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Zu Film, Medialem und Lebensformen

"Lebensform" als philosophischer Begriff ist spätestens seit Ludwig Wittgensteins "Philosophischen Untersuchungen" populär. Sprache bildet Lebensformen, so seine These, in denen wir uns über die Welt verständigen. Inmitten derer wir sprechen und schreiben.

Wir erzählen Witze, folgen Anweisungen der Polizei bei Verkehrskontrollen, diskutieren darüber, ob nun mehr Vögel im Park wohnen als vor zwei Jahren oder auch nicht. Oder dass es falsch sei, nach dem Schlagermove Anwohnern auf St. Pauli in den Hauseingang zu pinkeln.

Wir teilen dabei immer schon ein Vorverständnis dessen, was es heißt, eine Anweisung zu geben und ihr zu folgen (und auch, wer eine solche durchsetzen kann), wie man etwas als wahr oder falsch begreift oder ob eine Handlung richtig sei. Wir lernen Bedeutungen, indem Andere uns in Verwendungsweisen hinein sozialisieren. Wir betrachten etwas als angemessen oder auch nicht und zeigen Unsicherheit, wenn wir die Regeln in manchen Kontexten nicht kennen - welches Besteck nutzt man, wenn da mehr als eine Gabel liegt? Die Gabel selbst bedeutet nichts. Wir lernen durch Imitation und Anleitung jedoch, wie sie zu nutzen sei - deren Bedeutung im Wissen großbürgerlicher Rituale. Was man damit in welcher Reihenfolge macht, wenn sie in einem Sterne-Restaurant herum liegen, wissen wir ggf. nicht, auch wenn wir das Wort "Gabel" sinnvoll verwenden können.

So bilden sich Grenzziehungen in Kulturen. So strukturiert sich unser Alltag, erhält eine je spezifische Form, die Kooperationen organisiert. Rahel Jaeggi entfernt in ihrer vorläufigen Definition von Lebensformen jedoch die Polizei. Es handele sich um

 "Zusammenhänge von Praktiken und Orientierungen sozialen Verhaltens mit normativem Charakter, die kollektive Lebensführung betreffen, obwohl sie gleichzeitig nicht streng kodifiziert sind oder institutionell verbindlich verfasst sind."[1] (Öffnet in neuem Fenster)

 Hinzu träte Sachhaltigkeit, Dauerhaftigkeit und Selbstständigkeit. Sie gewinnt diese Konzeption im Rahmen der Diskussion zwischen Gerechtigkeit und gutem Leben. Diese Debatte führten Philosophen infolge der abstrakten Prinzipienmoral Immanuel Kants. Sie kann Fragen nach dem Glück und gelingender Lebensbewältigung nicht beantworten, nur das, was richtige Regelbegründungen seien. Kant entkoppelte Fragen der wechselseitigen Achtung und formalen Gleichheit als Gerechtigkeitsideal gleicher Rechte für alle von jenen, was es hieße, ein gutes Leben zu führen.

 Doch immer nur Prinzipien zu reformulieren kann nicht dabei helfen, Fragen danach zu beantworten, wie ich ein erfülltes Leben zusammen mit Anderen verbringen kann und sie dabei doch respektiere. Jaeggis Modell unterscheidet einen engeren Bereich von Moral z.B. in der Kindererziehung - Du darfst Dein Kind nicht schlagen, musst es als Individuum anerkennen - von Fragen, die durchaus diskutiert werden können wie temporärer Taschengeldentzug oder Verpflichtung zum gemeinsamen Urlaub bis zum Alter von 14 Jahren. Dann, wenn man sich beides leisten kann.

