So, so, lieber Sven,
der Herr war also in Tübingen. Das trifft sich gut, denn ich wollte mit Dir ohnehin in den Südwesten der Republik reisen. Baden-Württemberg entwickelt sich ja langsam insgesamt zu einem Modellprojekt – ein Modellprojekt für die Schwierigkeiten, die uns auf dem Weg in die Zukunft noch öfter begegnen werden.
Beginnen wir in Stuttgart, bei Winfried Kretschmann. Der Ministerpräsident ist ja nicht nur ein Landesvater, wie man ihn besser nicht malen könnte:
https://www.youtube.com/watch?v=KvLAi4zQKN8 (Öffnet in neuem Fenster)Er ist auch eine Art Anti-Posterboy zum Täglich-von-der-Wand-reißen für alle, die sich der bedingungslosen Rettung der Welt verschrieben haben. Es gilt unter engagierten Klimaschützerinnen und Weltrettern inzwischen ja offenbar die Faust-in-der-Tasche-Formel: „Wer gegen Kretschmann ist, ist fürs Klima.“
Beim kommenden Klimagipfel in Glasgow sollte die Weltgemeinschaft einfach einen neuen Absatz in den Klimavertrag von 2015 verhandeln: „Sobald sich weltweit mindestens vier Milliarden Menschen gefunden haben, die sich beteiligen an der Unterschriftensammlung ‚Winfried Kretschmann allein verantwortlich machen für die Erwärmung der Erdatmosphäre um 1 Grad.‘, ist das 1,5-Grad-Ziel erreicht.“ So können wir uns dann den komplizierteren Weg in die Zukunft mit Fragen von Wirtschaftswachstum, Umbau unserer Energieversorgung oder Neuausrichtung unserer Lebensgewohnheiten sparen.
Das hat sich zuletzt zauberhaft gezeigt bei der Entscheidung Kretschmanns, lieber die Koalition mit der geschwächten ehemaligen baden-württembergischen Staatspartei CDU fortzusetzen als sich auf eine Ampel mit SPD und FDP einzulassen. Wie kann er nur?, hieß es. Eine Ampel, das wäre doch ein Signal des Aufbruchs gewesen! Aber nein, dem alten Sturkopf ist das Klima halt egal, seit er auf dem dem warmen Ministerpräsidenten-Sessel Platz genommen hat. Für viele offenbarte sich mit Kretschmanns Festlegung endgültig, dass der kein Grüner sein kann, sondern ein Schwarzer sein muss, der sich bei der Suche nach der richtigen Partei vor ein paar Jahrzehnten einfach in der Tür geirrt hat.
Das ist insofern bemerkenswert, als sich nicht sehr viele der notorischen Kretschmann-Kritiker die Mühe gemacht haben können, sich genauer damit zu beschäftigen, warum Kretschmann die Ampel verworfen hat. Nämlich unter anderem mit dem Hinweis auf den Fraktionsvorsitzenden der FDP im baden-württembergischen Landtag, Hans-Ulrich Rülke. (Öffnet in neuem Fenster) Ein Mann aus Pforzheim, der wegen seines beherzten Auftretens im Landtag den hübschen Spitznamen „Brüllke“ erhalten und Anfang März im ZDF-Morgenmagazin (Öffnet in neuem Fenster)die zu scharfen Abgasnormen der Europäischen Union dafür verantwortlich gemacht hat, dass die Ingenieure bei VW gar nicht anders konnten als mit einer Abgas-Vorrichtung zu schummeln.
Rülke hält sich für geeignet als Superminister für Wirtschaft, Energie und Verkehr und Wasserstoff für einen sinnvollen Ersatz für fossile Brennstoffe. Weil: 500 000 Arbeitsplätze, die allein in Baden-Württemberg am Verbrennungsmotor hängen. Wasserstoff also. Die inzwischen TÜV*-zertifizierte Abkürzung für: "Wer mich wählt, darf sich weiter ins Schaumbad der Illusion legen." (*Technikferne Überheblichkeits-Vereinigung).
Doch entweder lügt Brüllke oder er weiß es wirklich nicht besser – Superminister sollte man so jedenfalls besser nicht werden. Über Wasserstoff als Energie der Zukunft hat bereits Jules Verne in einer weit zurückliegenden Vergangenheit nachgedacht. In seinem Roman „Die geheimnisvolle Insel“ schrieb er 1847: „Die Energie von morgen ist Wasser, das durch elektrischen Strom zerlegt worden ist.“ Allein: Um daraus sogenannten SynFuel zu produzieren, sind unvorstellbare Mengen elektrischen Stroms nötig: (Öffnet in neuem Fenster)
„Um die gesamte Pkw-Flotte in Deutschland mit klimaneutralem SynFuel zu versorgen, so rechnete kürzlich die "Wirtschaftswoche" vor, bräuchte man jährlich rund 1100 Terawattstunden Grünstrom - das ist etwa doppelt so viel Strom, wie Deutschland derzeit insgesamt pro Jahr verbraucht.“
Wer den Leuten verspricht, Wasserstoff sei ein vernünftiger Ersatz für Öl, kann gleich die Forderung hinterher schieben, Helikopter seien eine sinnvolle Alternative für Elterntaxis, um die Kleinen morgens zur Schule zu fahren. Den Menschen vorzugaukeln, dass sich mit jemandem wie Rülke an der Macht die Herausforderungen für die Autoindustrie in Wasserstoff auflösen würden, ist nicht Gestaltung, sondern Status quo-Verwaltung. Eine Koalition aus Grünen, SPD und FDP wäre keine Ampel geworden, sondern ein Stopp-Schild mit dem darunter montierten Hinweis: Achtung, Abgrund voraus.
