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Herz der Finsternis, Teil 2

Es geht um eine Geschichte im Kongo und einen Kolonialisten im Elbpark.

Ich habe die Norton Critical Edition von Heart of Darkness zu Hause. Auf über 500 Seiten kann man neben dem Text selbst auch diverse Einordnungen und Analysen zu dem Text lesen. Das war mir nicht bewusst, als ich vor einigen Jahren entschied, das Buch für die Uni nicht zu lesen. Wie sich nun herausstellte, ist Heart of Darkness nur 77 Seiten lang.

Das ändert die Lage drastisch und ich habe den Text endlich gelesen. Ein easy read war es nicht. Das liegt zum einen am Thema, dazu gleich mehr, zum anderen an der wirren Erzählstruktur. Es geht um einen Mann namens Marlow, der von seiner Reise nach Afrika berichtet. Das wiederum berichtet der Ich-Erzähler, der mit Marlow gerade auf einem Boot verweilt und die Dämmerung abwartet. In dieser Rahmenhandlung (mit dem Ich-Erzähler) passiert so gut wie gar nichts, denn fast der gesamte Text ist direkte Rede (die Binnenhandlung, die Action, von der Marlow erzählt).

" "

Marlow wird in Europa rekrutiert, trifft Ärzte und Beamte, die ihn auf seine Reise nach Afrika vorbereiten. Schon hier wird das Ende vorausgedeutet. Der Arzt betont, wie gern er doch Menschen vor und nach ihrem Aufenthalt in Afrika vergleichen würden, doch es kämen so wenige zurück.

Demokratische Republik Kongo

(Quelle: Google (Öffnet in neuem Fenster))

In der ersten Station angekommen, verbringt Marlow unzählige Seiten damit ein Dampfschiff zu reparieren und seine Mitmenschen zu beschreiben. Weiße "arbeiten" als Manager, Director oder Agents und errichten Stationen. Von dort aus wird Elfenbein nach Europa exportiert. Einen der Weißen (in meiner Vorstellung immer mit Tropenhelm und Nilpferdpeitsche (Öffnet in neuem Fenster)) beschreibt Marlow so:

"He had no genius for organising, for initiative, or for order even. That was evident in such things as the deplorable state of the station. He had no learning, and no intelligence. His position had come to him – why? Perhaps because he was never ill. ... He originated nothing, he could keep the routine going – that's all. ... He was a chattering idiot."

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Mit einigen dieser "Pilgern", wie er sie nennt, schippert Marlow den Kongo entlang. Die Reise dauert Wochen und das Schiff wird von Schwarzen Sklaven gesteuert und in Schuss gehalten. Sie hatten sich Nilpferdfleisch mitgenommen, das schon nach kurzer Zeit von den Weißen über Bord geworfen wird.

"You can't breathe dead hippo waking, sleeping, and eating and at the same time keep your precious grip on existence. Besides that, they had given them every week three pieces of brass wire each about nine inches long, the theory was they were to buy their provisions with that currency in river-side villages. You can see how that worked. There were either no villages, or the peple were hostile, or the director, who like the rest of us fed out of tins with an occasional he-goat thrown in, didn't want to stop the steamer for some more or less recondite reason."

Was folgt, ist ein verstörender Monolog darüber, wieso die Sklaven nicht dem Kannibalismus verfallen. Ich erkenne Sarkasmus in Literatur selten, weil ich in dem Glauben aufgewachsen bin, dass in Büchern die Wahrheit steht. Dem scheint nicht immer so (Öffnet in neuem Fenster). In Heart of Darkness habe aber sogar ich erkannt, dass solche aberwitzigen Argumente kritisiert werden, die auf Vorurteilen und Rassismus gründen und mit einer einzigen Sekunde Nachdenken entlarvt werden können.

Das Ziel der Reise ist ein entlegenes Lager. Es wird von einem Mann namens Kurtz regiert. Auch seine Aufgabe ist es, Elfenbein nach Europa zu schiffen und das Innere des Landes zu "erkunden". Er regiert das Lager und hat umliegende Dörfer mit Gewalt unterworfen. Von den "Pilgern" wird er als Prophet dargestellt, als Weiser, als der Beste. Marlow, vorher noch erpicht darauf mit diesem Enigma zu sprechen, versteht schnell, wie Kurtz tatsächlich zu seinem Ruf kam.

