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Lieber Kai,

Frohe Ostern wünsch ich dir!

Ich habe das Gefühl, Dir etwas gestehen zu müssen. Ich habe nämlich vergangene Woche auch versucht, dem Stress zu entgehen, und mich hierzu auf eine kleine Reise durch Deutschland begeben, samt Freundin mit dem Auto, um einige Freunde zu besuchen. So eine Autofahrt quer durch die Republik hat in der jetzigen Zeit bereits ein moralisches Geschmäckle. Aber dazu komme ich später noch. Rein zufällig brachte mich diese Reise in die Nähe einer Stadt, die sich jetzt gerade besonderer Beliebtheit und Aufmerksamkeit erfreut.

Tübingen - die Modellstadt, die Stadt mit einem Hauch Normalität. Und auch wenn OB Palmer darum bat, als Auswärtiger bitte fern zu bleiben: Kai, ich habe es getan. Ich war in Tübingen.

Die Idee des Modellversuchs nochmal kurz erklärt: Nach einem negativen Corona- Ergebnis an einer der vielen Teststationen kriegst du ein Tagesticket ausgehändigt. Und plötzlich heißt es: Shopping, Restaurants, Bars, Kultur - (fast) alles wieder möglich! Eintreten, Tagesticket zeigen, los geht's.

Tübingens Modellversuch hat sich natürlich schon rumgesprochen. (Öffnet in neuem Fenster) Und somit erinnern die Schlangen vor den Tübinger Teststationen eher ans Berghain anno 2019. Eine glückliche frische Besitzerin eines Tagestickets erzählte der wartenden Schlange, dass sie vier Stunden angestanden habe. Die wartenden Menschen schreckte das nicht ab. Aber... vier Stunden?

Was wohl die Wenigsten in der Schlange wussten, war, dass es neben den offiziellen Teststationen auch andere Orte gab, um an ein Tagesticket zu kommen. Teilweise mit ganz nettem Nebeneffekt.

Auch ich besaß dann endlich ein Tagesticket.
Wie ich meinen Tag verbrachte? Ich schlenderte herum. Ich trank einen Kaffee, sogar ein Radler, ich hörte Stadtmusikanten zu. Ich besuchte Geschäfte und verließ sie wieder. Und am Ende des Tages war ich sogar endlich endlich endlich!!! mal wieder im Kino. Es war ein sonniger Tag, locker 20 ° Grad.
Der schönste Frühlingstag bisher. What a beautiful day.

Als ich das Kino-Ticket Stunden vor der Vorführung abholte (es waren die letzten verfügbaren Tickets), fragte ich den Kassierer ganz naiv, wie lange denn die Werbung am Anfang gehen würde. Die kurze und bündige Antwort:

"Es gibt keine Werbung.
Wir sind das einzige geöffnete Kino Deutschlands. Die Kinowerbeindustrie ist quasi tot."

Willkommen zurück in der Realität. Beim Film handelte es sich übrigens um "Der Rausch" von Thomas Vinterberg.

https://www.youtube.com/watch?v=QK2hGX7U508 (Öffnet in neuem Fenster)

Ein Film, dessen Protagonisten aus den moralischen Regeln ihrer Gesellschaft ausbrechen und mit Hilfe von ein wenig Alkohol augenscheinlich zu selbstsicheren und glücklicheren Menschen werden. Ein Experiment, das natürlich nicht gut gehen kann, sondern im Exzess und damit in der Katastrophe endet. Will das Kino mit dieser Programmwahl mir oder Tübingen irgendetwas sagen?

Auch Tübingens Experiment droht mittlerweile zu scheitern. (Öffnet in neuem Fenster) Natürlich sind sofort die erhobenen Zeigefinger da. Ich finde das schade. Das ist aber die einzige Parallele, die ich zwischen Tübingen und dem Film sehen konnte. 

Ich gebe zu: Der Besitz des Tagestickets löste in mir einen Hauch Glückseligkeit aus. Das Grund war aber nicht irgendein Konsumvergnügen, dass ich endlich befriedigen durfte. Der Grund war viel banaler: Es war schlichtweg erholsam. Erholsam zu wissen, dass alle Menschen, die hier ohne Maske gerade ihre Spätzle essen oder ihren Aperol trinken, frisch negativ getestet sind. Nach einem Jahr Corona-Dauerzweifel hatte der strapazierte Geist einen Tag einfach Pause. Stattdessen überlegte ich mir eher zweimal, ob ich wirklich in den Supermarkt muss, da dort wieder jeder einkaufen durfte. 