 Betrachtet man Filme, Serien, auch vieles im Feld der Reportage, werden solche Fragen als problematisierende gestellt. Regisseur*innen inszenieren Antworten oder Ratlosigkeit mit unterschiedlichen Haltungen, Beurteilungen oder Enthaltsamkeit als visuelle Perspektiven auf die mit den Fragen korrespondierenden Probleme. Diese Perspektiven können mittels der Tonspur gestützt oder konterkariert werden, nur mit "Atmo" arbeiten, die oft separat aufgezeichnet wird, Soundeffekte kreieren und mit Musik Sichtweisen ergänzen oder ironisieren, auch verstören, überraschen oder dominieren, ja, Bildsequenzen sogar definieren. Wenn die Erziehungsmaßnahme, z.B. der Taschengeldentzug, mit Heavy Metal untermalt wird, guckt sich die Szene anders an, als wenn Mozart oder das Lied der Schlümpfe mit den Bildern verschmilzt oder auch nur das laute Schimpfen eines Vaters zu hören ist. Solche Lektüren, aber auch Artikulationen setzen das Wissen über deren Verwendung und soziale Verortung voraus. Es existiert eine sprachanaloge "Grammatik" solcher Gestaltungsweisen, Kenntnisse über gesellschaftliche Realitäten und Genres. Arthouse signalisiert oft: "Achtung, Kunst!", während man bei RTL 2 rausfliegt, wenn etwas auch nur entfernt nach Kunst riechen könnte. Bilder und Klänge sind sozial konnotiert und denotiert und eingebettet in Lebensformen und damit korrespondierenden Praxen, in denen sie zirkulieren. Die Bedeutungen und Bezüge auf der Leinwand, dem Smartphone, dem Bildschirm sind uns wahlweise vertraut oder auch nicht. Sprache, Bilder und Klänge haben unterschiedliche Grammatiken, die jedoch aufeinander bezogen bleiben, eben weil sie als Praxis in Kontexte von Lebensformen eingewoben sind.

 Um beim Beispiel "Taschengeldentzug" zu bleiben: In einer immensen Fülle von Produktionen steht Familie im Mittelpunkt - von Boulevard-Formaten bis hin zu Xavier Dolans Serie "Die Nacht, als Laurier erwachte". Dolan inszeniert hier eine Familie, die Hälfte der Mitglieder auf Droge, in expressiven, handkameraartigen Close-Ups fiebrig und mit teils dröhnender Tonspur. Sie quälen einander, weil sie ein Trauma nicht verarbeitet haben. Allerdings eines, das gar nicht ihnen widerfuhr, sondern jemand anders. Jemand, der nicht in die heteronormative Familienordnung passte, und, so oft die Moral von der Geschicht, als Schwuler der scheinbaren Stabilität des Familiengefüges geopfert wurde. Die Story verhandelt Moral, Normatives. Ganz wie Jaeggi es beschreibt. Präsentiert, dass Verstöße gegen Moral auch auf der Ebene gelingenden Lebens Konsequenzen haben. Ähnliche Diskussionen von Moralität findet sich in den Plots und Szenarien expliziter Familienserien wie einst "Diese Drombuschs", "Dallas" oder "Dynasty" ebenso wie in den Subplots unzähliger Krimis. Häufig haben die Ermittler*innen ein privates Problem, das sie in moralische Konflikte zwischen beruflicher und privater Pflichterfüllung stürzt. Ihre Eltern leiden unter Parkinson, ihre Partner folgen eigenen Bedürfnissen, ein Kind will versorgt werden. Die Frage des gelingenden Lebens stellt sich vor lauter Pflichterfüllung zumeist gar nicht mehr.

 In prämierten und gefeierten Filmen wie "Parasites" von Bong Joon-ho ebenso wie in "Der Pate" werden andere Familienprobleme verhandelt. "Parasites" verzichtet dabei auf jede Moral und gibt sich freudvoll und grotesk der Absurdität von Lebensformen im ganz normalen Kapitalismus hin. "Der Pate" inszeniert eine Binnenmoral, in der Macht und Rache eine zentrale Rolle spielen, und, wie in den USA oder Südkorea häufiger als in deutschen Filmen und Serien üblich, eine drastische Outlaw-Lebensform. Berühme Outlaws sind auch das Killerpaar in "Thelma & Louise", nicht ganz so bekannt das in "The Living End" von Gregg Araki, indem zwei mit AIDS infizierte Schwule sich an der Gesellschaft rächen. Beides Figurenkonstellationen, die Familienmodelle längst hinter sich gelassen haben.