"Hadn't I been told in all the tones of jealousy and admiration that he had collected, bartered, swindled, or stolen more ivory than all the other agents together."

Elefant

(Foto von Nam Anh (Öffnet in neuem Fenster) auf Unsplash (Öffnet in neuem Fenster))

Kurtz schrieb außerdem ein Manifest, in dem er die "natürliche Überlegenheit" gegenüber den "Wilden" schildert, Weiße als Gottheiten preist und zu dem Schluss kommt, alle anderen müssten vernichtet werden. White supremacy und Genozid, um es kurz zu sagen. Worten ließ er Taten folgen und errichtete einen Zaun aus Pfählen und Köpfen um seine Hütte. Seine Gräueltaten werden nie direkt geschildert, aber immer die Folgen.

Die Geschichte endet mit dem Tod von Kurtz (Krankheit), Marlow kehrt zurück, um seine Geschichte dann auf einem anderen Schiff zu erzählen (Rahmenhandlung) und belügt die Witwe von Kurtz über seine letzten Worte (die nicht ihr Name waren, sondern "The horror! The horror!").

Based on a true story

Was Marlow in dieser Geschichte in Afrika erlebt, basiert lose auf den Erlebnissen des Autors, Joseph Conrad. Der polnisch-britische Schriftsteller war in den 1890ern selbst als Kapitän eines Flussdampfers im Kongo. Ich musste mehrere andere Texte lesen, um seine Position einordnen zu können (contra Kolonialismus). Denn natürlich reproduziert Conrad in dem Text Rassismen und benutzt das N-Wort.

Joseph Conrad

Rassismus war damals schon falsch, bleibt es heute und ich finde es schwach ihn mit dem Hinweis auf "die damalige Zeit" zu rechtfertigen. Dass Conrad auch nur die Wörter benutzt, die er kennt, dass der Diskurs ein ganz anderer war und wir heute neue Begriffe kennen, um über Rassismus und Diskriminierung zu sprechen, ist eine Sache. Eine andere ist die wirklich unterirdische Darstellung von Menschen, die nicht weiß sind, die die Lektüre unerträglich macht.

Im Großen und Ganzen hätte der Text auch halb so lang sein können. Die meisten Sätze sind Beschreibungen und werden mit derartig viel gekrampfter Poesie aufgeladen und immer wieder paraphrasiert, dass sie am Ende ganz die Bedeutung verlieren.

Man darf sich zurecht fragen, worum es in dem Buch eigentlich geht. Geht es um das Grauen des Kolonialismus? Verarbeitet Conrad seine eigenen traumatischen Erfahrungen? Ist es an die Politik adressiert und Menschen wie König Leopold II. oder dient es als Aufklärung der breiten Masse? Heart of Darkness ist auch 2023 noch nicht ausanalysiert. Ob es sich für mich persönlich lohnt, mehr Arbeit in den Text zu stecken? Eher nicht. Es ist ein klassischer Text, der mit der Zeit mehr zu historischer Quelle als literarischem Meisterwerk geworden ist. Ich hätte einfach Apocalypse Now gucken sollen.

(Chas Gerretsen: Apocalypse Now The Lost Photo Archiv (Öffnet in neuem Fenster)e)

Das Thema bleibt ja aktuell. Besagter König Leopold II., König Belgiens 1865-1909, war Gründer des Kongo-Freistaat und Monarch sowie persönlicher Eigentümer (!!!) der belgischen Kolonie. Zehn Millionen Menschen (Öffnet in neuem Fenster) fielen seiner Herrschaft zum Opfer. Mehr als heute in Österreich leben. König Philippe entschuldigte sich 2020 (Öffnet in neuem Fenster) dafür, in Antwerpen wurde nach dem Tod von George Floyd und den folgenden Protesten eine Statue von König Leopold II. entfernt. Immer wieder gibt es Versuche die Kolonialgeschichte von Ländern und Institutionen aufzuarbeiten.

Der Kolonialist im Elbpark

Auch in Hamburg gibt es Denkmäler, die manche gerne abreißen würden. Im Mittelpunkt der hiesigen Debatte steht seit einigen Jahren das Bismarck-Denkmal im Alten Elbpark nahe den Landungsbrücken. Ein Ideenwettbewerb (Öffnet in neuem Fenster)sollte Möglichkeiten aufzeigen, wie das Denkmal im historischen Kontext eingeordnet werden kann. Wie es vielleicht sogar ein Erinnerungsort wird, der den Teil der deutschen Geschichte, den er repräsentiert, nicht ignorant ausblendet, sondern eine Auseinandersetzung ermöglicht.

