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Lieber Kai, 

Danke für deine Glückwünsche und den schönen Samstag Abend. 

Heute wird mein Brief sehr kurz sein. Ich entferne mich dabei ein wenig von unseren sonstigen politischen, gesellschaftlichen Debatten. Oder tu ich das doch nicht?

Es geht um meine Bahnfahrt von vorvorletzter Nacht, meine Bahnfahrt  von Hannover nach Berlin. Ich bin mir an dieser Stelle gar nicht sicher, wie gut ich mein wirres Gedankengestrüpp dazu in einen Brief übertragen kann, aber ich versuche es einfach mal. Trial and Error. 

Die letzten paar Tage war ich für einen Dreh in Niedersachsen. Gedreht haben wir einen Trailer für einen potentiellen Kinofilm, der noch Förderung und Financiers sucht und eben mit diesem Trailer eben jene finden möchte. Beim Film handelt es sich um ein Musical, indem, kurz gefasst, die Einkunft von Geflüchteten ein kleines niedersächsisches Dorf umkrempelt. Ich weiß, das klingt jetzt etwas platt, es wird in der Story dann doch noch ein wenig komplizierter (und so viel darf ich jetzt ja auch nicht verraten, ich hab schon länger das Gefühl, das unsere Briefe mitgelesen werden). 

Zwei Tage haben wir gedreht, es war ein heißer Ritt, irgendwie in der Kürze der Zeit die wichtigsten Momente der Geschichte mit einem großen, singenden Ensemble zusammenzufassen. 

Gestern, um 19:50, am Ende des 2. Tages, nach zwei zwölf Stunden Tagen Dreh durchgehend mit FFP2 Maske, als ich mit drei Teammitgliedern endlich im Shuttle auf dem Weg zum Bahnhof Hannover war, verspürten wir alle Euphorie, aber auch Erleichterung und Müdigkeit, da der Stress und die Anspannung endlich abfiel. Es war einfach geschafft. Wir waren geschafft.

Wir kauften uns am Bahnhof noch Bier und Chips für die Zugfahrt, nahmen die Verspätung unseres Zugs in Hannover um 25 Minuten mit der größten Gelassenheit in Kauf und ließen die Tage nochmal revue passieren.
Tranken wir halt am Bahnsteig unser Bier und rauchten die eine oder andere Zigarette. Wir lernten uns drei jetzte endlich besser kennen, fernab der hohen Konzentration der Arbeit. Eine Wohltat war das, für uns alle, und so suchten wir trotz unterschiedlichster Sitzplatzreservierungen beim dann endlich einrollenden Zug eine Möglichkeit zusammen zu sitzen. 

Als wir dann um 20:56 in den Zug einstiegen, merkten wir erst einmal, dass wir vor lauter Gequatsche nicht im richtigen Zugabschnitt waren, mussten also bis zum Halt in Wolfsburg warten, um in diesen steigen zu können. Also, was taten wir im überfüllten Zug? Wir setzten uns auf den Boden. Passenderweise kamen nicht nur wir auf diese glorreiche Idee, sondern auch noch zwei Typen, die ebenfalls mit Bier sowie einer großen Tüte Pommes bewaffnet, anscheinend das gleiche Problem hatten. Sie waren Wagen 31, wir 32. Wir saßen auf dem Boden von Wagen 21. Kein Durchgang, da zwei unterschiedliche, zusammengefügte Züge. Warten bis Wolfsburg. Mist. Aber auch egal.

So saßen wir da als zwei Grüppchen sie boten uns Pommes an, wir ihnen Chips. Und wir entwickelten den gemeinsamen Plan, in Wolfsburg den Zugabschnittswechsel zu wagen. Beide Typen, sie waren wohl so ca. 30 Jahre alt, hatten einen märkischen Dialekteinschlag und wirkten, verzeih mir die Oberflächlichkeit, im ersten Moment mit ihrer Art und ihren "WEIHNACHTSMARKT HAUPTBAHNHOF HANNOVER" Bändchen irgendwie nicht so ganz helle  (sage ich, der selbst mit Chips und Gilde Bier da auf dem Boden saß). Den beiden ging es aber ähnlich, sie sahen in uns sofort den Berliner Snob mit entsprechender Großstadtarroganz (ob diese Einschätzung stimmt, überlasse ich an dieser Stelle dir, lieber Kai).

Wir lernten, dass die beiden aus Stendal waren und für den Weihnachtsmarkt nach Hannover gekommen sind. Die Schaffnerin passierte unsere Gruppe erstmal mit Argwohn, kommentierte es mit "Auch auf den Gängen gilt hier die Maskenpflicht", ging aber dann weiter. Ihren Kommentar wertete ich so in der heiteren Laune bei zweitem Bier als ein wenig passiv aggressiv, bei ihrer Rückkehr und der Ticketkontrolle war sie aber dann doch ganz freundlich. 

21:27 - Wolfsburg. Mit Sack und Pack sprangen wir aus dem Zug, um in den vorderen Zugabschnitt wieder einzusteigen. Das schafften wir, waren aber immernoch am falschen Ende des Zuges. Also machten wir uns zu fünft (3x Berlin, 2x Stendal) mit unseren Koffern (Berlin) und Rucksäcken (Stendal) auf den Weg zu unserem Wagen 32, durch die 1. Klasse, durchs Bord Bistro, durch die ganze Bahn. Einer der beiden neuen Freunde hatte die Angewohnheit, alle Leute, die auf wem Weg auch nur hochguckten, zu grüßen. Mir, als letzter in unserer Polonäse, war das immer ein wenig peinlich, versuchte mit nem lockeren Spruch die Stimmung bei diesen Leuten aufzuheitern, bevor sie den Gruß noch als irgendeine Art von Provokation deuten könnten. Einerseits, weil ich ein harmoniebededürftiger Mensch bin, andererseits, weil ich meinen neuen Stendaler Freund da nicht falsch verstanden haben wollte. Kommunikation ist manchmal schwierig. 

