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Lieber Kai,

Ich möchte dir erstmal beipflichten. 

Und uns Männern, Sven, widme ich die Hoffnung, dass wir uns noch mehr trauen, zu der She in uns vorzudringen und dann das Loch im Zaun zu finden. Ich bin überzeugt: Das wird nicht nur uns gut tun.

Das glaube ich auch. Aber noch viel besser wäre es, wenn wir nicht nur zu unserer She finden, sondern die vielen She's einfach mal den Vortritt lassen. Nicht nur an allen Eingangstüren dieser Welt als Zeichen von Höflichkeit, sondern an allen Machtpositionen als Teil des männlichen Anteils zur Gutmachtung der Geschlechtergerechtigkeit. Es ist nur eine der vielen Beispiele, wo wir als weiße Männer westlicher Zivilisation noch einiges (auf)geben müssen, bevor man, irgendwie von Gleichheit sprechen kann. Aber zurück zu den Frauen. 

Was mich diese Woche am meisten bewegt, ist zu sehen, was diejenigen Frauen tun, deren Leid schon wieder, leider, in Vergessenheit geraten ist: Die Frauen von Afghanistan. Ich möchte hier nun nicht mein Mitleid bekunden, auch wenn ich jeden verstehen könnte, der so empfindet. Nein, ich kann nur ehrfüchtig meinen Respekt zollen. Schon seit Wochen sehen sie nicht tatenlos dabei zu, wie ihnen ihre Rechte entzogen werden. Sie wehren sich (Öffnet in neuem Fenster). Sie demonstrieren, ohne Demonstrationsrecht. Sie zeigen keine Angst vor den Taliban, sondern werden laut. Und die ganze Welt sollte es hören. 

https://twitter.com/tolonews/status/1434065007550111753 (Öffnet in neuem Fenster)

Ich kann hier in Berlin als weißer cis-Mann nicht nachvollziehen, welchen Mut diese Frauen besitzen, was sie bereit sind zu tun, damit sie arbeiten und studieren können. Es verschlägt wirklich mir die Sprache.
Afghanistan ist ja mittlerweile aus dem westlichen Blick wieder verschwunden, da wir uns mit Sondierungsselfies beschäftigen. Wenn du dich aber nochmal drauf einlassen willst, hier ein längeres Wort von Navid Kermani zum Sieg der Taliban (Öffnet in neuem Fenster). Der Text ist mittlerweile ein Monat alt, aber bringt er doch eine Blickrichtung mit, die ich sehr lesenswert finde. 

Es ist dir vielleicht aufgefallen. Ich habe bisher kein Wort über die Bundestagswahl oder gar über die Sonderungsgespräche verloren, das große politische Thema der Woche, des Tages oder der Stunde, je nachdem, welche Perspektive wir hierfür einnehmen wollen (oder wie viel Uhr es ist).
Ich würde von mir schon sagen, dass ich ein Politik Junkie bin. Das hab ich am Wahlabend zelebriert, das habe ich auch an den Tagen auch noch ausgelebt, als ich wohl so wirkliche jede Pressekonferenz der Parteien mir im Live Stream angeguckt habe - und dazu noch die News Ticker von Zeit Online und BILD liefen ließ (maximale Bandbreite!). 

Es ist nur so, dass bei mich in den letzten Tagen der Politik-Kater erwischt hat. Das Sahnehäubchen für diesen Kater war das wohl überall kommentiere, diskutierte Zitrus-Koalitions-Selfie (sic). Als ich dieses sogar in der Tagesschau gesehen habe, wurde mir klar, dass ich dringend mal eine Pause brauche. Und vielleicht nicht nur ich.

