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Ach, mein lieber Sven,

wie recht Du hast. Was sich seit der Bundestagswahl abspielt, klang mitunter, als schrieben Paul Ziemiak und Markus Blume an ihrem neuen Buch „Generalsekretäre für Dummies“. Da treffen sich mit CDU und CSU die beiden Parteien mit FDP und Grünen zu Gesprächen, denen in ihrem gegenwärtigen Zustand nur Verantwortung für dieses Land zusprechen will, wer einen Betrunkenen an eine Kreuzung mit ausgefallenen Ampeln stellen würde. Worauf sich nach dem Ergebnis der Bundestagswahl ja offensichtlich nicht allzu viele einzulassen bereit sind. Und trotzdem sagt CSU-Blume anschließend, die Gespräche hätten Lust gemacht auf mehr, und CDU-Ziemiak spricht von einem Zukunftsbündnis, das das Land in einen Aufbruch führen solle, als sei er nicht selbst Teil jener, die einen Aufbruch in eine andere Ära erst nötig machen.

Ich habe mir in den vergangenen Tagen immer wieder vorgestellt, wie sich so eine Gesprächstaktik in einem Beziehungsgespräch anhören würde, und hatte prompt auch etwas zu lachen dabei.

Da sagt sie: „Du, ich habe das Gefühl, bei uns ist die Luft raus. Ich glaube, ich brauche eine Pause.“
Und er: „Genau richtig. Und gerade deshalb sollten wir über die Zukunft sprechen.“
Darauf sie: „Ich glaube, du verstehst mich falsch. Ich denke darüber nach, mich zu trennen.“
Und er: „Sehr gut. Das sind genau die Signale, die wir für einen Aufbruch jetzt brauchen.“
Wieder sie: „Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“
Er: „Natürlich. Wann passt es dir für eine erste Sondierung? Ich besorge bis dahin dann die Kataloge für Kinderwägen.“
Sie: „Du bist geisteskrank.“
Er: „Dieses Gespräch hat Lust gemacht auf mehr.“

Dieses Beschwören einer Wirklichkeit, die es nicht gibt, das an der Realität Vorbeireden in der Hoffnung, damit in der Öffentlichkeit eine Stimmung zu erzeugen, die den politischen Gegner unter Zugzwang setzt – wo verlaufen da eigentlich die Grenzen zwischen politischem Geschick und psychischer Störung? Und warum sollen wir uns das Tag für Tag ansehen, anhören, andenken?

Ich kann meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen im Journalismus noch nicht mal böse sein. Sie machen in ihrer täglichen Jagd nach der nächsten Indiskretion einen Job, von dem die Gesellschaft meint, ihn erwarten zu dürfen oder zu müssen. Das Problem sind nicht nur die Medien. Das Problem sind auch wir, die wir die Medien nutzen.

Der Schweizer Schriftsteller Rolf Dobelli hat diese ständige Jagd auf allen Kanälen, deren Beute keinen neuen Gedanken, keine eigene Idee hervorbringt, sondern nur die Welt in Dauerschleife setzt, wie sie ist und, oft mehr noch, wie Menschen sie gern hätten, mit Junk Food verglichen, das unser Denken fett und träge macht und von dem wir trotzdem nicht die Finger lassen können. Er empfiehlt stattdessen geistigen Vollwert in Form von Dokumentationen, Gesprächen oder Büchern. Mir gelingt es auch nicht immer, mich daran zu halten. Umso mehr empfehle ich deshalb, sich Dobellis klugen Essay „Vergessen Sie die News“ durchzulesen. (Öffnet in neuem Fenster) Oder sich seine Gedanken als sechsminütige Zusammenfassung anzusehen:

https://www.youtube.com/watch?v=nDL6Ftjcpg4 (Öffnet in neuem Fenster)

So, und wenn wir wirklich vergessen wollen, wie Paul uns zu hypnotisieren versucht, wie Armin um sein politisches Überleben kämpft und Markus mit seinen täglichen Ich-habs-euch-doch-gesagt-dass-ich-der-Bessere-bin-Geschmacklosigkeiten gerade ohne es zu merken ein neues Wort beibrigt, weil er nicht mehr wie früher hinterfotzig agiert, wo er hinter den Kulissen seine Gegnerinnen und Gegner massakriert hat, sondern vorderfotzig, weil man ihm inzwischen jeden Tag dabei zuhören und zusehen (Öffnet in neuem Fenster) kann wie einem Halbstarken, der den am Boden Liegenden bespuckt und bepinkelt, und man schon fast Mitleid bekommt mit dem Kanzlerkandidaten-Zombi der CDU, wo wir also nicht länger Zeuginnen und Zeugen sein wollen dieses unwürdigen Schauspiels und stattdessen geduldig darauf zu warten bereit sind, ob es gelingen kann, ein echtes Zukunftsbündnis zu schmieden, das der alten Regel folgt, dass man einen guten Kompromiss daran erkennt, dass am Ende alle Seiten unzufrieden sind – was machen wir dann mit der frei gewordenen Zeit, Sven?