Und auch ansonsten sah das alles nicht nach einem Exzess aus. Das Maskengebot bestand in der ganzen Tübinger Innenstadt, der Abstand der Tische in Cafés wurde von der Polizei teilweise peinlich genau kontrolliert. Auch im Kino blieben trotz getesteter Zuschauer die Abstandsregeln und die Maskenpflicht erhalten. 

Es wird Tübingen gern vorgeworfen, als Modellstadt diesen Versuch nicht genug wissenschaftlich zu begleiten. (Öffnet in neuem Fenster) Und überhaupt steht die Kritik im Raum: Warum müssen Städte gerade jetzt Modellprojekte ausprobieren? Und warum reisen so viele nach Malle? Können sich nicht alle jetzt noch ein bisschen zusammenreißen? Warum gehen wir jetzt nicht einfach in einen noch härteren Lockdown? (Öffnet in neuem Fenster)

Vielleicht müssen wir einsehen, dass wir gesellschaftlich an einem Punkt angekommen sind, an der wir nicht mehr warten können. In der gesellschaftlich die Erschöpfung zu groß ist. In einem sehr interessanten Interview spricht der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Heinrich Bedford-Strohm, von der seelischen Inzidenz. (Öffnet in neuem Fenster)

Nach zwölf Monaten Corona-Krise ist deutlich, dass nicht mehr allein die Inzidenzzahlen im Zentrum der Überlegungen stehen können. Jetzt muss auch der Erschöpfung der Menschen durch kluge Öffnungen Rechnung getragen werden.

Ihr spricht hier von Begegnungen als Balsam für die Seele.
Ich denke, die Öffnung von Innenstädten sollten wir aus dieser Perspektive betrachten. Das Einkaufen in der Stadt, das Mittagessen im Restaurant - die Innenstädte sind mehr als Konsumhochburgen, sondern auch Orte der Begegnung, der gesellschaftlichen Durchmischung. Und auch wenn diese Durchmischung eigentlich nicht an Konsum gekoppelt sein sollte, ja, führen wir hierdurch wieder Menschen zusammen, die sich schlichtweg sonst nicht mehr sehen, nicht mehr begegnen würden, da ihre Lebensräume zu unterschiedlich sind. Wir stellen wieder erlebbare Gesellschaft her.

Ich frage mich: Wie können wir Menschen, die (speziell, aber nicht ausschließlich) mehr unter Corona leiden als wir, beispielsweise den Einsamen oder den Menschen ohne digitale Expertise, ein soziales Angebot schaffen? Mir kommt da ein Kinobesuch oder ein Kaffee in der Öffentlichkeit, jeweils mit negativem Coronatest, sicherer vor als ein privates Treffen ohne Test. So ähnlich, wie man seine Kinder lieber sexuell aufklärt und Kondome in die Hand drücken sollte als ihnen den Sex zu verbieten. Aber weder Vater bin ich noch sehe ich, was der Virus damit anfängt.

Und auch Beford-Strohm sieht klare Grenzen bei dem, was für die eigene Erholung gerechtfertigt ist. Nämlich dort, wo man anderen dadurch schadet.

Ich verstehe das Erholungsbedürfnis – nahezu jeder von uns dürfte erschöpft sein. Ich finde jedoch, man sollte sich davor hüten, sich jetzt etwas herauszunehmen, was anderen eventuell schadet. Und den Trip nach Mallorca zähle ich dazu.

Da haben wir wieder das große Thema Egoismus.
Kai, es fühlt sich für mich so an, als bewegen wir uns auf einen kritischen Punkt zu, der mir Sorge bereitet. Ich habe immer mehr das Gefühl, dass wir große Teile der Gesellschaft durch die gebetsmühlenartige Forderung nach noch härteren Lockdowns nicht verlieren, sondern schon verloren haben. 

Auch auf meiner Fahrt durch Deutschland allgemein und Tübingen im Speziellen habe ich mir die Frage gestellt: Ist mein Handeln gerade unmoralisch und egoistisch? Mache ich hier gerade etwas Falsches, trotz mehrfacher negativer Corona-Tests, FFP2-Masken und Abstand?
Nach langem Nachdenken komme ich zu dem Ergebnis, das weder ein "Ja" noch ein "Nein" eine wirklich beruhigende Antwort wäre - das eine für mich ganz persönlich, das andere für mein Verhältnis zur jetzigen Politik.

Im Film "Der Rausch" gibt es eine großartige Tanzszene von Mads Mikkelsen. Ich würde mir wünschen, Du kannst sie bald auch erleben. Bis dahin muss mein Song für diese Woche als kleiner Teaser reichen. 

Ganz liebe Grüße

Sven

https://www.youtube.com/watch?v=geXoQhmY6PM (Öffnet in neuem Fenster)

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