Dann endlich: Wagen 32. Und mit dem Charme einer meiner Kolleginnen konnten wir uns dann sogar zwei begehrte Vierer im ICE krallen, die Stendaler zu zweit in einem, wir zu dritt im anderen. Der Stendaler Freund von eben sprang sofort auf und holte Bier für uns alle aus dem Bordbistro. Die Stimmung war fröhlich, die Stimmung war gut. Wir erzählten von unserem Filmdreh und  lernten, dass es für unsere neuen Stendaler Freunde seit langem Tradition ist, zu Weihnachtsmärkten zu fahren. Die Begründung "Wir saufen halt gerne" konnte ich nicht so richtig glauben, ich glaube schon, dass da mehr hinter steckte. Tradition. Freundschaft. Zu sagen "wir saufen halt gerne" ist ne gute Art, da niemanden an sich ranzulassen und die wahre Bedeutung nicht sofort für alle auszustellen. Andererseits - anscheinend sauften sie ja wirklich gerne. Ich trank derweilen mein geschenktes Bier. Prost. 

Sowieso waren die beiden ein interessantes Duo. Auf der einen Seite das laute Maul, für keinen Spruch zu schüchtern. Daneben der ruhigere Typ mit randloser Brille, der versuchte, seinen Freund im Zaum zu halten. Eine Freundschaft, das spürte man, die es schon ewig gab. 

Was uns dann irgendwann in all unserer neu gewonnen Kumpanei auffiel, war das fatale Problem an Wagen 32. Dieser war nämlich, jetzt kommt's, im Ruhebereich des ICEs. Am Ruhebereich scheiden sich die Geister: Für die einen ist er heilig, für andere ist er auch nur ein weiterer Waggon mit reservierten Sitzplätzen. 

Da saßen wir also zu fünft, in unserer Euphorie, mit Bier und unserer Lust, uns zu unterhalten (sie arbeiteten übrigens als Steuerberater bzw. im Umweltamt von Stendal im Bereich Wasserwirtschaft, hätte ich nie geglaubt) und versuchten leise zu sprechen, um uns an die Regeln zu halten. Lief so semi, und erst ein Mann und dann zwei weitere Frauen hatten genug von uns und gingen kopfschüttelnd oder kommentarlos. Eine Frau zwei Reihen hinter uns hatte ein ganz anderes Problem mit uns. Wir sollten schneller trinken und essen, damit wir wieder die Masken trugen. Unser Verhalten wäre "tut mir leid, ein wenig assozial". 

Waren wir das? Der Satz beschäftigte mich sofort, war das doch überhaupt nicht in meinem Sinne (und bei zwei Bieren kann auch der Alkoholpegel da nicht die Wahrnehmung zu stark beeinflusst haben). Ich hatte nicht das Gefühl, dass wir besonders laut waren oder besonders langsam tranken. Vielleicht kam auch nur unser grundsätzlicher Vibe nicht so gut an. 

Ich weiß, wie es ist, auf der anderen Seite zu sitzen und nach ner langen, verspäteten Zugfahrt, auch einfach froh zu sein, wenn alle mal im Zug die Klappe hielten. Aber bei dieser Zugfahrt war ich mal der Gegenpart, der Laute. Kommt selten vor, echt, aber diesmal war es so. Und ich gebe zu, ich mochte das. Derjenige zu sein, dessen Flüstern lauter war als normales Sprechen. Ich genoss diesen heiteren Austausch, diese gelöste Stimmung. Warum denn auch nicht, nach einer anstrengenden Woche? War ich dann gleich assozial, weil ich im Zug noch ohne Maske ein Bier trank und mich in normaler Gesprächslautstärke im Ruhebereich unterhielt?  Ich glaube die Antwort hängt bei vielen Menschen von der Tagesform ab. 

22:00 - Stendal. Obwohl unsere beiden namenlosen neuen Freunde uns sogar einluden, noch mitzukommen und im Keller des Maulhelden weiterzutrinken, entschieden wir uns doch für die Heimfahrt. Der Abschied durch die Scheibe war herzzerreißend. Dann fuhr der Zug weiter und unsere neue Stendaler Freundesgruppe verschwand so jäh wie sie erschien. Sie werden wohl für immer namenlos bleiben.

Kurz vor dem Ausstieg am Berliner Hauptbahnof konnte ich in den Blicken mancher Bahngäste sehen, dass es auch Menschen gab, die recht amüsiert von unserer Zuggruppe waren. Also wenigstens ein paar Leute haben wir entertained dabei, immerhin.

Wo wir schon bei Begegnungen sind, empfehle ich dir diese Doku oder zumindest folgende anderthalb Minuten (33:20 - 35:00). 

https://www.youtube.com/watch?v=VwSfZPFeLco&t=2000s (Öffnet in neuem Fenster)

Wie ich nun merkte, wurde der Brief doch nicht kurz. Ich glaube, man kann aus diesen Begegnungen und Situationen einiges ziehen, aber fürs erste spanne ich mal keinen Bogen, sondern lasse die Gedankenkrümel einfach mal so liegen.

Hab einen wundervollen dritten Advent. 

Liebe Grüße

Sven

https://www.youtube.com/watch?v=JtxlArfnSaI (Öffnet in neuem Fenster)

(Warmduscher - Wild Flowers)

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