 Somit erzählen Geschichten rund um Familie (oder das sich dezidiert außerhalb ihrer verorten) oft gerade nicht das, was Rahel Jaeggi unter Berufung auf Hegel aufzeigen will: dass sich Lebensformen für eine bestimmte historische Situation als Problemlösung angeboten haben, ja, entstanden sind. Ganz im Gegenteil: Film und Serie erfreuen sich zumeist an scheiternden Problemlösungen. Seltener - wie im Falle von "Little Miss Sunshine", in der eine ganze Familie eine Tochter bei einem Schönheitswettbewerb für Kinder unterstützt, dessen Kriterien sie nicht erfüllt - zeigen sie Muster gelingender Kooperation auf, was Jaeggi zufolge als Ziel Lebensformen strukturieren würde. Zumeist geht es um die Folgen des Dysfunktionalen, in deren Fall dennoch unterschwellig Muster dessen suggeriert werden, was Familie als heile Welt der Liebe, wechselseitigen Anerkennung und Gemeinschaftlichkeit bedeuten könnte. Psychologische Dramen orientieren sich an Normbrüchen wie Missbrauch oder Alkoholismus, suchen infolge von Fehlentscheidungen oder Schicksalsschlägen in deformierte sozialen Mikroorganismen auf. Ob denn nun wirklich Familie daran "schuld sei" oder auch nicht, wenn etwas so richtig schief geht, diskutiert z.B. das gefeierte Werk "We need to talk about Kevin". War der Täter eines Schulmassakers von Geburt an böse, oder hat die Mutter "etwas falsch gemacht"? So dessen Grundfrage.

 Das Irritierende an Jaeggis Modell ist, dass sie die ökonomischen Notwendigkeiten, die zur Etablierung der heterosexuellen Kernfamilie führten, ja, auch die Zwänge, ein verlottertes Lumpenproletariat auf den rechten Weg zu führen, nicht thematisiert dort, wo sie Hegels Sittlichkeit referiert. Familie sei konzipiert als Fortschritt hinsichtlich der Anerkennung von Frauen, zumindest sei das in der Struktur so angelegt. Wer putzt und wer in den Schächten knechtet, das diskutiert sie nicht in "Kritik von Lebensformen".

 Das Ökonomische reicht jedoch tief hinein in Ordnungen des Wohnens, also auch architektonische "Problemlösungen" und damit korrespondierenden Grundrissen und Mietzahlungen. Sie bilden buchstäblich Lebensformen. 80 qm, 3 Zimmer, Küche, Bad. Film ist häufig in Architektur situiert, die in deren Form er sich bewegt, um mit der Kamera Haltungen zu ihr einnehmen, verschiedene Sichtweisen einzufangen. Ob nun im "Overlook Hotel", in Brüggemanns "3 Zimmer, Küche, Band" ausdrücklich rund um junge Menschen in WGs, "Downtown Abbey", ja selbst der Horrorfilm "Cube" oder "L'Année dernière àMarienbad" sind strukturiert über die Architektur von Lebensformen. Andere Filme erkunden die Raumordnungen ganzer Städte, so Orson Welles "Der dritte Mann" als ein Beispiel für unzählige Filme, in deren Kanalisationen, U-Bahn-Tunneln und verborgenen Gängen das lauert, was die Normalität von Lebensformen angreifen könnte.

Der bereits erwähnte Film "Parasites" erkundet solche Raumordnungen: eine im von Feuchtigkeit und Fäulnis bedrohten Souterrain wohnende Familie, die sich zudem die Miete kaum leisten kann, "nistet sich" im grandiosen Anwesen einer großbürgerlichen Familie "ein". Diese stößt letztlich in einem verborgenen Keller auf das, was ihre Lügen buchstäblich platzen lässt.

 Während Klassengegensätze wie in "Parasites", die mit Kontrasten zwischen Lebensformen spielen, selten nur noch Politik bestimmen, diskutieren sie fiktionale Produktionen intensiv und populär. So Netflix-Serien wie "Elite" aus Spanien oder "Blood & Water", in Kapstadt spielend. Da mag der eher an Kunst orientierte Filmfan die Nase rümpfen, Teenie-Trash; dass das viel geklickte Stoffe sind, "Elite" zog ein indisches Remake nach sich, zeigt, dass es zumindest soziale Resonanzen erzeugt, wenn von Macht, Boshaftigkeit und Intrige durchdrungene, ungleiche Lebensverhältnisse von Heranwachsenden in teils irrwitzigen Plots "stylishe" Umsetzungen finden. "Elite" und "Blood and Water" spielen in Schulen für die Kinder reicher Eltern, in die aufgrund von Stipendien Außenseiter geraten. Sie verhandeln das, was auch in Kunsthochschulkontexten Sujet ist. In "Blood & Water" ragt plötzlich die Frage nach dem Verhältnis des Holocaust zu den Verbrechen Leopolds des Zweiten, König von Belgien, im Kongo mitten in die Handlung hinein. "Elite" zelebriert lustvoll Queerness und schwulen Sex und macht, eher plump, auch vor dem Lieblingsthema vieler in Deutschland, Schwule im Fußball, nicht halt. Islamophobie bildet einen Subplot, auch trans und sogar Hausbesetzungen sind Sujet. Liebevoller setzt "Sex Education" so ziemlich alles außer BDSM rund um Lust und Begehren ins Bild. Alles Produktionen, die in Schulen spielen - auch das eine Lebensform. Es gibt unzählige Highschool-Serien und -Filme.