Und damit weiter nach Tübingen, wo eine gewisse Lisa Federle – Notärztin, Präsidentin des DRK-Kreisverbands und, Achtung, CDU-Politikerin (Öffnet in neuem Fenster) – schon im Herbst damit begonnen hat, massenhaft Tests zu bestellen und über einen örtlichen Unternehmer vorzufinanzieren – zu einer Zeit, als ihre eigene Parteispitze in Berlin noch einen Präsenz-Parteitag im Dezember plante, obwohl die Wissenschaft sehr eindeutig davon sprach, dass der bevorstehende Winter nicht nur kalt werden würde.
Federle hat nicht darauf gewartet, bis die Krise so weit fortgeschritten war, dass diese ihr jeden Schritt diktierte. Sie hat gemeinsam mit ihrem Team so weit im Vorfeld nachgedacht, geprüft und gehandelt, dass sie der nahenden Krise immer ein paar Schritte voraus war. Dass auch das Tübinger Modellprojekt durch die britische Mutante jetzt in Bedrängnis gerät, ändert für mich nichts daran, dass wir in Lisa Federle eine Art Anti-Rülke erleben – einen Typus pragmatischer Vernunftpolitik mit echter Lust am Gestalten.
Zwischen Tübingen und Pforzheim liegen etwa 80 Kilometer. Zwischen Federle und Rülke liegt ein Graben, über dem ein Transparent mit dem Wort „Verantwortung“ flattert.
Als Schaumbademeister ist Rülke aber beileibe kein Einzelfall. Der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher hat einen bemerkenswerten Aufsatz geschrieben. (Öffnet in neuem Fenster) Darin erklärt er sehr einleuchtend, wie wir uns viel zu lang am „too little too late“ der deutschen Politik nicht gestört haben, egal, ob in der Finanzkrise im Jahr 2008 oder in der Eurozonenkrise wenige Jahre später.
Wir haben uns blenden lassen davon, dass etwa Angela Merkel in schier unendlichen Nachtsitzungen scheinbar unausweichliche Lösungen gefunden hat. Sie waren aber vor allem dadurch unausweichlich geworden, dass sich verantwortliche Politikerinnen und Politiker so lange vor einer durchgreifenden Politik gedrückt hatten, dass sie nicht mehr anders agieren konnten. Sie scheuten sich schlicht davor, uns die Wahrheit zu sagen, und wir gaben uns mit Scheinwahrheiten zufrieden.
„Schließlich ging beides für Industrie, Banken und Bevölkerung vergleichsweise glimpflich ab, und nebenbei wurde auch noch Europa gerettet. Was das Bild aber trübt, ist zum einen die Tatsache, dass die schmerzhaften Anpassungsleistungen zur Bewältigung der Krise disproportional den Ländern Südeuropas aufgebürdet wurden. (…) Zum anderen verursachte es womöglich das viel gepriesene deutsche Krisenmanagement selbst, dass sich – durch das Muster des ewig zögernden too little, too late, das sich durch die diversen Akte der Krise zog – eine griechische Schuldenmisere, die man durch beherztes finanzielles Eingreifen zu einem letztlich sehr viel niedrigeren Preis im Keim hätte ersticken können, zu einer in vielerlei Hinsicht verheerenden Eurozonenkrise auswuchs.“
Durch beherztes Augenzudrücken hat das Modellprojekt Merkel die Krisen vergrößert, die Folgen aber so weit von uns ferngehalten, dass wir von ihnen nur in der Tagesschau getroffen wurden. Da war dann die Rede von griechischen Rentnerinnen und Rentnern, die sich vor lauter Verzweiflung das Leben nahmen, oder von Jugendlichen, die in Perspektivlosigkeit versanken. In unserem Alltag aber spielten solche Bilder keine größere Rolle, obwohl es damals genug Analysen zu lesen gegeben hätte, die uns auf die beinahe biblischen Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen versuchten, die mit einem solchen Politikverständnis einher gingen. Doch unser Wohlstand war uns wichtiger.
In der Corona-Krise sind wir nun selbst die Leidtragenden. Genau daraus schöpfe ich Hoffnung. Ich erlebe gerade in vielen Gesprächen einen täglich größer werdenden Ärger unter Freundinnen und Kollegen über diejenigen, die uns gerade so wankelmütig durch die Krise managen. Doch das ist kein akutes Politikversagen. Unsere gegenwärtige politische Führung setzt vielmehr den Kurs fort, den sie über Jahrzehnte einstudiert hat.
Und wir sind uns selbst zu Griechen geworden. Auf dass wir die darin verborgene Botschaft nicht mehr vergessen mögen.
Liebe Grüße,
Kai
PS: Meinen heutigen Song habe ich aus dem Programm eines neuen Radiosenders, den eine Rentner-Gang aus Grünheide gestartet hat. Ich bin jetzt schon Fan. (Öffnet in neuem Fenster)
https://www.youtube.com/watch?v=5ws1xuDtcaU (Öffnet in neuem Fenster)(Manfred Krug: „Es steht ein Haus in New Orleans“)
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