Mein lieber Sven,
es gab in Deinem letzten Brief einen Satz, der in mir bis heute nachhallt.
Nur weil die Dinge nicht einfacher werden, können sie doch trotzdem schöner werden, oder?
In meiner Küche steht ein Bilderrahmen so über dem Herd, dass er mir jeden Tag ins Blickfeld rutscht. Darin steht: „The higher the hurdle, the further the hopps.” Er ist mir vor vielen Jahren eingefallen: Ich kam von einem Interview mit einem Psychologen, der Menschen darin begleitet, nicht davon zu laufen, wenn es, wie Du schreibst, nicht einfacher wird. In unserem Gespräch illustrierte er das an einem Beispiel: Wenn man auf der Autobahn eine Reifenpanne hat, soll man sich auf dem Standstreifen zum Platten herunterbeugen und den Satz sagen: „Danke, Reifen, sei du nun mein Coach.“ Weil: Der Reifen wird ja nicht weniger platt, wenn man schimpft und wild mit dem Fuß auf den Asphalt stampft. Stattdessen: Situation annehmen, ruhig bleiben und eine Lösung finden, Schritt für Schritt. Alles klar, antwortete ich und fragte: Was erwidern Sie denn Ihren Leuten, wenn die Ihnen sagen: Schön und gut, aber ich spreche ganz sicher nicht mit einem Autoreifen. Tja, meinte er, manchmal muss man im Leben eben eine Hürde überwinden.
Auf dem Nachhauseweg dachte ich über diesen Satz nach und kam irgendwann zu einer simplen geometrischen Überlegung. Je höher die Hürde ist, die vor einem liegt, umso mehr Anlauf braucht es, um drüber zu kommen. Aber wenn man sich nicht umdreht und vor ihr davon läuft, wenn man sich der Aufgabe stellt, und sei sie, auf der A8 zwischen Kirchheim (Teck) und Aichelberg bei Nieselregen und drei Grad in einen konstruktiven Dialog zu treten mit einem Stück Gummi, wenn man einmal tief durchatmet und einfach losrennt, dann ist der Hopps, den man über die Hürde macht, so weit, dass man auf der anderen Seite aufkommt und plötzlich merkt: Hoppla, Quantensprung. In mir steckt ja viel mehr Kraft als ich mir zugetraut hatte. Wo geht es bitte zur nächsten Hürde?
Ich bin inzwischen zu einem leidenschaftlichen Hürdenläufer geworden und das hat auch zu tun mit dem Satz in meiner Küche. Wann immer in meinem Leben ein Autoreifen platzt, gehe ich in die Knie, bedanke mich höflich und fange an, mich warmzulaufen. Ich bin überzeugt: Gerade durch die Bereitschaft, einzusehen, dass die Dinge nicht einfacher werden im Leben, werden sie schöner. Denn mit jeder überhoppsten Hürde wächst ein Gefühl weiter, das Grundlage ist dafür, zufrieden und selbstbestimmt leben zu können: das Vertrauen in sich selbst. Oder kürzer: Selbstvertrauen.
Ich muss oft daran denken, mit welchem Gefühl ich nach der Schule aufgebrochen bin in mein Leben: Ich ziehe in eine neue Stadt und erschaffe dort das Ich, das ich in mir spüre, aber erst noch zur Welt kommen muss. Und wenn das geschafft ist, ist alles fertig für ein Leben, in dem alles leicht wird und heiter. Jetzt nur noch über diesen Berg und durch dieses Tal. Dann ist es geschafft.
