Wie Lesen dein Gehirn verändert
Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: Sechs positive Auswirkungen, die Lesen auf dein Gehirn hat.
Vielleicht ist es dir schon aufgefallen: Dieser Newsletter startet fast immer mit einer kleinen Geschichte oder Anekdote. Das ist natürlich kein Zufall. Das Gehirn liebt, liebt, liebt Erzählungen. Sie machen unser Leben intensiver. Fritz Breithaupt erklärt in seinem Buch „Das narrative Gehirn“, was dahinter steckt, wie unsere Köpfe aufeinander abgestimmt sind und wie wir durch Narrationen in der Welt verankert sind. Hier gehts zum Buch. (Öffnet in neuem Fenster)
Seitdem ich angefangen, sehr viel zu lesen und gleichzeitig sehr wenig auf Social-Media und Netflix zumzuhängen, hat sich viel in meinem Leben verändert. Unter der Woche schaue ich abends keine Serien mehr und lege mein Handy weg. Stattdessen nehme ich ein Buch in die Hand und lese, meist zwei Stunden. Ich habe vor ein paar Monaten das Gaming aufgegeben, auch, um mehr Zeit zum lesen zu haben.
All das habe ich jahrelang nicht gemacht. Deshalb erlebe ich den Unterschied zu vorher bewusst und intensiv. Mit dem Lesen habe ich erneut eine Begeisterung für Sprache bekommen, die ich so nur aus meiner Kindheit kenne. Ich lerne jeden Tag neue Worte und Formulierungen kennen, erfreue mich an lustigen Sätzen und geil geschriebenen Dialogen. Lesen macht mir WIRKLICH Spaß!
Außerdem hat sich meine Fähigkeit, mich beim Arbeiten zu konzentrieren, gefühlt verzehnfacht. Ich kann mich deutlich länger auf eine Sache konzentrieren, auch, wenn um mich herum Menschen miteinander sprechen. Ich tauche ab, alles, was um mich herum geschieht, gerät von alleine in den Hintergrund. Das ist toll, denn deshalb setze ich seltener Kopfhörer auf, um mich abzukapseln.
Weil Schreiben mein Job als Journalist ist, bemerke ich auch, dass es mir im Vergleich zu vor einem halben Jahr wesentlich leichter fällt, schnell die richtigen Worte zu finden. Dazu kommt, dass ich in Gesprächen WIRKLICH präsent bin und in Gedanken kaum abschweife (das muss mir nicht vornehmen, das passiert einfach). Das heißt: Ich höre dir besser zu, wenn du mit mir sprichst. Und in Gesprächen mit mehreren Menschen kann ich allem besser folgen. Vor einem halben Jahr fühlte ich mich da oft verloren, verstand nur einen Teil des Gesagten.
Alles, was du bis hierhin gelesen hast, hat mir mein Krautreporter-Kollege Martin Gommel neulich so geschrieben. Und er hat mich etwas gefragt: „Wie kann das alles sein? Das Lesen hat mein Leben verändert!“
Heute antworte ich ihm mit dieser Ausgabe. Die Hirnforschung zeigt nämlich, dass Lesen nicht nur das Gehirn mit Informationen füllt. Lesen verändert auch die Arbeitsweise des Gehirns. Der Anthropologe Joseph Henrich, Autor des wirklich augenöffnenden Buches (Öffnet in neuem Fenster) „The Weirdest People in the World“, hat das in einem Artikel mal so zusammengefasst: „Marthin Luther Rewired Your Brain“.
Aber wie genau? Was passiert da eigentlich mit unserem Gehirn, wenn wir lesen? Ich habe sechs Auswirkungen gefunden, die du kennen solltest. Um sie geht es heute, im erste Teil einer kleinen Lese-Trilogie. Nächste Woche schauen wir uns an, wie man es schafft, auch in digitalen Zeiten konzentriert zu lesen. Und im dritten Teil wird es darum gehen, ob digitales Lesen Kindern schadet. Los geht’s!
1. Lesen verdrahtet das Gehirn neu
In einer Studie (Öffnet in neuem Fenster) der Emory University aus dem Jahr 2013 wurden die MRT-Aufnahmen von Teilnehmer:innen beim Lesen eines Buches gemacht. Die Wissenschaftler:innen fanden heraus: Je tiefer die Leser:innen in die Geschichte eintauchten, desto mehr Bereiche ihres Gehirns wurden aktiviert.
Überraschend war vor allem, dass diese Aktivität auch noch mehrere Tage nach dem Lesen des Buches anhielt. Je mehr man liest, desto stärker werden diese komplexen Teile des Netzwerkes miteinander verbunden.