(Bismarck-Denkmal Anfang des Jahres. Die visuelle Auseinandersetzung beschränkte sich auf ein "Bismarck der Hurensohn" auf dem Bauzaun.)

Noch 2020 schien man sich in Hamburg einig (Öffnet in neuem Fenster), dass die umstrittene, gar problematische Statue von Bismarck einer umfassenden Umgestaltung und Kontextualisierung bedarf. Immerhin war es eben jener Reichskanzler, der zur Kongokonferenz 1884/85 (Öffnet in neuem Fenster) lud, bei der neben ihm u.a. König Leopold II. die Regeln festlegten, nach denen sie die Kolonialisierung des afrikanischen Kontinents fortführen wollten. Ohne Rücksicht auf bestehende Grenzen und Kulturen wurden den Unterdrückern Gebiete zugewiesen und Genozid (Öffnet in neuem Fenster)begangen.

Daran ist nicht allein Bismarck Schuld (und oft hört man, dass er eigentlich gar kein Freund des Kolonialismus gewesen sei, sondern Opportunist, dies das Ananas, ändert für mich wenig). Auch historische Personen sind komplexer als eine Plakette an einem Denkmal vermuten lässt. Vermutlich sollte gerade deshalb eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Denkmal stattfinden. Und vermutlich ist sie gerade deshalb gescheitert (Öffnet in neuem Fenster). Eine einzige Intervention könne unmöglich alle Facetten abdecken, erklärt die Jury. Das hätte man fast vorher wissen können.

Umgeben wird dieser Vorgang von Idioten (Öffnet in neuem Fenster), die das alles für Quatsch halten und verlangen, dass die Stadt stattdessen gegen Graffitis vorgehe. Was umso ironischer ist, wenn man bedenkt, dass der Ideenwettbewerb ein gemeinsames Projekt der Stadt und der Stiftung für Historische Museen Hamburg ist, zu der auch das Museum für Hamburgische Geschichte gehört, das gerade eine sehr sehenswerte Ausstellung zu – ihr ahnt es – Graffiti (Öffnet in neuem Fenster) zeigt.

Bilder aus der Ausstellung "Eine Stadt wird bunt"

(Eine Stadt wird bunt: Hamburg Graffiti History 1980-1999, noch bis zum 7. Januar 2024 im Museum für Hamburgische Geschichte)

Hier zeigt sich die Krux der Debatte. Während es oft von neokolonialer Gewalt und rassistischer Diskriminierung betroffene Menschen sind, die Ungerechtigkeiten benennen und Lösungen vorschlagen, sind es oft die – wie soll ich sagen – im Alltag davon distanzierten Menschen, die Entscheidungsgewalt haben und ein schockierendes Unverständnis und unvergleichliche tone-deafness (Öffnet in neuem Fenster) an den Tag legen. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Empfehlungen

Weiterführende Lektüre, wie es so schön heißt, gibt es zu dem Thema en masse. Besonders gut finde ich:

Meme der Woche

Habt ihr das Alien mitverfolgt, das angeblich in Mexiko gefunden wurde? Wurde dem Kongress gezeigt und alles. Wer Akte X gesehen hat, weiß natürlich, dass das nicht echt sein kann. Duh.

Danke

Ich wollte so viel in diese Ausgabe packen. Sie ist sehr lang, ein wenig schwurbelig und vermutlich hat ihr mehr geschadet als genützt, dass ich über einen Zeitraum von sechs Wochen immer wieder daran geschrieben habe. Naja. It is what it is. Und um ehrlich zu sein, bin ich froh fertig zu sein und das hier zu veröffentlichen. Es kann ja nicht immer alles perfekt sein.

Vielen Dank fürs Lesen und Unterstützen. Es freut mich wirklich sehr, dass mein Mini-Newsletter wächst und aktuell 54 Leser:innen und 1 Bonus-Unterstützer zählt. Ich danke jeder und jedem einzelnen von Euch. Mehr über das Bonus-Paket habe ich hier (Öffnet in neuem Fenster)geschrieben.

Seid gedrückt und bis zum nächsten Mal!

Christina

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