Dann bleiben wir einfach gleich in der Schweiz, wo es im Fernsehen eine Sendung gibt, die so sehens- und hörenswert ist, dass ich mich gern bekenne: Danach bin ich süchtig. „Sternstunde“ ist der Titel eines philosophischen Gesprächs, zu dem regelmäßig so beeindruckende Persönlichkeiten geladen sind, dass man sich jede einzelne Ausgabe als Abschrift an die Innenseite seines Schädels pinnen möchte. Bereits im Januar war der Historiker und Philosoph Philipp Blom zu Gast – ein Mann, der mit einer Ruhe und Gelassenheit von der Welt spricht, in der wir inzwischen angekommen sind, dass sie einerseits viel von ihrem Schrecken verliert und andererseits ein wenig zu glitzern beginnt, weil man sich bei jedem von Bloms Sätzen denkt: Bei der Version der Welt, die er da gedanklich erschafft, will ich auch dabei sein.

Ich will nicht zu viel davon verraten, weil ich das Gefühl einer Offenbarung nicht vorweg nehmen will. Deshalb nur ein Gedanke: Laut Blom am Beginn unserer Kulturgeschichte ein schlichter Übersetzungsfehler. Im ersten Buch Mose Kapitel 1, Vers 28 heißt es nach vermeintlich allgemeingültigem Verständnis:

„Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan.“

Was ist aus diesem Satz alles erwachsen! Wir Menschen haben daraus das Recht und die Freiheit abgeleitet, uns von der Natur in einer Weise zu emanzipieren, dass wir nicht mehr länger Teil von ihr waren. Wir haben uns erhoben und tun bis heute so, als gingen uns die Folgen nichts an und als seien diese nur ein Grund, uns noch mehr zu erheben. Die Verheerungen des technologischen Fortschritts wollen wir mit nur noch mehr Technologie lösen. Auf Übermaß reagieren wir mit noch mehr Übermaß. Und als einzige Antwort auf unsere Sehnsucht nach Freiheit suchen wir nach noch mehr Freiheit und vergeben damit ein ums andere Mal die Möglichkeit, Freiheit neu zu definieren: nicht als Freiheit von jeder Form der Beschränkung, sondern als Freiheit, uns jeden Morgen aufs Neue zu fragen, tief in unserem Innersten, was uns wirklich glücklich macht und frei – und dann danach zu handeln. Gar nicht so sehr in Verantwortung für andere, sondern zu allererst in Verantwortung für uns selbst – das Bewusstsein, verantwortlich zu sein für die Welt, in der wir leben, kommt dann von allein, gewissermaßen als Kollateralnutzen.

Um diesem Paradigmenwechsel einen Schritt näher zu kommen, hat Philipp Blom einen Vorschlag. Er besteht darin, dem hebräischen Original des Alten Testaments auf den Grund zu gehen. Denn man hätte die neuralgische Passage anders übersetzen können, sagt er, nämlich so:

„Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und und füllet die Erde und seid ihr ein Hirte."

Und jetzt, Sven, höre mal in Dein Innerstes und frage Dich, was das für einen Unterschied macht: wenn wir uns nicht mehr als Herren verstehen, sondern als Hirten. Aus Bodenschätzen werden Schafe, aus Freiheit wird Fürsorge und aus Natur ein Wesen, das wir immer nur so weit und lange scheren, dass nachwachsen kann, was wir gemeinsam zum Leben brauchen, wir und die Natur, von der wir ein Teil waren, sind und bleiben, ganz egal, ob wir das anzunehmen bereit sind oder nicht. In dieser Welt möchte ich leben und nicht in der, in der Paul sich und uns ständig zu Hammeln zu machen versucht. 

Und damit: viel Vergnügen mit dem Übersetzungsservice von Herrn Blom (Öffnet in neuem Fenster) (den es hier auch als Podcast zu hören gibt) (Öffnet in neuem Fenster),
Dein Kai

https://www.youtube.com/watch?v=5qkfAc_6dv0 (Öffnet in neuem Fenster)

(Antony and the Johnsons - Another World)

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