 Dass Jaeggi, um ihre eher an "gutem Leben" orientierte Fragestellung diskutieren zu können, Institutionen und Arbeitsverhältnisse aus ihrem Modell hinaus definiert, führt zu eingeschränkter Tauglichkeit. Der verschwindende Polizist zeigt in der Erprobung des Ansatzes Wirkung. Lebensformen sind von Institutionen, sowohl im Sinne gesellschaftlicher Organisationweisen als auch von rechtlich abgesicherten Beziehungsformen wie der Ehe, durchdrungen. Ein Großteil derer bilden den Rahmen für wahlweise Ausbildung und Arbeit oder eben das Eindringen des Rechtlichen ins Private.

 Andere fiktionale Produktionen diskutieren so auch ausgiebig "alternative Arbeitsformen" - Gangster, Drogenhändler, Berufskiller. Aber auch tradierte Berufe wie Mediziner oder Polizisten haben ganze Genres geschaffen; oft stehen auch Polizeiarbeit ergänzende Tätigkeiten wie jene von Pathologen, Profilern, Psychologen im Mittelpunkt. Die ganze "Meute", die Thema in den Schriften Michel Foucaults ist, Gutachter, Psychoanalytiker, Ärzte also. Jene, die Spuren in Archiven hinterließen - Pathologen treten in seinen Werken auf und dozieren auf der Bühne des Diskurses.

 Erstaunlich, dass zudem bei Jaeggi die beiden Begriffe, die in "Lebensform" zusammengesetzt sind, keine Erläuterung in der Definition erfahren. "Leben" ist zentraler Begriff da, wo in anderen Wissensbereichen über Lebensformen diskutiert wird - rund um Kakteen, Birken und Moose z.B., die je unterschiedlich Wasser aufnehmen, um überleben zu können. Oder in der Klassifikation von Tieren: Paarhufer, Säugetiere, Fische, Schnecken bilden Lebensformen durch unterschiedliche Umweltanpassung. Film und Serie bleibt das nicht äußerlich, gerade, wenn andere Lebensformen als menschliche, seien es Riesenspinnen, Aliens wie der "Blob", Zombies, Hexen oder Geister Smartphone-Displays, Kinoleinwände und Bildschirme bevölkern. Mumien, Monstren, Mutationen.

"Blob", der "Schrecken ohne Namen", leitet über, oder kann das zumindest, wenn man will, zu "Medium und Form" in den Schriften Niklas Luhmanns. Grob zusammengefasst nutzt er Sand und Sandformen, mit denen Kindern am Strand spielen, als Beispiel für ein sehr weit reichendes Modell, Medien zu denken. Sand ist das Medium, das in eine - buchstäbliche - Form gebracht wird. "Blob", diese tödliche Glibbermasse, die Menschen vertilgt, um leben zu können, erschrickt gerade durch ihre Formlosigkeit. Die Materie, aus der dieser Organismus gebildet ist, verharrt nicht wie Menschen, lebendig, oder Steine, tot, in einer konstanten Gestalt, sondern wabbelt wachsend durch die Welt. Auch Geister sind deshalb so gruselig, weil ihr Medium, dass ich hier unzulässig mit Material gleichsetze, so unfassbar bleibt.

 Michel Foucault hat, gerade da, wo es um die Etablierung der Kleinfamilie im Zuge des 19. Jahrhunderts als zentraler Lebensform geht, den Begriff der "Biomacht" geprägt: Macht über das Leben. Alles, was nicht der Fortpflanzung im Familiengefüge dient, Masturbation, gleichgeschlechtliche Praxen, "hysterische" Frauen, wird untersucht, um es normalisieren zu können. So neues Leben produzieren zu lassen. Die Steuerung dieser Praxen versteht er als Erfordernis der Industrialisierung, da ein Bevölkerungswachstum notwendig wurde, um die Fabriken am Laufen zu halten. Organisation von Arbeit strukturierte von nun Lebensformen anders als in der Landwirtschaft oder dem Handwerk. Foucault analysiert, wie in den Fabriken, den Schulen, den Gefängnisse ähnliche Einteilungen von Zeit- und Raumordnungen sich durch setzten in "Überwachen und Strafen".

