„What art does“ - Teil 1: Brian Eno

Was macht Kunst, und wieso ist das wichtig? Als wäre nun nicht genug los auf der Welt, was eher nach handfesteren Antworten um Hilfe schreit. Wie schrub Sartre einst: „Angesichts eines sterbenden Kindes kann Der Ekel nichts ausrichten.“ Also sein erster Roman. Da hat er recht.
Aber auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen, auf die Bereitschaft, so oder so zu handeln oder zu sein, auch zu fühlen, können Künste durchaus wirken.
Das wussten auch die Protagonisten von Massenmorden wie auch des schlimmsten aller Menschheitsverbrechens für sich zu nutzen - der Nationalsozialismus hätte ohne die UFA, diese Mischung aus Rassismus und Antisemitismus anstachelnden Filmen, nicht ganz so „gut“ funktioniert. Diese Mischung aus Diskreditierungs- und Vernichtungsvorbereitungs-, Durchhalte- und Kompensations-Entertainment brachte populäre Kultur einst ganz zu recht vollkommen in Verruf; ja, die Möglichkeit der Darstellbarkeit überhaupt.
Dadurch verschwanden Künste aber nicht. Ganz im Gegenteil. Hollywood boomte, das Fernsehen kam hinzu, Popmusik explodierte geradezu und die Abstrakten Expressionisten konnten daran auch nichts ändern. Imaginationen und Fantasien spuken halt sowieso in Gesellschaften herum und nähren allerlei kulturelle Felder. Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ist zutiefst von Tolkiens „Herr der Ringe“ und „Die Unendliche Geschichte“ geprägt und fantasiert im Falle von Flüchtlingen vermutlich heimlich eine Ork-Invasion herbei, während sie die Errungenschaften der Moderne als Zerstörung von Tradition mutmaßlich mit dem „Nichts“, das alles zerstöre, im Roman Michael Endes identifiziert.
Als einst in Zeiten der Hippie-Wirkungsgeschichte „Fantasie an die Macht“ als Slogan an Wände gesprüht wurde, da hatten die damaligen Tolkien- und Ende-Leser mit dieser Wirkungsgeschichte wohl nicht gerechnet.
Soll heißen: Blühende und wuchernde Fantasien spielen politisch sowieso eine Rolle und werden das auch dann noch, wenn man ganz auf nüchterne rationale Argumente setzt. Sie sind einfach menschlich. Menschen fantasieren, und ihre Imaginationsleistungen wirken auf Politiken - wie zum Beispiel die Einflüsse von Religionen, oft zunächst einfach nur Geschichten, Allegorien, ebenso Verschwörungstheorien belegen, aber indirekt auch Horrorfilme oder strikt heteronormative „Romantic Comedys“ belegen.
Sie verhandeln Fragen verschiedener Typen von Moral in fiktiven Konflikten und malen Formen des guten und des schlechten oder auch ganz schlimmen Lebens aus noch da, wo es gar nicht offensiv politisch wirkt.
Ein Beispiel für das „gute Leben“ ist „The Life List“ (deutsch „Morgen kommt ein neuer Himmel“), derzeit bei Netflix zu bewundern: eine sorgsame Mutter stirbt und vermacht ihrer Erbin nicht etwas die Firma, in der diese auch arbeitet. Nein, die Verstorbene lässt ihren Nachwuchs eine Liste abarbeiten, die diese als Teenager einst selbst verfasst hat. Est dann erhalte sie ihr Erbe. Eine mit noch unerfüllten Zielen und Träumen: einmal als Stand Up Comedien auftreten, „Claire de Lune“ spielen, sich ein Tattoo stechen lassen, die große Liebe finden. Als Roman avancierte der Stoff zum Weltbestseller. Er bastelt ein „wahres Selbst“, das seinen Ausdruck suche und finden müsse, um glücklich zu sein, und streut als Rosenblätter auf den Weg dorthin Humor und Künste. Die Heldin kann sich ganz ohne wirtschaftliche Sorgen durch das Leben bewegen. Das macht das Unterfangen leichter.