Es ist fünf Tage nach der Wahl und die demokratischen Parteien fangen an, gemeinsam über mögliche Koalitonen zu sprechen. Soweit, so gut. Sie haben den Auftrag verstanden. Das aber die Presse- und Twitter-Welt jegliche Körperregung eines jeden Spitzenpolitikers live mitkommentieren und daraus eine neue Story machen, die keine ist, gibt mir nicht das Gefühl, als würde man diese Parteien überhaupt in Ruhe und wohl überlegt eine neue Regierung formen lassen, sondern als würden die ersten Journalisten aus dem Fenster springen, wenn nicht in spätestens zwei Wochen Scholz Kanzler, Laschet zurückgetreten und Merz neuer CDU Vorsitzender geworden ist.
Wie sich an jeder Kleinigkeit, an jedem Detail festgehalten wird und sich die Presse daran totkommentiert - es ist mir tatsächlich der Spaß daran verloren gegangen. Die vielen Stimmen, die schon mit dem Abgesang der Annelena Baerbock angefangen haben, nur weil Habeck eventuell (und immernoch nicht offiziell bestätigt) Vizekanzler wird? Ich find's grausig und ziehe daraus hauptsächlich den Blutdurst der Journalisten und Journalistinnen. Die Zeit gerade ist ein wenig wie ein Sommerloch, da die Politiker der FDP und Grüne mit ihren internen Runden tun, was man in solchen Gesprächen auch tun sollte: Sie bleiben von der Öffentlichkeit verschlossen. Deshalb gibt es einigermaßen wenig Interessantes zu berichten, woraus dann aber dann doch eine Menge gemacht wird.

Dass diese Stille im Politbetrieb erst einmal ungewohnt ist, verstehe ich. Selbst Bild-Vize Paul Ronzheimer scheint da nicht den heißen SMS-Draht zu verfügen, den er sonst hat.
Aber weißt du was? Ich will gerne mehr davon. Wie schön es wäre, jetzt einen Monat lang einfach absolut kein Zwischenergebnisse zu bekommen, sondern nur mit einem Endergebnis konfrontiert zu sein.
Deswegen hoffe ich, dass diese ganzen Gespräche, die heute zwischen SPD und FDP sowie Grüne und SPD passieren, genauso ablaufen werden und möglichst alle einfach mal die Ruhe bewahren. Durchatmen.
Political Detox, den hätten die meisten von uns bitternötig.

Vielleicht würden wir die freigewordenen Hirnbereiche anders nutzen, also die Zeit, die wir mit dem Kommentieren verbringen, sinnvoller gestalten?
Ich denke es würde einiges bewegen, würden wir alle gemeinsam aus unserer Kommentier-Position herauskommen und eigene Ideen über unsere eigene persönliche oder gesellschaftliche Zukunft weiterzudenken. Wir sind nicht Günther Netzer oder Gerhard Delling. Wir können mehr als Kommentieren.
Ich bin der festen Überzeugung, dass uns das glücklicher machen wird, als vom Twitter Elfenbeinturm die Sondierungen oder Koalitionsverhandlungen zu verfolgen. Weniger Netzer und Delling wagen. Das würde ich uns allen wünschen. 

Wobei ich die beiden ja garnicht schlecht reden möchte, waren sie doch lange sowohl meine Wegbegleiter als auch die vieler anderer Fußballfans. Gerade am Tag der deutschen Einheit schickt es sich nicht, diese Herren zu kritisieren. Verzeih.
Aber ich habe nunmal die Hoffnung, dass wir in der Demokratie mehr können als Kommentatoren vom Spielfeldrand zu spielen (Das mag etwas ironisch wirken, diesen Aufruf in einem Briefwechsel zu formulieren, der seit über einem Jahr die deutsche Gesellschaft kommentiert. Es steht dir frei daraus deine eigenen Schlüsse zu ziehen). 

Nunja: Ich habe vorgestern auf jeden Fall einen ersten Selbst-Versuch gemacht. Freitag habe ich tatsächlich, abgesehen von den morgendlichen Nachrichten durch meinen 10 Euro ALDI Radiowecker (den ich übrigens seit 15 Jahre habe), habe ich den ganzen Tag keinen einzigen Live-Ticker verfolgt, keine Nachrichten, kein garnichts. Stattdessen habe ich alles Mögliche geschafft, was ich sonst gerne liegen gelassen habe. Zum Beispiel habe ich mal so gründlich meine Wohnung geputzt. Irre, oder? Ich gebe zu, beim heute-journal bin ich dann schwach geworden, aber zwölf Stunden ist für den Anfang schonmal etwas. Und das Schöne: Jetzt kann ich endlich wieder so richtig Gäste empfangen. Keine Sorge: Sollte ich hier die Tanzfläche eröffnen, sag ich dir sofort Bescheid. Solange gibt's die passenden Songs eben noch hier. 

Ich wünsche dir einen schönen Sonntag. 

Liebe Grüße

Sven

https://www.youtube.com/watch?v=-FaFJvg7DI8 (Öffnet in neuem Fenster)

(Soap & Skin - What's going on?)

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