Lieber Sven,
in fünf Tagen ist Heiligabend, das Fest der Liebe, und ich nehme diesen Tag zum Anlass, Dir von einem Geschenk zu erzählen, das mich in diesem Jahr auf eine Weise betört und glücklich gemacht hat, dass mir beinahe die Worte fehlen.
Jeden Morgen gucke ich als Erstes, ob es immer noch so schön aussieht wie am Abend zuvor. Manchmal ist der Anblick etwas ernüchternd. Aber das liegt dann an mir, nicht am Geschenk. Zu spät ins Bett gegangen, zu viel Wein getrunken. Nach einer Tasse Kaffee ist meist alles wieder in Ordnung.
Wenn doch nur alle Menschen auf dieser schönen Erde so ein Glück hätten wie ich, denke ich oft still bei mir. Dann gäbe es keine Kriege und keine Corona-Spaziergänge, weil alle Menschen so sehr damit beschäftigt wären, sich tagein, tagaus zu freuen, dass ihnen schlicht die Zeit fehlen würde, auf dumme Gedanken zu kommen. Aber das ist natürlich unmöglich. Das Geschenk, das mir zuteil wurde, gibt es nur ein einziges Mal. Denn ich bin es selbst.
Kleiner Scherz.
Ich habe ihn mir abgeguckt von einem meiner Helden dieses Jahres: Danger Dan. Einem der schönsten Großmäuler unserer Zeit, weil er schon lang vor "Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt" oder „Die gute Nachricht“ Songs gemacht wie „Die Grundvoraussetzung“ oder „Die Prinzentragödie“ aus dem Album „Reflexionen aus dem beschönigten Leben“ von 2018, die so vor Selbstherrlichkeit und Arroganz strotzen, dass ich dazu sehr viel gelacht und getanzt habe in diesem Jahr, auch weil so klar ist, dass hinter dem vorgetäuschten Größenwahn eine zarte und zornige Seele wohnt, die mit sich und der Welt und den ganzen Arschlöchern da draußen ringt und versucht, die Kleinheit zu umarmen, die einen beim vielen Nachdenken manchmal befällt.
Letztlich ist das doch eine der großen Aufgaben unseres Lebens: Zwischen den Polen aus Selbstüber- und Selbstunterschätzung ein gesundes Maß zu finden, das uns einerseits stark macht und andererseits verletzlich hält. Danger Dan kann man diesem stetigen Auspendeln zusehen und zuhören und dafür liebe ich ihn. Der Zündfunk, ein sehr schönes Radiomagazin vom Bayerischen Rundfunk, hat seinen Song von der Kunstfreiheit völlig zurecht zum Toptrack des Jahres gekürt und im Interview dazu sagt er: (Öffnet in neuem Fenster)
„Ich glaube, in meiner Biografie war ja auch sehr lange nicht abzusehen, was aus dem Typ mal werden soll. Und jetzt hatte ich einen guten Run dieses Jahr, der mir auch hilft, mich darin bestätigt zu sehen, dass das, was ich gemacht habe, Sinn ergeben hat.“
Nicht aufzugeben und dem eigenen Weg treu zu bleiben, auch dann, wenn nicht absehbar ist, wann ein Etappenziel erreicht ist, das den Aufwand rechtfertigt, um es bis hierhin geschafft zu haben – auch das ist eines der Geheimnisse eines gelingenden Lebens. Ganz einfach in der Theorie und manchmal so ungeheuer anstrengend in der Praxis.
Im selben Gespräch wird Danger Dan nach seinen Lieblingsmomenten im Jahr 2021 gefragt und ich habe mir dieselbe Frage gestellt: Was waren meine? Und ich kam auf die Idee, sie Dir in drei Songs zu schildern. Es sind meine Geschenke an Dich in diesem Jahr.
