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Brief #82 - Ich hab so lang nachgedacht

Lieber Kai,

Es ist wieder mal einigermaßen viel Zeit ins Land gegangen seit meiner letzten Antwort. Das finde ich schade, es ist eigentlich genug bei mir passiert, was es gewesen wäre, dir auf diesem Wege mitzuteilen. Gleichzeitig kam ich aber gerade deshalb gar nicht dazu, inne zu halten und mir die 2-3 Stunden Zeit zu nehmen, in Ruhe und geordnet dir zu schreiben.

Auch heute wird das nicht so sein, zumindest nicht wirklich geordnet. Ich bin gerade in Stettin für Dreharbeiten, habe auch nachher, quasi auf Zuruf, noch ein Meeting. Dieses Jahr, das nun wieder für mehr als ein Zwölftel um ist, war bisher eins, dass mich sehr beschäftigt hielt, indem Atempausen eher die Ausnahme als die Regel waren. Neben diesem Brief, den ich schon vor zwei Wochen schreiben wollte, türmten sich auch schon wieder die Text- und Sprachnachrichten von Freunden und Freundinnen, die ich dann heute nach und nach endlich "abgearbeitet" habe. Und es ist so blöd, von abgearbeitet zu schreiben, aber irgendwie fühlt es sich so an.

So ein Filmprojekt, darüber habe ich ja schon ein paar Mal erzählt, saugt mich halt für die Drehzeit komplett auf. Das ist Segen und Fluch zugleich. Dieser Zustand geht noch bis Mitte bzw. Ende März. 

Dann beginnt schon bald ein neuer Zeitabschnitt, der mich auch schon jetzt sehr beschäftigt. Du weißt es ja schon: Ich werde Vater. Wie du dir vorstellen kannst, verfolge ich weiter gesellschaftliche Debatten und höre Podcasts, um thematisch irgendwie am Ball zu bleiben - auch als Ablenkung von den Sorgen des Drehalltags. Und eigentlich will ich diese Briefe auch weiter dafür nutzen, genau darüber zu reden. Aber nicht heute.
Heute wirkt das alles gerade sehr klein und unbedeutend, wenn ich es damit vergleiche, was da in wenigen Monaten (halt stop...WOCHEN) auf mich zurollt. Besser: In mein Leben tritt. Ich werde Vater. Immernoch ein merkwürdiger Satz für mich, der schon jetzt Folgen hat, schon jetzt meine Perspektive verändert, auf all die kleinen Kinder und Babies, die mir so im Alltag begegnen. Lebensverändernd ist das alles auch jetzt schon, das kannst du mir glauben.

Es geht mir eigentlich ganz gut damit, Kai. Ich freue mich drauf und fühle mich grundsätzlich auch vorbereitet - beziehungsweise weiß, dass ich mich nicht vorbereiten kann, sondern hauptsächlich Zeit haben sollte, um mich in diese neue Rolle hineinfinden zu können. Die Rahmenbedingungen dafür schaffe ich gerade. Also alles gut. Oder? 

Ich befinde mich in einer merkwürdigen Phase. Auf der einen Seite stecke ich bis zu den Ohren in Arbeit. Arbeit, die den Großteil meiner Energie und Aufmerksamkeit von mir verlangt. Gleichzeitig steht direkt dahinter schon eine lebensverändernde Situation vor mir, wie ich sie noch nie erleben durfte. Ich schlittere ein wenig in sie hinein. Das ist nicht wirklich so, wie ich mir das immer ausgemalt habe.

Es ist auch wahrlich komisch, mit Menschen über die nahende Geburt zu sprechen. Es gibt einige, wenige kinderlosen Singles und Pärchen, gerade auf Parties, die bei ihrer Beglückwünschung fast schon einen Anflug von Schadenfreude im Gesicht tragen. Nach dem Motto "Puh, gut, dass ich noch kinderlos bin." Ich kann ihnen das nicht verübeln. Ich verstehe ja, wo das herkommt. Gerade als kinderlose Person, die auch glücklich über diesen Zustand ist, klingt das sicherlich erstmal so, als würde ein Kind bedeuten, sich einschränken zu müssen.