Weil Imagination und Künste zum Leben dazu gehören, will man Mensch sein. Ganz auf den Spuren Schillers, der proklamierte, der Mensch sei nur im Spiel er selbst, hat Brian Eno - ohne Schiller zu zitieren - nun ein Buch mit dem Titel „What art does (Öffnet in neuem Fenster)“ veröffentlicht.
Eno gehörte zu den Gründern von Roxy Music, hat auf Solo-Alben „Ambient“-Music erfunden - also den Namen -, ist Co-Autor von David Bowies „Heroes“ und hat von U2 bis Coldplay viele der kommerziell Großen aus der Rock- und Popmusik produziert. Sein „What does art“, zauberhaft und bewusst „kindlich“ illustriert von Bette A., ist ein nur scheinbar kleines Buch im hübschen Layout. Es surft durch große Fragen rund um die Künste und formuliert damit einen Entwurf, von dem man auch dann viel lernen kann, wenn man Einwände hat und wahlweise Arthur C. Danto, Wolfgang Ulrich oder Theodor W. Adorno dagegen mobilisieren will, von mir aus auch Pierre Bourdieu - Motive dessen tauchen in dem Buch durchaus auf, ohne dass er in der Literaturliste genannt würde.
Eno fasst Kunst sehr weit, ganz im Sinne der „Cultural Studies“. Er thematisiert auch Design und Frisuren. Kunst sei das, was über die Funktion eines Gegenstandes hinaus ginge. Man glaubt es kaum, aber das steckt auch in Adorno. Er wählt als Beispiel einen Schraubenzieher: der eine Teil sei ganz durch seine Anwendungsmöglichkeit bestimmt, eben Schrauben irgendwo hinein zu drehen. Der Griff hingegen könnte in schlichten oder opulenten, fancy oder martialischen Designs gestaltet sein. Dadurch entstünde ein Freiraum des Unbestimmten.
Kunst sei beim Erkunden dessen Spielen für Erwachsene. Schiller, siehe oben. Im Spiel lernen wir, üben etwas ein, erforschen uns und die Welt. Wir erlernen auch gesellschaftliche Rollenmuster - z.B. Geschlechterrollen - und erkunden dabei, ob wir uns in ihnen wohl fühlen oder nicht. Eno bestimmt, und da hätte ich Einwände, aber so what, über emotionale Reaktionen auf dieses Spiel, sei es in Rezeption oder Produktion, Kunst. Also über Gefühle.
In und mit Musik, Malerei, Film, Design usw. könnten wir lernen, was wir mögen und was nicht. Dadurch - hier kommt Bourdieu ins Spiel - modelliert Kunst Unterschiede, Differenzen. Pierre Bourdieus kunstsoziologisches Hauptwerk heißt nicht zufällig „Die feinen Unterschiede“. Dieser analysiert, wie gerade im Falle bürgerlicher Kunst ein „kulturelles Kapital“ sich rund sie bilde. Wissen und auch Kenntnisse in Haltung, Auftreten, sich zu kleiden und zu sprechen dienten dazu, sich von Arbeiter*innen und dem Pöbel abzugrenzen. Brian Eno selbst startete im Glam Rock, einer Form der visuellen Gegenkultur, die in artifiziellen Kostümen voller Glitter und bunt geschminkten Männern Zeichen auch gegen starre Geschlechternormen künstlerisch gestaltete. Todd Haynes rekonstruierte dieses oft auch an Bisexualität orientierte Szenario grandios im Film „Velvet Goldmine“, ein Meisterwerk. Man hob sich ab vom Alltagsgrau, nicht, um in Banken Karriere zu machen, sondern aus sich ein Kunstwerk.