Der erste begleitet mich seit über zehn Jahren. Ich war mit einem Freund bei der Fußball-WM in Südafrika. Zur Hälfte der Reise zwischen Kapstadt und Johannesburg waren wir in einem Aussteiger-Nest direkt am Meer gelandet. Mit Männern, deren Vollbärte rochen, als betrieben sie darin ihre kleine Marihuana-Plantage, und einer Frau, die sich direkt am Meer ihren Traum eines eigenen Open Air-Restaurants erfüllt hatte. Dort lernten wir ein Paar kennen – sie Österreicherin, er Südafrikaner –, das uns die irrste Liebesgeschichte erzählte, die ich in meinem Leben jemals gehört habe. Ja, ich weiß, ich habe sie Dir wahrscheinlich auch schon dreimal erzählt. Für alle, die sie allen Ernstes noch nicht kennen sollten (meinst Du wirklich, Sven, dass hier andere mitlesen können?) : bitteschön. (Öffnet in neuem Fenster)
Am Morgen nach dieser Begegnung saß ich um sechs auf der Veranda des Holzhauses direkt über dem Ozean, in dem wir übernachten durften (von diesem Moment stammt das Foto oben). Und ich hörte diesen Song, der davon handelt, nach einem Sturm irgendwann auf dem Gipfel eines Hügels anzukommen, blickte auf den Hügel vor mir, wusste, dass ich gerade selbst in einem Sturm steckte, dachte an die Liebe und fragte mich, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn ich mal oben auf dem Hügel angekommen sein werde. An diesem Moment denke ich seitdem mindestens einmal am Tag und gerade in den vergangenen eineinhalb Jahren ist er mir zu einem guten Freund geworden: Ich beame mich in Gedanken auf diesen Hügel in Südafrika, liege in der warmen Morgensonne und höre unter mir das Meer rauschen.
https://www.youtube.com/watch?v=SWYG7lZBc6U (Öffnet in neuem Fenster)(Mumford and Sons – "After the storm")
Aber damit allein soll dieses Jahr nicht zu Ende gehen. Neulich erzählte mir jemand, dass es in Berlin gerade nahezu unmöglich ist, einen Platz für eine psychologische Betreuung zu bekommen. Wir stecken in unserem zweiten Corona-Winter. Unsere wund gedachten Seelen dürsten nach Wärme, Freiheit und Freude und manche von uns haben sich dabei so aufgerieben, dass sie gar nicht mehr daran glauben können, dass es irgendwann auch wieder hell wird und warm und wir gemeinsam tanzen werden, und dass sie nun Hilfe brauchen und keine finden. Woher kommt da der Trost, Sven? Vielleicht aus diesem Lied, das ich mir oft anhöre, wenns mir beim Blick aus dem Fenster etwas kalt wird. Was soll ich groß dazu schreiben? Das kann Marlène selbst viel besser:
Deine Hoffnung fürs neue Jahr
hast du verloren diesmal schon Ende Januar.
Doch weißt du noch, wie sich der Wind verfängt,
wenn Du im Kleid mit dem Rad durch die Straßen sprengst?
Und fühlst du noch die Sommernacht,
die dich immer noch wärmt, wenn der Morgen schon wacht.
Weißt du noch, wie du die Sorgen verlierst,
wenn du endlich mal nicht mehr fürchtest zu frieren.
Es ist Februar und bald ist die Sonne da.
Die letzten Viren ziehen vorbei.
Bald sind die Bronchien wieder frei.
(Marlène – "Februar")
Tja, Sven. Februar. Die acht Wochen bis dahin bekommen wir auch noch rum. Und dann? Kommen die Sonne und das Licht und wir werden tanzen und schreien und von Mai bis Oktober nur zwei Stunden schlafen pro Nacht. Unser Leben wird sich dann anfühlen wie ein wahr gewordenes Video von Polo & Pan, zwei französischen DJs, die jahrelang auf Festivals und in Clubs aufgelegt haben und sich dann irgendwann dachten, dass sie am liebsten zu ihrer eigenen Musik tanzen würden. Die haben sie dann einfach aufgenommen. So wie man insgeheim doch auch am liebsten über die Witze lacht, die man selbst macht.
https://www.youtube.com/watch?v=1KSBCNHXOUA (Öffnet in neuem Fenster)(Polo & Pan – "Feel Good")
Oh Gott, wird das alles schön, Sven. Beziehungsweise, um es mit einem Witz zu sagen, über den ich laut lachen kann:
Erwischt eine alte Frau das Häschen beim Onanieren.
Meint die alte Dame: „Das ist ja obszön!“
Antwortet das Häschen: „Und ob das szön ist!“
Insofern: Ich wünsche Dir und allen, die hier mitlesen, szöne Weihnachten. Ob zu zweit oder in großen Familien, irgendwo im Grünen oder am strahlenden Weihnachtsbaum. Und natürlich: viele Geschenke (meins habe ich ja schon).
Dein Kai