seinen Töchtern Wasserski. Er raste auf einem aufblasbaren Schlauch (meistens haben sie die Form einer Banane) mit 40 Meilen pro Stunde (ca. 64 km/h) übers Wasser. In einer Kurve überschlug sich der Schlauch und mit ihm Moskowitz. Er schlug mit dem Kopf nach hinten gebeugt auf dem Wasser auf.

Du kannst es dir vorstellen: Das tat saumäßig weh. 

Aber nicht nur das. Das Problem war nicht, dass der Aufprall weh tat, sondern, dass die Schmerzen nicht weggingen – jahrelang. An vielen Tagen waren sie auf einer Skala von 0 bis 10 eine glatte 8. Oft waren sie so stark, dass er nicht arbeiten konnte. Sie beherrschten sein Leben wie kein anderer Schmerz je zuvor. Morphium und andere starke Schmerzmittel sowie alle bekannten Behandlungen wie physikalische Therapie, Traktion (Dehnung des Nackens), Massage, Selbsthypnose, Wärme, Eis, Ruhe, entzündungshemmende Medikamente – all das half ihm kaum. Der Schmerz verfolgte und quälte ihn 13 Jahre lang, und er wurden mit der Zeit nicht weniger, sondern schlimmer.

Was macht man in so einer Situation? Klar, einen Experten aufsuchen. Das Ding ist nur: Michael Moskowitz ist selbst so ein Experte. Vielleicht sogar der Experte schlechthin. Er hat sich als Psychiater auf die Behandlung von Schmerzen spezialisiert und behandelt jedes Jahr hunderte Patient:innen. 

Nachdem er seine Schmerzen jahrelang nicht losgeworden ist, hatte er eine Idee, die komplett absurd klingt: Vielleicht könnte er seine Schmerzen einfach wegdenken? Bevor du den Newsletter jetzt kopfschütteln schließt, weil Bent jetzt unter die Esoteriker gegangen ist – hier geht es nicht um Wunschdenken oder Magie, hier geht es um chronische Schmerzen, ein Gehirn, das falsche Vorhersagen macht und darum, wie man sein Gehirn umschreiben kann. Also: Hear me out! Wir fangen aber vorn an. Denn Moskowitz wollte sich etwas zu eigen machen, das hier im Newsletter schon öfter Thema war: Neuroplastizität. 

Neurons that fire together wire together

Neuroplastizität bezieht sich auf die Fähigkeit des Gehirns, seine Funktionsweise zu verändern. Was heute so selbstverständlich klingt, war es lange Zeit nicht. Heute weiß man: Wenn zum Beispiel ein Teil des Gehirns beschädigt ist, können andere Teile des Gehirns die verlorenen Funktionen übernehmen. Deshalb gibt es Menschen, die mit einem halben Gehirn leben, denen man das aber kaum anmerkt. Menschen, die einen Schlaganfall erlitten haben, können so ihre Funktionsfähigkeit wiedererlangen, indem sie ihr Gehirn körperlich und geistig dazu anregen, neue Verbindungen herzustellen. Im Laufe der Zeit können unbeschädigte Hirnbereiche lernen, die Funktionen der zerstörten Breiche zumindest bis zu einem gewissen Grad zu übernehmen.

Die Kernthese der Neuroplastizität lautet: Neurons that fire together wire together. Je öfter Nervenzellen zusammen aktiviert werden, desto stärker wird die Verbindung zwischen ihnen. Das kann man sich wie einen verschneiten Stadtpark im Winter vorstellen: Je öfter Menschen durch den Schnee vom Glühweinstand zur Toilette stapfen, desto eher entsteht ein richtiger Trampelpfad und irgendwann bereitet es den Gästen gar keine Schwierigkeiten mehr den Weg entlangzugehen. 

Neuroplastizität (Öffnet in neuem Fenster) sagt: Alles, was wir machen, verändert unser Gehirn. Alles, was wir denken, verändert unser Gehirn. Denn jedes Mal, wenn Signale über Synapsen von Nervenzelle zu Nervenzelle wandern, hinterlässt das Spuren. Diese Veränderungen nennen wir dann: lernen.

Aber auch das Gegenteil gehört zur Neuroplastizität. Nach dem Prinzip use-it-or-lose-it gehen Verbindungen zwischen Nervenzellen verloren, wenn sie nicht mehr zusammen aktiviert werden. Und genau dieses Prinzip wollte Michael Moskowitz, der Psychiater, sich zu eigen machen. Denn chronische Schmerzen und Neuroplastizität sind eng miteinander verbunden.

Was genau ist chronischer Schmerz?

Chronische Schmerzen sind deutlich komplexer als akuter Schmerz. Wenn wir uns zum Beispiel das Bein brechen und stechende Schmerzen haben, will das Gehirn uns nicht quälen, es will uns schützen (Öffnet in neuem Fenster). Das Gehirn will verhindern, dass wir unserem Körper noch weiter schaden. Würden wir die Schmerzen nicht spüren, würden wir auch mit einem gebrochenen Bein einfach weiterlaufen. Das ist natürlich Quatsch. Also sorgt es dafür, dass wir das nicht können: Wir haben Schmerzen.