Auch viele Eltern, die diese Zeilen lesen, werden gerade eifrig nicken und dem zustimmen. Auch aus dieser Ecke höre ich reihenweise Sätze wie "Mach jetzt nochmal einen drauf, das wird das letzte Mal für eine lange Zeit sein" oder "Genieß noch den Schlaf, den siehst du erst in sechs Jahren wieder". Die Überlastung, die Mühen, der Verzicht.

Ich verstehe das alles. Ja, es wird ja auch so sein. Es wird ein neues Leben beginnen, ein altes, irgendwie, enden. Und natürlich sind im Kopf auch all die Dinge, die ich mal immer machen wollte, und bisher nicht gemacht habe. Die Rucksackreise durch Südamerika. Der Roadtrip durch die USA. Indien. Ein Sammelsurium an kuriosen Ideen und wilden Träumen, die mit der Zeit im Kopf geblieben, aber nie umgesetzt wurden und die sich nun auch irgendwie erstmal begraben anfühlen. Ich glaube jeder hat die.
Diese Wahrnehmung ist zeitgleich aber nicht ganz fair und spiegelt auch nicht wirklich wieder, wie meine Situation wirklich so aussieht. Es ist ja nicht so, dass ich jetzt einen Flug gecancelt habe oder jede Nacht feiern gegangen bin. Oder, dass es definierte Pläne, konkrete Umsetzungen vor der Tür standen. Die Träume waren, eben, hauptsächlich genau das - Träume. Ein flauschiger Zufluchtsort, ein bequemer Raum aller Möglichkeiten, wenn die Welt mir zu viel oder zu öde war.
In meiner Realität ist es nun so, dass die meisten dieser Träume noch aus einer anderen Zeit stammten, in der auch ich ein anderer Sven war. Diese Träume sind zwar hängen geblieben, sind immernoch in meinem Kopf, habe sich aber immer weiter von dem entfernt, was eigentlich mein jetziges Leben ist. Und ich muss mich wirklich fragen: Will ich in diese Richtung zurück? Strebe ich wirklich noch nach den gleichen Träumen wie damals? Ich glaube, dass es da auch einen Grund gibt, warum sie nie erfüllt wurden. Und die Geburt meines Kindes dementsprechend meinen Träume nicht entgegen steht, sondern für sie. 

Was diese Situation stattdessen bei mir ausgelöst hat, ist mich noch mehr zu fragen, was ich denn von dieser Welt möchte und was ich denn wirklich tun will - und wovon nicht nur träumen? Gerade dadurch, dass da jemand ist, für den ich die Verantwortung habe -  was will ich mit meiner knappen Zeit anfangen? Was will ich sehen, tun, hören, erleben?  Wie schreibe ich die Geschichte weiter?  Weniger gedankliche Flucht, mehr praktische Realitätsbildung. 

Ich möchte nicht irgendwann zurückblicken und es mir gedankich bequem machen mit dem Satz "Dann wurde ich halt Vater, deshalb wurde nichts daraus". Nur weil die Dinge nicht einfacher werden, können sie doch trotzdem schöner werden, oder?
All das ist ein Prozess und der wird sich auch gerade jetzt, inmitten meiner beruflichen und privaten Überforderung, nicht lösen können. Das muss es auch garnicht. Aber ich bin in diesem Prozess und bin froh über jeden Fortschritt. Schritt für Schritt.

Lass uns mal wieder häufiger schreiben. Mir fehlt das!

Liebe Grüße

Sven

P.S. Kid Kopphausen - Schritt für Schritt

https://www.youtube.com/watch?v=r5M7zmKMFew (Öffnet in neuem Fenster)


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