Forschungen des Bostoner Kinderkrankenhauses haben gezeigt, dass Lesen das Gehirn neu verdrahtet. Es entstehen neue neuronale Netze und die weiße Substanz im Corpus Callosum wird gestärkt. Das ist der Teil des Gehirns, der die beiden Hemisphären miteinander verbindet. Außerdem wurde festgestellt, dass Lesen das visuelle und auditive Verständnis stärkt, insbesondere wenn man jemandem zuhört, der laut liest.
2. Lesen reduziert Stress
Dass ich irgendwie entspannter bin, wenn ich viel lese, kommt jetzt vielleicht nicht so überraschend daher – schließlich lese ich am allermeisten im Urlaub. Aber es scheint nicht nur der Urlaub zu sein, der meinen Stress reduziert. Laut einer Studie (Öffnet in neuem Fenster), die 2009 an der University of Sussex durchgeführt wurde, reduziert Lesen den Stresspegel um bis zu 68 Prozent. Laut der Studie verlangsamt sich schon nach sechs Minuten lesen dein Herzschlag, dein Blutdruck sinkt, deine Muskeln entspannen sich. Dabei macht es übrigens keinen Unterschied, welches Buch man liest.
Wenn du Kinder hast, hier noch eine gute Nachricht: 2020 ergab eine Studie (Öffnet in neuem Fenster), dass Eltern, die ihren Kindern im Alter von sechs bis achtzehn Monaten täglich vorgelesen haben, ein niedrigeres Stressniveau aufwiesen, außerdem reagierten sie sensibler auf die Bedürfnisse des Kindes. Das gemeinsame Lesen stärkte die emotionale Bindung zum Kind und das niedrigere Stresslevel wiederum machte sie geduldiger, toleranter und empathischer.
3. Lesen macht kreativ
Wenn wir lesen, ist ein Bereich im Gehirn besonders aktiv: der Okzipitallappen. Der ist wichtig für die Verarbeitung visueller Informationen und besonders aktiv, wenn wir Belletristik lesen. Wenn wir uns die Protagonist:innen und die Umgebungen, die der Autor oder die Autorin beschreibt, vorstellen, hilft uns das, das Gelesene zu verstehen.
Eine gemeinsame Studie (Öffnet in neuem Fenster) der Appalachian State University und der Angelo State University aus dem Jahr 2007 ergab, dass Studenten, die zum Vergnügen lasen, ein höheres Maß an Kreativität aufwiesen, ihre Professoren positiver wahrnahmen, lernfreudiger waren und ihre akademischen Ziele leichter erreichten. Eine weitere Studie aus dem Jahr 2009 ergab, dass Studenten, die zum Vergnügen lesen, eine deutlich höhere Korrelation mit ihrer Kreativität aufweisen als Studenten, die nicht lesen.
Gut zu wissen: Es besteht ein signifikanter Zusammenhang (Öffnet in neuem Fenster) zwischen der Zeit, die mit Lesen und Schreiben verbracht wird, und höheren Punktzahlen in Kreativitätstests, was die Rolle des Lesens bei der Förderung des kreativen Denkens unterstreicht.
Warum ist das so? Zunächst: Wie oben beschrieben, werden beim Lesen diverse verschiedene Hirnregionen aktiviert und miteinander verbunden. Diese neuen Verbindungen sind die Grundlage von buchstäblich neuen Gedanken. Die erste Phase vom kreativen Prozessen (um die es hier bald auch nochmal gehen wird) heißt nicht umsonst: Explore. Also: die Welt erkunden. Und wann erkundet man so viele unbekannte Welten wie beim Lesen? Eben.
4. Lesen verbessert das Gedächtnis
Lesen beansprucht das Gehirn permanent und verbessert so das Gedächtnis. Man trainiert das verbale Erinnerungsvermögen und man hält das Kurzzeitgedächtnis sowie das Langzeitgedächtnis aktiv. Lesen stärkt (Öffnet in neuem Fenster) auch das Arbeitsgedächtnis, also die Fähigkeit, Informationen im Gehirn zu speichern, während man an verschiedenen Aufgaben arbeitet. Beide Arten des Gedächtnisses lassen mit zunehmendem Alter nach. Studien haben aber gezeigt, dass sich bei älteren Personen, die acht Wochen lang täglich lasen, sowohl das episodische als auch das Arbeitsgedächtnis deutlich verbesserten.
Es gibt sogar Studien, die Lesen mit einem niedrigen Risiko in Verbindung bringen, an Demenz zu erkranken.
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