Zur “Das Herz von St. Pauli”-Diskussion beim FC St. Pauli und dem Schmoren im eigenen Punkrock-Saft
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Ein Sturm im Erlenmeierkolben erschüttert derzeit den FC St. Pauli. Ein Fussballverein, in dem ich noch Mitglied bin. Vermutlich nicht mehr lange. Zu systematisch reproduziert sich hier das, was auch gesamtgesellschaftlich wirkt noch da, wo der Verein auf alternative Modelle setzt. Die Debatten in Fanszene und Verein erscheinen mir prototypisch für in progressiven Kontexten situierte Diskussionen rund um Ästhetiken, die sich nicht dem konservativen Mainstream fügen wollen und dabei selbst ins Regressive kippen. Insofern erscheint es mir ein guter Anlass zu sein aufzuzeigen, wie ich zumindest dieses Problem fassen würde.
Der Anlass der Auseinandersetzung in diesem sich stets selbstreferenziell erhitzenden Fanszene-Ragout mit in den 90er Jahren erprobten Zutaten ist das Fanlied „Herz von St. Pauli“. Es wird vor Spielen angestimmt und Strophe um Strophe gesungen; zum Schluss auch a capella ohne Song vom Band. Zu hören ist die musikalisch eher anachronistische Punkrock-Version eines 1956 erstmals veröffentlichten Schlagers. Sie hört sich für meine Ohren noch etwas schlechter an, als sei sie von den Toten Hosen eingespielt worden. Die gehörten infolge von Extrabreits „Flieger, grüß mir die Sonne“, eine Cover-Version aus den frühen 80ern, ebenfalls ein Hans-Albers-Lied, zusammen mit dem „wahren Heino” zu denen, die das Verpunken von Schlagern populär machten. 1987 erschien „Never Mind the Hosen - here*s die Roten Rosen“; das Album-Design zitierte das „Never mind the Bollocks“-Cover der Sex Pistols. Auf diesem Album fanden sich ausschließlich Punkrock-Versionen von Schlagern aus den 50er, 60er und 70er Jahren - darunter auch das hochreaktionäre „Wir“ von Freddy Quinn (Öffnet in neuem Fenster) und der tendenziell sexistische Stalker-Song „Im Wagen vor mir fährt ein junges Mädchen (Öffnet in neuem Fenster)“ . Während die Toten Hosen auf ihrem Album noch mit dem, was sie rheinisch und karnevalesk unter Humor verstehen, arbeiteten, wurde die im Stadion zu hörende Version des „Herz von St. Pauli“ von Phantastix und Elf eingespielt und gibt sich eher pathetisch. Elf ist eine Formation des Slime-Gitarristen Michael Meyer, Phantastix eine 1988 in Hamburg gegründete Punkrock-Band. Die „Herz von St. Pauli“-Version erschien einst auf einem Fanszene-Sampler und ersetzte das bis dato gesungene „You’ll never walk alone“ als Fanlied. Da dieses auch in anderen Stadien angestimmt wird und eher mit dem FC Liverpool in Verbindung steht, wollte man etwa „authentisches“ mit Viertel-Bezug - wenn ich mich recht entsinne. Seltsamerweise taucht in der aktuellen Diskussion rund das „Herz von St. Pauli“ selten auf, dass im Stadion ein Punkrock-Cover gespielt wird. Das macht es aber gerade nicht besser.
Ja, ich bekenne: Auch ich habe mitgesungen, mich einreihend in das Gemeinschaftsgefühl vor Spielen. Zuvor werden die Fanhymnen des Gegners gespielt, als guter Gastgeber macht man das so. Die hörten sich of noch schlechter an als unsere. Manche derer zitieren „Volkstümliches“ wie aus dem Musikantenstadl, andere setzen auf pathetischen Schmalz, bei dem in meinen Ohren oft „Die weißen Tauben sind müde (Öffnet in neuem Fenster)“ von Hans Hartz mit erklingt. Bierselige Tränendrüsenmusik für Schalparaden halt.
