Die Erfindung von Traditionen, “organische Gemeinschaften”, Eigentlichkeit - und der FC St. Pauli
Trump macht es, Putin macht es, Erdogan auch und sowieso alle, die das Recht aller Menschen, Rechte zu haben (Hannah Arendt), einschränken wollen: Sie konstruieren Traditionen mittels einer Rückprojektion dessen, was sie selbst präferieren, in die Vergangenheit. Und das als “Wurzel” des Aktuellen.
Sie umgehen so Begründungsprozesse. Sie setzen etwas als traditionell, was sie selbst bevorzugen, und behaupten es als maßgeblich in normativen Konfigurationen. Was da jeweils herausgepickt wird aus dem Arsenal vergangener kultureller Praxen, Wertsetzungen und Üblichkeiten, mutiert so zum Herrschaftsinstrument.
Besonders beliebt bei Autokraten, Neofaschisten und Diktatoren ist das Einschwören der Bevölkerung auf „traditionale Lebensformen". Damit begründet Putin sogar den Krieg gegen die Ukraine: ein Kampf gegen „Gayropa" würde geführt:
Das ist nur eine von vielen Quellen. Es geht um ein Absolutsetzen der heterosexuellen Kleinfamilie im Rahmen der Trinität „Kirche, Familie, Vaterland" mit dem, was traditionell geboten sei. Gerade rund um den ESC, eine Veranstaltung mit diversem kulturellem Ausdruck und proppevoll mit Queers, feuerten von ihm und seinem Vordenker Alexander Geljewitsch Dugin angestachelt propagandistische Dauerbombardements eine Rakete nach der anderen auf diesen ab:
Solche diskursiven und in Putins Fall auch kriegerischen, tödlichen Praxen als Herrschaftsinstrument einzusetzen, bezeichnete der britische, marxistisch inspirierte Historiker Eric Hobsbawm als „Erfindung von Traditionen (Öffnet in neuem Fenster)" , wobei das englische Original „Invention" zugleich Einführung meint.
Die putinesken Praxen zeigen längst auch in Deutschland Wirkung. Die AfD, in Teilen auch CDU/CSU bespielen dieses Feld, nutzen dafür teilweise fragwürdige KI-Bilder und weichen so der Verfassung aus bzw. unterlaufen sie.
Das Grundgesetz ist recht explizit gegen diese Form der Normbegründung durch selektiven Rekurs auf der jeweiligen Ideologie angepassten Bausteinen aus dem Chaos der Historie in Stellung gebracht worden. Es formulierte in Kantischer Tradition einen Katalog von Rechten, der im Falle aller Menschen ungeachtet kultureller oder traditionaler Riten zu schützen sei. Nur so könne sich Menschenwürde frei von Diskriminierung als selbstbestimmt realisieren – als freie Entfaltung der Persönlichkeit.
Die deutsche Nachkriegsgeschichte im Westen ließe sich auch als eine schreiben, in der konservative Kräfte die Architektur des Grundgesetzes nicht akzeptieren wollten und immer wieder neu im Sinne von Tradition und Geschichte das Recht aller gleichermaßen, Rechte zu haben (Hannah Arendt), unterliefen.
In den 80er Jahren zeigte sich die Reflexion dessen in harschen Auseinandersetzungen der akademischen Philosophie zwischen Hegelianern und Aristotelikern auf der einen Seite, die Moral eher in Sitten und gewachsenen Bräuchen bei Verzicht auf abstrakte Prinzipien begründen wollten – was im strengen Sinne gar keine Begründung ist –, und Kantianern auf der anderen Seite, die in großer Nähe zur Verfassung eher Grundbedingungen eines vernünftigen Zusammenlebens ausformulierten.
Zu letzteren gehörten Jürgen Habermas und der ihn nachhaltig beeinflussende Karl-Otto Apel. Apel bezeichnet eine in abstrakten Prinzipien gründende Moral als postkonventionell. Also nicht Konventionen, eingeübte und normalisierte kulturelle und gesellschaftliche Praktiken sollten das Zusammenleben bestimmen, sondern die formale Gleichheit aller gleichermaßen als Bedingung einer gewaltfreien Gesellschaft.