Was da organisiert wird, ist tatsächlich das Leben selbst. Das, was Lebendiges macht, fühlt, empfindet zwischen Geburt und Tod. In Deutschland steht dieser Begriff aus guten Gründen auf dem Index. Vitalismen und Biologismen haben, wie viele, so Kurt Sontheimer und Herbert Schnädelbach, untersuchten, Faschismen vorbereitet. Solche, die dann zwischen wertem und unwertem Leben unterschieden und Vernunft nur noch als Herrschaft denken konnten. Mit kritischer Intention betrachtete Schnädelbach in Seminaren z.B. die "Dialektik der Aufklärung" von Horkheimer und Adorno als "letztlich Lebensphilosophie".

Dennoch: kann man im Falle von fiktionalen Produktionen und von audiovisuellen Medien allgemein, wo sich derart viel um Leben und Tod dreht, diesen Begriff aus der Analyse werfen? Vitalismen nicht-faschistoiden Typs begreifen Intensitäten, Spaß, Freude, Schmerz - Qualitäten eben. Henri Bergsons Lebensphilosophie zeigt das Werden, den Wandel, das Prozessuale, die Dauer und die Vergänglichkeit, also erlebte Zeitstrukturen. Gilles Deleuze nutzte das in seinen Kinobüchern. Das sind für filmisches Gestalten zentrale Kriterien.

 Filmisches und Mediales kann auch Zeichen als solche nutzen, wie im Video zu "Sign of the times" von Prince Schriften, in Abstraktionen münden, in Assoziationsketten, betont distanziert gestaltet, ins Künstliche drängen, gerade um sich Authentizitätsdruck zu entziehen, um so die Inszenierung des Lebendigen so durch andere Bildebenen zu ersetzen oder ergänzen. Dennoch ist Leben als Sujet von Filmen häufig zentral und eben auch die Frage, was man damit medial und in Plots macht.

 In Foucaults Schriften zur Theorie der Macht erfolgt der Zugriff auf das Leben als einer auf den Körper. Die Disziplinen zerlegen Handlungen in Gesten und setzen sie neu zusammen, wie bei Exerzierübungen des Militärs. Oder bei der Arbeit mancher Regisseure, wo Handlungssequenzen in Takes aufgelöst nacheinander gedreht werden. Viele rezipieren Foucault als Diskurstheoretiker. Das Einwirken auf Körperlichkeit, Stillsitzen und Zuhören, immer dieselbe Bewegung an einer Maschine, diagnostiziert er nicht minder intensiv bis hinein in sein Spätwerk, in dem er die Diätik der Lüste in der Antike rekonstruiert.

Auch in der Filmtheorie, z.B. in der Einführung von Elsaesser und Hagener, rückt die gelebte Leiblichkeit, zentral auch im Werk Maurice Merleau-Pontys, in den Mittelpunkt der Analysen. Jedoch vor allem die der Rezipienten.

Körper als Form des Lebens, die inszeniert wird, prägt jedoch auch die Schauspielerführung, die Blickregime rund um Körper, in Krimis und Horrorfilmen mal lebendig, mal tot. Genderperformances erschöpfen sich nicht in Drag vs. Anzug als Drag, sondern eben in gelebten Körperlichkeiten. Queere und schwarze Körper situieren Filme und Serien häufig anders als die von Weißen, Heterosexuellen, die Köper von Frauen erfasst der "male gaze" anders als die von Männern - wobei zumindest die Inszenierung von BPoC einen stärkeren Wandel erfahren hat als die anderer Bevölkerungsgruppen.

 Das Sujet "weißer Körper, schwarzer Körper" als solches greift der Horrorfilm "Get out" von Jordan Peele auf: weiße Menschen schaffen es, sich in die Körper von Schwarzen, deren "Vitalität" sie neiden, zu transferieren.

