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Warum Menschen sich an Verbrechen erinnern, die sie nie begangen haben

Du liest Das Leben des Brain. Ich erkläre dir, was du über dein Gehirn wissen solltest. Heute: Warum deine Erinnerungen so oft verfälscht sind (auch, wenn du dir ganz, ganz sicher bist). 

Auch das Brain braucht mal eine Pause. In diesem Fall: meins. Oder eher: dieser Newsletter. Denn ich war gerade zwei Wochen mit 150 Kindern zwischen 7 und 16 Jahren im Sport-Zeltlager. Deshalb tauche ich erst jetzt wieder in deinem Postfach auf. Und deshalb kannst du diese Ausgabe auch dann komplett lesen, wenn du noch kein Mitglied bist. 🤝

In den letzten Ausgaben (Öffnet in neuem Fenster) ging es um unser Gedächtnis. Heute auch, aber nicht mehr um Grundlagen, sondern um Erschreckendes. Also wirklich. Denn die Hirnforschung zeigt: Der Großteil unserer Erinnerungen ist verfälscht. Das kann unschuldige Menschen sogar ins Gefängnis bringen. Fangen wir aber mit der Schilderung einer jungen Kanadierin an: 

„Was die ganze Sache ausgelöst hat war, dass sie mich eine Schlampe genannt hat. Dabei war ich noch Jungfrau! Ich glaube, wir sind ihr dann nachgelaufen und haben sie verspottet. Und ich bin stocksauer geworden. Es war kein riesiger Stein. Nee, war es nicht … aber ein Stein, der ordentlich groß war, ich habe ihn aufgehoben und ihr an den Kopf geworfen (...) Ich glaube, wir saßen beim Abendessen, und dann läutete es an der Tür, und meine Mutter ging hin und machte auf. Ich erinnere mich, dass meine Mutter rief, ich solle an die Tür kommen. Also bin ich hingegangen, und da standen zwei Polizisten.“

Das liest sich schrecklich. Die Kanadierin gesteht gerade ein Verbrechen, als würde ihr erst jetzt klar werden, dass sie es begangen hat. Sie nahm einen Stein, warf ihn einem Mädchen an den Kopf und landete später bei der Polizei.

Die Sache ist: Es gab keinen Stein. Es gab auch kein Mädchen, niemand nannte die Frau „Schlampe“, und die Frau hat auch niemandem einen Stein einer „ordentlichen Größe“ an den Kopf geworfen. Trotzdem ist sie davon überzeugt, denn sie hat mehrere Gespräche mit der deutsch-kanadischen Psychologin Julia Shaw (Öffnet in neuem Fenster) hinter sich. Shaw schreibt über sich selbst: „Ich bin eine Gedächtnis-Hackerin. Ich bringe Menschen dazu, Dinge zu glauben, die nie geschehen sind.“

Ja, auch dir könnte das passieren

Dank Shaw glauben Menschen, dass sie jemanden mit einem Messer angegriffen haben oder dass sie ein Hund gebissen hat. Sie pflanzt diese Ideen in Köpfe, indem sie die Schwächen unseres Gedächtnisses ausnutzt. Wenn du jetzt denkst: Das könnte mir nicht passieren, liegst du wahrscheinlich falsch. Denn 70 Prozent der Teilnehmer:innen ihrer Studien verfallen diesen fiktiven Erinnerungen.

Wir erinnern uns aber nicht nur an Dinge, die gar nicht passiert sind, wenn eine gewitzte Psychologin uns dazu bringt. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zeigen: Wir können unseren eigenen Erinnerungen nicht trauen. Das wirft sehr ungemütliche Fragen auf: Was macht uns aus, wenn nicht die Summe unserer Erinnerungen? Und können wir unsere Erinnerungen überhaupt infrage stellen, ohne an unserer Identität zu rütteln? Die Erklärung beginnt bei unserer Wahrnehmung. 

In einer früheren Ausgabe dieses Newsletters (Öffnet in neuem Fenster) habe ich schon am Beispiel von optischen Illusionen gezeigt: Wie wir die Außenwelt wahrnehmen, hat weniger mit unserer Außenwelt zu tun als damit, was in unserem Gehirn passiert. Falsche Erinnerungen entstehen demnach nicht nur, weil wir uns Jahre später falsch erinnern. Sondern auch, weil wir eine Situation von vorn herein falsch abgespeichert haben. 