Besonders perfide reagierten immer wieder neu Konservative auf diesen Ansatz: Sie interpretierten die im Grundgesetz als Voraussetzung der Demokratie festgelegten Prinzipien als von Personen internalisierte Sitten und Gebräuche. Diese würden nicht mehr die Macht des Staates begrenzen, so ist das Grundgesetz konzipiert, sondern seien vielmehr als den Menschen innewohnende Charaktereigenschaften und Handlungsdispositionen zu verstehen. Daraufhin begannen sie, diese Eigenschaften und Möglichkeiten bestimmten Gruppen wie Muslimen und anderen Migranten abzusprechen, Diese würden traditionell wie kulturell bedingt über solche Kompetenzen nicht verfügen.
Aufklärung und Vernunft wandeln sich so von diskursiven Praktiken, in denen Kritik an Überlieferung und Konvention formuliert werden kann, selbst zum Traditionsbestand mit völkischer Färbung.
Das ist ein Kunstgriff im Interesse gesellschaftlich dominanter Gruppen, der all das beiseite räumt, was man von den Philosophen der Aufklärung tatsächlich lernen kann.
Variationen dieses “Arguments” fanden reichlich Verwendung bei der ideologischen Aufrüstung der Neuen Rechten im Kampf gegen das, was als „woke" bezeichnet wurde: Angeblich würden verschiedene Subkulturen das Allgemeingültige der Aufklärungstradition attackieren, indem sie ihre besonderen Interessen zur Geltung brächten. Dass sie dieses immer unter Rekurs auf formale Gleichheit taten, die ihnen faktisch nicht eingeräumt wurde, ignorierten die Aggressoren geflissentlich.
In den USA kombinierte man diese Unterstellungen mit dem Kampf gegen „Kulturmarxismus", der zugleich alles Überlieferte beseitigen wolle.
Das funktioniert wie ein Zwickmühlenspiel, das vor allem dazu diente, Minderheiten zum Schweigen zu bringen. Es richtet sich zugleich gegen kulturelle Praktiken, die sich der Mehrheitsgesellschaft entzögen.
Im Deutschland des 19. Jahrhunderts entwickelten angesehene Denker dieses Muster im Kampf gegen Juden und bauten es aus, allen voran der Historiker Heinrich von Treitschke. Er formulierte nicht nur das spätere Motto des „Stürmer", „die Juden sind unser Unglück". Treitschke unterstellte Juden auch, sich nicht an das mittlerweile als traditionell und historisch gewachsen interpretierte Erbe der Aufklärung anzupassen, sondern stattdessen beharrlich an ihren eigenen Überlieferungen festzuhalten.
So gelang es Antisemiten im 19. Jahrhundert gleichzeitig, Juden für die Aufklärung verantwortlich zu machen, die angeblich Christentum, Sitten und Gebräuche eingeebnet hätte – ein damals gängiger Topos – und ihnen zugleich die mangelnde Anpassung an eben diese vorzuwerfen.
Diese strukturelle Zwickmühle lässt sich jederzeit reaktivieren.
Es zeigt jedoch zugleich, dass die gepflegten Riten gesellschaftlicher Minderheiten anders zu interpretieren sind als die der Mehrheitsgesellschaft. Sie verdienen sogar im Sinne der freien Entfaltung der Persönlichkeit einen besonderen Schutz, sofern sie nicht mit den allgemein geltenden Grundrechten in Konflikt geraten.
Das Argumentieren mit Überlieferungen der Mehrheitsgesellschaft ist zudem häufig verbunden mit dem Topos „Gemeinschaft versus Gesellschaft". Diese begriffliche Differenz arbeitete erstmals der Soziologe und Nationalökonom Ferdinand Tönnies nicht zufällig im Jahre 1887 aus. Das späte 19. Jahrhundert zeichnete sich in Deutschland durch eine breitenwirksam werdende Abwendung von liberalen Prinzipien hin zu Konstruktionen dessen aus, was denn nun als „deutsches Wesen" gelte.
Das war bereits angelegt in den Diskussionen zur Zeit der napoleonischen Besatzung im frühen 19. Jahrhundert. Zu dieser Zeit formierte sich jenes Nationalbewusstsein , das als gewachsene „Kulturnation" den eher an Partizipation orientierten Modellen der Demokratiebewegungen auswich. So diskutierte man intensiv die Frage, wer in Zeiten der Kleinstaaterei überhaupt zu Deutschland gehöre und wer nicht - Österreich ja oder nein? Man arbeitete dabei mit Sprache als Kern des Deutschen und zugleich der Konstruktion typisch „germanischer" Mythen, Märchen und Gebräuchen und von ihnen gestifteter Tradition. Richard Wagner schuf dazu Nationalmythen auf der Opernbühne in seinen späteren Werken.