 Lebensformen sind somit Machtverhältnisse, sind Köperverhältnisse, sind Interaktionsverhältnisse, sind von Stereotypen und Institutionen und Ökonomien durchdrungen, und sie formen das Leben von Menschen beinahe wie das eines Mediums. Zumindest metaphorisch vorläufig formuliert.

Filmisches und Mediales reflektiert Lebensformen, indem es Mittel im Audiovisuellen findet, sie zu modellieren, also selbst in eine Form zu bringen, die eine andere ist als das tägliche Leben - notwendig in einem Zeitmedium, sonst wäre es Fotografie. Also prozessual. Plots sind zumeist an Konflikten orientierte Prozessbeschreibungen, zeigen Entwicklungen - oder deren Ausbleiben, in Lebensformen situiert. Die Kameraeinstellungen entsprechen Haltungen zu ihren Gegenständen, ebenso das Set, die Schauspielerführung (auch die zu Interviewpartner*innen), der Schnitt, der Ton. Sie fällen Urteile oder enthalten sich dieser, manchmal - oft - ist reines Überleben inmitten zusammenbrechender Lebensformen Thema und Körper verformen sich sodann, indem sie z.B. zu Zombies werden oder in Leichenstarre verfallen.

 Arbeit, Körper, Institutionen: auch Medienschaffende vom Beleuchter über die Kamerafrau bis hin zu Regisseur*innen, Drehbuchautor*innen, Schauspieler*innen, Special-Effekt-Künstler*innen, Sender-Redakteur*innen, Produzent*innen und noch die Buchhalter*innen bilden in der Zusammenarbeit Lebensformen rund um Produkte. Kein Mensch lebt nur in einer Lebensform wie "der Westen". Es sind sich verschränkende Lebensformen, die einander stützen oder ergänzen können.

Die Produzierenden wie auch die Rezipient*innen sind jedoch Teil der gleichen Lebenswelt, die ich provisorisch als Zusammenhang von Lebensformen begreife und als Handlungshorizonte, die sich zwischen Elbchausee und Billstedt nur teilweise überlappen. Sie sind - frei nach Habermas - alltägliche Hintergründe für Kommunikationszusammenhänge. Also das, was am Anfang dieses Textes auf Wittgenstein aufbauend referiert wurde. In diesen bitten, befehlen, wünschen, hoffen, fantasieren, diskutieren Menschen auf der Basis geteilten Vorwissens.

 Klassisch ideologiekritische Modelle übersehen manchmal, wenn sie an DER STAAT, DIE WIRTSCHAFT, DIE REGIERUNG orientiert loswettern, dass da nicht nur die einen hypnotisieren, die anderen dadurch gebannt werden, sondern dass auch Medienschaffende ins Kino und einkaufen gehen.

 Lebensform bilden so "Container" innerhalb von geteilten Lebenswelten, die allesamt medial durchdrungen sind. Je intensiver die Social Media-Nutzung, dessen tiefer prägt Mediales mittels Youtube, Tik Tok und Instagram, Whatsapp und Telegram den Alltag. Berufsgruppen bilden hier Cluster geteilter Lebensformen. Der in Hamburg lehrende Medeinwissenschaftler Thomas Weber nennt das "Mediale Milieus". Das sind Lebensformen, die sich rund um Medienproduktionen bilden und dabei Produkte von unterschiedlichem Glaubwürdigkeitsgrad gestalten. Tatsächlich ist es zum Verständnis von Film und Medien unerlässlich, die Produktionsbedingungen und somit auch Lebensformen von Produzierenden mitzuberücksichtigen, will man verstehen, was wo gezeigt wird. Nicht, weil sich ein "Basis-Überbau"-Gefüge ergäbe oder Medien immanente Ideologie 1 zu 1 kapitalistische Verhältnisse widerspiegelte. Sondern weil die an kommunikativen Prozessen im Sinne dessen, was oben Wittgenstein folgend skizziert wurde, orientierten Gestaltungsmodi Kriterien bereitstellen, wie jeweils ein Thema modelliert wird.

 Ausbildung und Arbeit ist anders strukturiert in Medienproduktionen als in Universitäten oder einer KfZ-Werkstatt. Durch soziale Medien werden jedoch nicht nur Bubbles gebildet, sondern auch neue Bänder geschaffen, die Verhalten z.B. zu weltweiten Konflikten triggern. Social Media taucht selbst zentral wiederum in Fiction-Produktionen auf. Ganze Serien und Filme sind von Smartphone-Nutzungen, neuen Ortungs- und Kommunikationsmöglichkeiten durchdrungen.