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1995 haben die amerikanischen Psycholog:innen Henry L. Roediger und Kathleen B. McDermott den Teilnehmer:innen ihrer Studie (Öffnet in neuem Fenster) mehrere Listen mit Wörtern vorgelesen, die inhaltlich alle mit einem anderen Schlüsselwort zu tun hatten, das in der Liste selbst aber nicht auftauchte.

Hier sind zwei Beispiele:

Die Wörter „Schlaf“ und „Fluss“ tauchen in den Listen nicht auf – bei anschließenden Tests gaben die Teilnehmer:innen aber zu 40 Prozent (Experiment 1) beziehungsweise 55 Prozent (Experiment 2) an, diese Schlüsselwörter seien dabei gewesen.

Unser Gehirn aktiviert Wörter, die in den Listen nicht auftauchen, weil sie Teil eines größeren Netzwerks sind. Wenn diese Wörter erstmal aktiviert sind, ist unser Gehirn so stur wie Andi Scheuer, wenn er die Pkw-Maut verteidigt hat: Denn werden die Wörter im Experiment entweder von einer männlichen oder weiblichen Stimme vorgelesen, meinen die Teilnehmer:innen, sich nicht nur an die falschen Wörter zu erinnern, sondern auch daran, welche der beiden Stimmen sie vorgelesen hat. Sie sind sich da ganz, ganz sicher … 

Es geht um deine Identität 

Bei Erinnerungen geht es aber meistens um mehr als um ausgedachte Listen in irgendwelchen amerikanischen Laboren. Ich habe es oben schon geschrieben: Es geht um Identität. In der Neuropsychologie spricht man vom episodischen oder autobiografischen Gedächtnis, in dem alles gespeichert wird, das uns selbst betrifft – wie eine Seite im Freundebuch, oder wie unsere persönliche Facebook-Chronik. Nur schreiben wir oftmals Dinge in dieses Freundebuch, die gar nicht stimmen. Und das nicht ausnahmsweise, sondern regelmäßig.

Vielleicht hast du schon mal von Menschen gehört, die sich an Ereignisse aus ihrer frühesten Kindheit erinnern. Zum Beispiel an das rosa Mobile, das über ihrem Kinderbett hing, als sie ein Baby waren. Forscher:innen sprechen dann von „unmöglichen Erinnerung“. Unmöglich deshalb, weil die Gehirne von Babys noch gar nicht in der Lage sind, Langzeiterinnerungen zu bilden. Wenn dir also mal jemand besonders detailreich erzählt: „Ich erinnere mich noch genau an meinen dunkelblauen Kinderwagen“, kannst du ruhig antworten: „Nein, das tust du nicht.“

Nur böse musst du deshalb nicht gleich werden. Denn Menschen, die von diesen Erinnerungen erzählen, lügen dich wahrscheinlich nicht einfach stumpf an, sondern meinen, was sie sagen. Denn manche vermeintliche Erinnerungen setzen wir aus Informationsbruchstücken zusammen, und zwar so, dass sie sich echt anfühlen. Wenn wir ein Ereignis als sinnvoll begreifen wollen, uns aber Informationen (beziehungsweise Erinnerungen) fehlen, neigt unser Gehirn dazu, es unbewusst mit Füllmaterial anzureichern und so zu tun, als ob wir uns tatsächlich erinnerten.

Ein Grund: Wir verwechseln die Quellen einer Information. Wenn dir deine Mutter vom Kinderwagen erzählt oder du alte Bilder in einem Fotoalbum siehst, aber das anschließend vergisst, sucht dein Gehirn nach einer plausiblen Quelle. Es sagt sich: „Na gut, dann werde ich das wohl selbst erlebt haben.“

Dieses Prinzip macht sich auch Gedächtnis-Hackerin Julia Shaw zu eigen. In acht Schritten macht sie aus harmlosen Teilnehmer:innen Menschen, die ihr detailliert von Verbrechen erzählen, die sie nie begangen haben. Welche acht Schritte das sind, erfahrt ihr nächste Woche in Das Leben des Brain

Pflanzt euch keine falschen Erinnerungen ein, verspricht Bent 🧠✊

Kategorie Wie wir uns erinnern

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