Doch dann kam noch ein Berg. Und noch ein Tal. Und ein weiterer Berg. Ich weiß noch sehr genau, wie ich irgendwann zum Beobachter meines eigenen Lebens wurde und mich in einem Zustand umfassender Ratlosigkeit fragte: Ja, wie jetzt – wann kommen denn die Leichtigkeit und die Heiterkeit? Die gute Zukunft, auf die ich all mein Denken, Fühlen und Handeln ausgerichtet hatte, war nie jetzt. An jedem Punkt, den ich mir als Etappenziel zurechtgelegt hatte, stellte sich mir vielmehr die nächste Aufgabe, die zwischen mir und dem Glück lag, und die Zukunft blieb, was in ihrem Wesen steckt: die Aussicht auf einen Horizont, den ich nicht erreichen konnte, weil er sich wie eine Fata Morgana in ein Nichts verwandelte, sobald ich dachte, bei ihm angekommen zu sein.
Es war ein langer und mitunter schmerzhafter und beschwerlicher Weg zu einer Erkenntnis, mit der ich heute fest verwachsen bin: Die Kunst des Lebens besteht nicht darin, Schmerz fern-, sondern auszuhalten. Die Dinge werden nicht einfacher, je älter wir werden. Sie werden komplexer, anspruchsvoller und fordernder, aber dafür auch erfüllender, intensiver und Sinn stiftender, weil mit jedem Tag der Erfahrungsschatz größer wird, als würden wir Münzen in eine Truhe werfen. Und dabei schieben wir entweder Entwicklungen an oder werden von ihnen mitgezogen, die uns vor Aufgaben stellen, für die wir Lösungen finden müssen. Die Dinge werden einfach nicht einfacher im Leben, so sehr wir uns auch darum bemühen. Es ist genau andersherum: Je hartnäckiger wir es versuchen, umso schwieriger werden sie, weil wir nicht mit dem Strom gehen, sondern gegen ihn. Schöner werden sie in dem Moment, in dem wir bereit und in der Lage sind, loszulassen, uns treiben zu lassen und zum Steuermann oder zur Steuerfrau werden auf dem kleinen Segelboot, auf dem wir durchs Leben schippern.
Ogottogott, Sven, ich bin schon wieder tief in den Metaphernwald spaziert. Autoreifen, Hürden, Segelboote. Wenn ich nicht aufpasse, lande ich noch bei einem Zitat von Abraham Lincoln. Ich will Dir ja vor allem eines damit sagen: Ich glaube, ich kann gut nachempfinden, wie sich Dein Leben gerade anfühlt. Ich weiß aber gleichermaßen, dass Dein Herz stärker und schöner werden wird durch alles, was bei Dir gerade passiert. Ich werde erst neben Dir stehen und Dir laut applaudieren, wenn Du über eine Hürde springst, und dann am anderen Ende warten mit einer Flasche Sekt und es wird erstmal getanzt. Weil: Zum Rennen gehören die Pausen wie Rot zu Käppchen. Und vielleicht finde ich sogar noch etwas Besseres, um mit Dir anzustoßen.
Noch was vergessen? Achja, Abraham Lincoln. Ein Mann, der sein Leben lang Hürden überwinden musste und sich bei jedem einzelnen Autoreifen bedankt hätte, wenn es sie damals schon gegeben hätte. Bis er zu einem der bedeutendsten Präsidenten der amerikanischen Geschichte werden konnte, der die Abschaffung der Sklaverei durchsetzte und die Grundlage dafür schaffte, dass die USA im 20. Jahrhundert zu einer Weltmacht aufsteigen konnte, ist er so oft gescheitert, dass es nicht nur keine Schande gewesen wäre aufzugeben, sondern ein Akt der Vernunft. Er aber machte immer weiter und gefragt danach, woher er dafür den Mut und die Kraft nahm, antwortete er: Ich habe mir abgewöhnt, auf dem tosenden Meer ständig an den Strand zu denken, den ich erreichen möchte. Ich segle einfach von Leuchtturm zu Leuchtturm im Vertrauen darin, dass ich so irgendwann automatisch zum Strand kommen werde. Ich finde das sehr weise.
Und apropos Abraham Lincoln: siehe Schlusssong.
Ich drücke Dich, Du Hürdenläufer.
Dein Kai
https://www.youtube.com/watch?v=gqN9flclRio (Öffnet in neuem Fenster)(Phoenix - Alpha Zulu)