 Der hier skizzierte, am Leitfaden von Lebensformen entwickelte Ansatz hat den Vorteil, ein realistisches Modell zu schaffen, indem auch Irreales und Imaginäres aufscheint als Kontrasterfahrung zum Grau des Alltags. Eines, das nicht ausschließlich am Leitfaden von Sprache oder Text operiert, somit nicht alles zu Zeichen umdeutet, und Modi der Diskursanalyse und Ideologiekritik dennoch thematisieren kann. Es versteht auch nicht einfach nur Mediales und Film als Effekt von Ideologien oder Diskursen. Filme, Reportagen, Dokumentationen können sich zu diesen verhalten, ihre Wirkungen kritisieren, sie ironisieren, in Bildfolgen brechen oder aber bestätigen. Auch das Verhältnis von Realismus und Konstruktivismus wandelt sich von einem Gegensatz zu einer Ergänzung: Indem Mediales und Film auf Lebensformen reagiert, bezieht es Stellung oder lässt dieses bleiben, bildet jedoch nicht einfach nur ab. Kameraeinstellungen, Schnitt, Ton kommentieren und variieren das, was sie vorfinden. Und das noch im "Direct Cinema".

Ein mehrdimensional produktiver Umgang mit als Realität Konstatiertem verhält sich gestaltend zu dem, was vor den Objektiven geschieht oder inszeniert wird. Mehrdimensional, weil hier Fragen nach "was ist wahr?", "was ist normativ richtig?", "was ist gelungen hinsichtlich des Umgangs mit Leben?" und "welche Ästhetik erweist sich dem Gegenstand warum als angemessen?", zentrale Fragen in Lebensformen (und auch im Verhältnis zu anderen wie Vögeln, Bäumen, Ozeanen) können ineinandergreifen oder sich auch voneinander separieren, eine dieser Fragestellungen in den Mittelpunkt rückend.

Da es sich bei Lebensformen jedoch um Kooperationsverhältnisse handelt, auch Machtverhältnisse leiten diese ggf. an, verschieben sich  Repräsentationsmodi von der reinen Anwesenheit z.B. gesellschaftlicher Minderheiten hin zu Kooperationsverhältnissen, in denen sich Gruppenidentitäten überhaupt erst formieren in Relation verschiedener sozialer Entitäten zueinander. Was im Kriegsfilm, Yakuzastories oder Hooligan-Dramen offenkundig erscheint, kann in anderen Fällen subtiler auftreten dann, wenn es um Gerichtsdramen geht (Justiz Schwarzen gegenüber in den USA ist ein häufiger Stoff). Manche Zuschauer*innen bemerken kaum, wenn z.B. queeres Leben fortwährend einem imaginierten Mainstream-Publikum übersetzt wird, während alles Heteronormative Selbstverständlichkeit für sich beansprucht. Gerade hier zeigen in Wittgenstein gründende Modelle eine oft unterschätzte Erklärungskraft. Weil es um unbefragtes Hintergrundwissen geht, das vorausgesetzt wird.

 Das hier skizzierte Modell kann das Verhältnis von Arbeit, Institution und Köper denken und filmisches Schaffen als nicht frontal nur Unterworfenen vor die Nase gesetzt betrachten, sondern als Teil von Gesellschaft. Es rückt Körper und somit Leben in den Mittelpunkt, situiert diese jedoch in Lebensformen und grenzt auch die Körper der Kamerafrau oder des Visagisten nicht aus.

 Es kann zudem Utopie gestalten, indem es Jaeggis Ausgangsmodell dennoch ernst nimmt. Gerade beim Familianismus. Warum ist eigentlich immer die Familie die zentrale Lebensform und Bedürfnisbefriedigungsanstalt? Ist nicht Fiction zugleich das Medium, neue Lebensformen zu imaginieren, in denen nicht einfach Care-Arbeit, meist an Frauen delegiert, Prozesse kapitalistischen Wirtschaftens flankiert?

 Klassische Gegenkulturen zeichneten sich dadurch aus, neue Lebensformen zu entwickeln. Film und Medien könnten dabei unterstützen. Und tun dieses manchmal ja auch.

[1] (Öffnet in neuem Fenster) Jaeggi, Rahel, Kritik von Lebensformen, Berlin 2014, S. 89

Kategorie Medien

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