Eno geht auf diese Abgrenzungen ein, ohne sie zu werten. Kunst könne uns zudem die Perspektiven Anderer nahe bringen - wenn wir das wollen. Beim Anschauen noch einer Soap Opera bestünde prinzipiell die Möglichkeit, eine Situation sowohl aus der Sicht einer Tagesmutter, eines karrieristischen Vaters und eines missbrauchten Kindes zu sehen. Kunst ermöglicht im besten Falle Empathie, wenn auch Tolkiens „Herr der Ringe“ oder „Die unendliche Geschichte“ nicht immer in dergleichen mündet. Siehe oben.
Kunst könne Anstöße liefern, ganze Welten zu erfinden, indem es Ausschnitte aus diesen imaginierend ausarbeite. Dafür sind „Herr der Ringe“ und „Die unendliche Geschichte“ gute Beispiele, ebenso „Star Wars“ und „Star Trek“ (Öffnet in neuem Fenster) - aber auch House-Music mitsamt dem ganzen Club- und Flyerleben drumherum oder Queer Art als keineswegs nur „Identitätspolitik“ oder Empowerment, sondern produktive Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse. Dazu mehr im nächsten Teil.
Diese Imaginationsleistung der Künste macht Vorstellungen des Besseren kommunizierbar, oft, indem Schlimmes und Furchtbares in Fiction verarbeitet wird (in bildender Kunst oder Musik seltener, wobei in letzterer Liebeskummer und unerfülltes Begehren eine Konstante bildet). Sie unterscheidet sich von Argumentationen. Habermas nutzte den Heideggerschen Begriff „Welterschließung“, um Literatur von Philosophie abzugrenzen.
In dieser Möglichkeit, Welten zu „starten“, endet das Buch von Eno - und so, grob zusammengefasst, seine Leitthesen. Es lohnt die Lektüre, ist stark verdichtet und sehr allgemeinverständlich bisher nur auf Englisch formuliert. Das Buch speist sich aus einer breiten Erfahrung mit Kunst und Design und surft elegant durch Ansätze, diese als Produktionsmittel einer zumindest anderen Gesellschaft zu begreifen.
Doch zurück zum Einstieg: es kursieren von „Creepy Pasta“ und „The most disturbing Reddit-Rabbitholes“ über rechtsextrem-völkische KI bis hin zu Unmengen von Horrorfilmen wie auch durch und durch misogynen Serienkiller-Plots auch allerlei nicht allzu verlockende Weltentwürfe in der Fiction - mögen manche White Supremacy-Lebensborn (Öffnet in neuem Fenster)-Fantasien auch als anstrebenswert empfinden, im Bible Belt, in Bayern oder Thüringen. Fiction ist voll von Mord, Folter und Totschlag, vernichtenden Explosionen und rachsüchtigen Geistern. Und in einer Zombie-Apocalypse wollen die meisten ja eher nicht verenden. Warum gucken Menschen das?
Es wurde sogar die These formuliert, die ganzen Zombie-Filme bildeten die fiktionale Ergänzung zur rechtsextremen Verschwörungstheorie des „Großes Austausches“; also der Fantasie, „die Eliten“ wollten die „autochonen“ Bevölkerungen durch Migration vernichten - die Untoten-Stoffe dienten dazu, vor Kriege Flüchtenden zu entmenschlichen, indem man sie assoziativ eben mit Zombies in Verbindung bringen würde.
Vermutlich guckt so was aber gar nicht jeder in Sachsen auf dem Lande oder in Gelsenkirchen, der dann die AfD wählt.
Trotzdem - wie unterscheidet man denn das freudige Spielen Erwachsener in den Künsten von dem, was auch Unheil anrichten kann? Und das, ohne Kunst zu moralisieren, ihr also Autonomie zu belassen?
Ich glaube, man kann das nur anhand konkreter Werke diskutieren. Deshalb widmet sich der nächste Teil von „What does art“ Beispielen aus der Queer Art, um ein paar Kriterien vorzuschlagen.
Coming Soon.
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