„Gemeinschaft" wurde in der Folge häufig als „organische" Form des Zusammenlebens homogener Gruppen verstanden – „Gesellschaft" hingegen als ein übergestülptes System interpretiert, das diesem organischen Zusammenhang nicht entspräche, ja, ihn sogar zu zerstören drohte. So wurde u.a. die „deutsche Volks- und Schicksalsgemeinschaft" mitsamt „Volkskörper" konstruiert, der beispielsweise vor jüdischer „Verunreinigung" geschützt werden müsse – ähnliche Mythologien etablierten sich auch in anderen Nationen und wirken dort heute mehr denn je.
Häufig verbindet sich dies mit Ideologien von „Blut, Boden und Scholle" – einer angeblichen „Verwurzelung" in bestimmten Territorien. Liest man beispielsweise in Heideggers „schwarzen Heften", so speist sich sein Antisemitismus aus diesem Motiv. Tief in das Vokabular des ländlichen Südwestens Deutschlands verstrickt, sah er darin eine zu entbergende, vorgängige Sinnstruktur angelegt, die zu entschlüsseln sei. So führt er beispielsweise den Begriff „Ding" etymologisch auf das altgermanische Gericht „Thing (Öffnet in neuem Fenster)" zurück .
Das Freilegen dieser spekulativ hergeleiteten Ursprünge von Begriffen prägte seine philosophische Praxis und ist eng mit seinen Vorstellungen von „Eigentlichkeit" verknüpft – man kann das als „nicht entfremdet durch die bewusstlosen Massen und mit ihnen korrespondierender, manipulierender Massenkultur der Moderne" eher frei interpretieren. In „Sein und Zeit" tritt es auf als „Gerede des Man" – eben das, was alle so vor sich hin plappern und die „wahre Existenz" nur verberge.
Verknüpft man Eigentlichkeit mit „organischer Gemeinschaft" und leitet diese aus „Ursprüngen" her, die sich in Überlieferungen zeigen, dann ist das nur ein kleiner Schritt hin zu Putin, AfD und Co.
Damit wäre ein Schema skizziert, das aktuelle politische Konstellationen bestimmt. Hier das Organische, Eigentliche, Gemeinschaftliche und Tradierte – dort das Künstliche (Schnickschnack), Uneigentliche und somit auch vermeintlich Widernatürliche; das Individualistische und Kritische, das alles Gewachsene angeblich nur „zersetze". Ungefähr so gestaltet sich ja auch die Programmatik des aktuellen Kulturstaatsministers.
PS:
Und wie positioniert sich der FC St. Pauli dazu?
All das wäre unproblematischer, wenn auf das, was denn nun diese zentralen Werte ausmacht - Kampf gegen Rassismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit zum Beispiel bzw. für die Rechte von BPoC, Frauen und Queers einzutreten - im Trikotdesign wie auch im Bild sichtbar würde. Frauen wurden dazu gesetzt, das ist ja schon mal sehr gut so. Ein schwarzer Spieler wirkt ein wenig wie das, was auch als “Token (Öffnet in neuem Fenster)” konzeptionalisiert wird. Ein Statement pro Queers sehe ich da nicht. Hat Puma Angst vor dem amerikanischen Markt und Trumps neuen Verfügungen gegen DEI?
Es gab und gibt im Verein vielfältige Praxen in der Fanszene, diese “Werte” in tatsächlich politische Praxen umzusetzen.
Aber dieses Framing “Pro Tradition, gegen Schnickschnack, für Bodenständigkeit” ist für mich schwer nur zu akzeptieren.
Man kann das, was hier noch nicht mal expliziert als “Vereinswerte” regionalisiert wird, nur unter Rekurs auf allgemeine Menschen- und Grundrechte begründen, nicht als lokale Vereinstradition proklamieren, ohne in gruseligen Sümpfen zu navigieren.
Schon mal gar nicht, wenn der Regenbogen von den Trikots verschwunden ist - ich habe ihn zumindest nicht gefunden. Lediglich im Shop erscheint er noch irgendwo im Hintergrund, angeschnitten.
Das Votum gegen “Schnickschnack” mutiert dann zu etwas anderem als lediglich Marketingsprech.
Diese Entsolidarisierung von Queers angesichts der Initiativen von Trump und Putin schließt sie zudem aus “Traditionen” aus.
Entspricht das den proklamierten Werten?