Moskowitz selbst hat diese schützende Funktion von Schmerz am eigenen Leib erlebt. Als er sich seinen Oberschenkelknochen gebrochen hatte und er schmerzverzerrt auf dem Boden lag, konnte sein Gehirn den Schmerz einfach ausschalten. Wie? Indem er sich nicht mehr bewegte. Das Gehirn bestraft uns zwar, wenn wir im Begriff sind, etwas zu tun, das unseren bereits verletzten Körper weiter schädigen könnte. Es belohnt uns aber auch, wenn wir damit aufhören. Solange Moskowitz sich nicht bewegte, war er nicht in Gefahr, so weit sein Gehirn es erkennen konnte. 

Im Gegensatz zu akuten kurzfristigen Schmerzen enthalten chronische Schmerzen eine wichtige „erlernte“ Komponente. Und wieder einmal steckt etwas dahinter, das hier immer wieder Thema ist: Unser Gehirn sagt permanent die Zukunft voraus (um angemessen reagieren zu können). Genauso ist es bei Schmerz. Wenn das Gehirn glaubt, dass Maßnahmen ergriffen werden können, um den Schmerz zu lindern, wird unsere Schmerzwahrnehmung abnehmen, aber wenn das Gehirn glaubt, dass der Schmerz schlimmer werden wird, wird es unsere Schmerzwerte erheblich steigern.

Zum Problem wird es, wenn das Gehirn Schmerzen vorhersagt, obwohl der Körper gar nicht mehr verletzt ist. Genau deshalb hatte Moskowitz 13 Jahre lang Schmerzen im Nacken. Die Nervenzellen, die seinen Nacken repräsentieren, wurden so oft gemeinsam mit denjenigen Neuronen aktiviert, die Schmerzen in diesem Bereich signalisieren, dass die Verbindung immer stärker und stärker wurde. Sein Gehirn hat das Memo nicht erhalten: Obwohl der Körper geheilt war, feuerten die schmerzempfindlichen Nervenzellen weiter. In seinem Buch „The Brain´s Way of Healing“, wo ich zum ersten Mal von Michael Moskowitz gelesen habe, fasst der Autor Norman Dodge chronischen Schmerz so zusammen: „Es ist ein Fall von wild gewordener Neuroplastizität.“

Kann man Schmerzen wegdenken?

Im Jahr 2007 begann Michael Moskowitz alles zu lesen, was er zu Neurowissenschaft, Plastizität und chronischen Schmerzen finden konnte. Er wollte dem Schmerz endlich ein Ende bereiten. Und er machte drei Zeichnungen:

  • Zuerst ein Bild des Gehirns bei akutem Schmerz, bei dem sechzehn Bereiche aktiv sind. 

  • Das zweite Bild zeigte das Gehirn bei chronischen Schmerzen, auf dem dieselben Bereiche feuern, aber über einen größeren Bereich des Gehirns.

  • Und das dritte Bild zeigte das Gehirn, wenn es überhaupt keine Schmerzen registriert. 

Moskowitz lernte, dass das use-it-or-lose-it-Prinzip dazu führt, dass unsere Gehirnareale in einer Art Wettbewerb zueinander stehen. Wenn sie nicht benutzt werden, ändert sich ihre Funktion. Und er dachte sich: Was, wenn ich diesen Wettbewerb zu meinen Gunsten nutzen könnte?

Als er die Bereiche analysierte, die bei chronischen Schmerzen feuern, stellte er fest, dass viele dieser Areale auch Gedanken, Empfindungen, Bilder, Erinnerungen, Bewegungen, Emotionen und Überzeugungen verarbeiten – jedenfalls dann, wenn sie nicht gerade Schmerz verarbeiten. Diese Beobachtung erklärt, warum wir uns bei Schmerzen nicht konzentrieren können, warum wir sensorische Probleme haben und oft bestimmte Geräusche oder Licht nicht ertragen können. 

Er beschloss, dass sein Gehirn eine Gegenstimulation brauchte, wenn er Schmerzen empfand. Er würde seine Hirnareale dazu zwingen, genau in diesen Momenten alles andere als Schmerz zu verarbeiten, um seine chronischen Schmerz-Schaltkreise zu schwächen. 

Man kann

Moskowitz wusste: Wenn ein bestimmtes Gehirnareal akuten Schmerz verarbeitet, sind nur etwa 5 Prozent der Neuronen in diesem Areal der Schmerzverarbeitung gewidmet. Bei chronischen Schmerzen führt das ständige Feuern und Verdrahten zu einem Anstieg, sodass 15 bis 25 Prozent der Neuronen in diesem Gebiet nun für die Schmerzverarbeitung zuständig sind. Er müsste also 10 bis 20 Prozent „zurückstehlen“. Nur wie genau? 

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