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Brief #84: Frühling

Lieber Kai,

Hinter uns liegt das Wochenende, auf dass ganz Berlin seit November geduldig wartet. Das Wochenende, an dem die Kälte, die Dunkelheit, der Winter endlich endet und der Frühling einkehrt. Das ist dieses Wochenende fulminant passiert, mit einem Samstag voller Sonnenschein und bis zu 19 Grad. 

Es sind Wochenenden wie diese, die mir zeigen, das trotz aller technologischen Entwicklung und Möglichkeiten so etwas Einfaches wie Sonne und Wärme schon einen elementaren Anteil am Grundgemüt des Menschen haben. Ich sah es in den Gesichtern auf der Straße, den Bewegungen. Die ganze Stadt war wieder lebendig.

Ja, Kai, ich bin seit einer Woche wieder in Berlin. Die Ostsee hab ich hinter mir gelassen, genauso wie wir alle anscheinend den Winter (beispielhaft beides im Bild in meinem dieswöchigen Foto - ich hab einfach noch kein Frühlingsfoto gemacht).

Und es ist echt wieder schön, hier zu sein, gerade nach zwei Monaten Dreharbeiten an noch kälteren, tristeren Orten. Jetzt also der Frühling und ein neues Kapitel in diesem Jahr und in meinem Leben, ist es hier jetzt gerade wohl mein letzter kinderloser Brief an dich. Statt Urlaubsziele für die Zeit nach meiner Arbeit suche ich jetzt Kitaplätze und Kinderärzte raus.
Dennoch bzw. gerade deshalb habe ich auch das Gefühl, dass das Jahr jetzt erst richtig beginnt. Viele Dinge, auf die hingefiebert habe, kommen zusammen und nun ist also Ende März und ich freue mich auf die warmen Monate, auf Zeit mit Freunden, Zeit mit dieser neuen kleinen Person, Zeit zuhause, Zeit auf Konzerten...Zeit, Zeit, Zeit...
Mir ist in den letzten zwei Monaten wieder klar geworden, wie kostbar das ist: Zeit zu haben. Sich mit Dingen zu beschäftigen, mit denen man sich beschäftigen will und nicht, weil ein Arbeitsvertrag es vorschreibt. Nicht, dass mein Job mir keinen Spaß macht - es ist ja trotzdem kein selbstbestimmtes Zeit-haben oder Zeit-nutzen.
Wenn du dir überlegst, dass den Großteil der täglichen Zeit, die du nicht schlafen verbringst, du in irgendeiner Weise mit Pflichten füllst - damit meine ich nicht nur Arbeit, sondern auch die Nahrungszufuhr oder Hygiene zum Beispiel - stell ich mir schon die Frage, was eigentlich passieren würde, wenn wir all das nicht mehr hätten.

Wenn wir wirklich jeden Tag zehn, zwölf Stunden keinerlei Verpflichtungen hätten. Gäbe es für dich Dinge, mit denen du diese Zeit wirklich gefüllt bekommst? Mit Dingen, die nicht in Wirklichkeit doch aufgrund (d)einer gesellschaftlichen Rolle einen verpflichtenden Ursprung haben? Ein Buch, dass du gelesen haben musst. Sport, den du machen solltest. All sowas. 

Ich glaube, das wäre für uns alle wahnsinnig schwierig. Dafür ist der Mensch auch nicht gemacht, so als Gesellschaftstier. Der Mensch will Pflichten erfüllen und hat glaub ich gar nicht genug Ideen, um einen ganzen Tag nur mit eigenen Wünschen zu füllen. Deshalb hätte ich übrigens persönlich auch keine Angst vor nem bedingungslosen Grundeinkommen (Öffnet in neuem Fenster).

Was soll der Mensch denn die ganze Zeit selbstbestimmt so tun und wollen? Stattdessen ist es auch einfach erfrischend und erholsam, mal nichts zu wollen. Oder gar keine Idee zu haben, was man wollen müsste.
Ohne sich sofort faul zu fühlen.

Um ehrlich zu sein, klingt das jetzt gerade wohl nach der erholsamsten Vorstellung: Sich frei zu machen vom ständigen Wollen und einfach nur zu sein.

Ohne Tat. Ohne Drang. Ohne Gedanken.
Am liebsten im Frühling. Am liebsten jetzt.
Dahinter lauern schon neue Dinge, die ich wollen will, aber das musst ja nicht heute mehr passieren.

Zeit für die Tagesschau.
Hab einen schönen Sonntag Abend. 

Liebe Grüße

Sven

P.S. Die Sterne - Du musst gar nix

https://www.youtube.com/watch?v=-MjvPVrduQg (Öffnet in neuem Fenster)

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