Die Diskussion rund um das Fanlied wäre auch völlig schnurz, wenn sich hier nicht wiedergängerisch wiederholen würde, was gesamtgesellschaftlich rund um Pipi Langstrumpf und Karl May, vorher schon um Richard Wagner, Gottfried Benn oder Ernst Jünger sehr breit diskutiert wurde. Selbst die Wehrmachtsdebatte der 90er Jahre ploppt implizit wieder auf. Wagners Opern sind von antisemitischen Chiffren durchsetzt. Er hat eine der wirkungsmächtigsten Schriften für Judenhasser des 19. Jahrhunderts verfasst und in seinen Werken nicht nur einen Kunst-, sondern auch Nationalmythos geschaffen. Da es bis 1871 Deutschland gar nicht gab, allenfalls den Deutschen Bund, stieg er in Mythen wie das Nibelungenlied herab, um so eine Vorgeschichte der Reichsgründung in Kunst zu übersetzen. Gottfried Benn, unbestritten begnadeter Dichter, plädierte offen für den Nationalsozialismus und beschimpfte noch im Radio Emigranten wie Klaus Mann - um binnen Kurzem festzustellen, dass die neuen Machthaber ihn als Künstler unter „entartet“ verbuchten. So flüchtete er als Arzt in den Schutz des Militärs. Ernst Jünger verfasste mit „Der Arbeiter“ und „Stahlgewitter“ präfaschistische Schriften, um sich nach 1933 doch eher dem Studium von Insekten zuzuwenden.
All diese Fällen wurden intensiv diskutiert.
Die Wehrmachtsausstellung des „Instituts für Sozialforschung“ in den 90er Jahren wirkte wie ein berechtigtes Attentat auf deutsche Geschichtsmythen. Sie zeigte auf, dass die „braven Wehrmachtssoldaten“ nicht einfach nur „ihre Pflicht taten, weil sie nicht anders konnten“ - auf’s Desertieren stand tatsächlich die Todesstrafe -, sondern auch verbrecherisch u.a. in Polen an Holocaust und Vernichtung der Sinti und Roma beteiligt waren. Auch Wissenschaften haben diesen Prozess durchlaufen; dass Heidegger nach 1945 trotz seiner offen proklamierten Affinität zum „Führer“ seinen philosophischen Schwarzwald-Zen unbeschadet gefeiert vor bürgerlichem Publikum vortragen konnte und mit Arnold Gehlen und Helmut Schelsky zwei im Nationalsozialismus bestens Integrierte neue Studentengenerationen auf dem Feld der philosophischen Anthropologie wie auch der jungen Wissenschaft Soziologie verformen durften, das gehörte zu den zentralen Impulsen für Jürgen Habermas, andere Wege zu gehen. Es ist ein bißchen surreal, dass der FC St. Pauli nun einen auf die Nachkriegszeit spezialisierten Historiker als Experten hinzu zieht, um den Fanliedstreit zu versachlichen - dieses Feld sollte eigentlich zur Allgemeinbildung dazugehören. Ja, die Jüngeren müssen sich das immer erst aneignen. Im Stadion um mich herum regten sich jedoch eher die Älteren auf, dass das Lied nunmehr nicht mehr gespielt wird. Warum, dazu später mehr.
Helmut Schelsky sei deshalb erwähnt, weil er zu den maßgeblichen Gutachtern eines Skandalurteils in den 50er Jahren gehörte, das in der Nachkriegszeit für Unheil sorgte - ähnlich wie das bis heute Unfassbare, dass der an der Vernichtung der europäischen Juden mitwirkende Hans Globke Kanzleramtschef unter Adenauer wurde (Öffnet in neuem Fenster) . Das Urteil, das ich meine, ist jenes, das die unveränderte Übernahme des §175 von 1935 zur Kriminalisierung von Homosexualität, also die Nazi-Fassung, in den Korpus des Strafrechts der jungen Bundesrepublik rechtfertigte. Das vollbrachten die ranghöchsten deutschen Richter des Verfassungsgerichts. Ex-Nazis wie Schelsky begutachteten also die unveränderte Übernahme von Nazi-Gesetzen und fanden dafür Zustimmung. Schelsky machte, trotzdem er bereits 1932 im Alter von 19 Jahren in die SA eintrat und 1937 in die NSDAP, mit Hilfe der Hamburger SPD rund um Helmut Schmidt in den 50ern Jahren Karriere und verfasste soziologische Bestseller über Sexualität, die sogar in Bahnhofsbuchhandlungen sich gut verkauften - während vor dem Dammtor-Bahnhof Halbstarke Schwule verprügelten, anschließend auch noch erpressten und die Hamburger Polizei ganz weit vorne mit dabei war, als darum ging, die „175er“ zu jagen. Selbst in den Kreisen rund um die vom schwulen Schriftsteller Hubert Fichte gefeierte “Palette” unweit des Gänsemarkts, ein Ort für Beatniks und Bohémiens, hielt man sich von denen zumeist lieber fern. Weil das ja ein „ernsthaftes Delikt“ war, diese gleichgeschlechtlichen Praxis. In seinem Buch „Lob des Strichs“ berichtet Fichte vom „schwulen Underground“ zu Zeiten der Illegalität. Darin beschreibt er irgendwo auch sinngemäß „bisher hörten alle Zarah Leander, jetzt alle die Knef.“
Das ist die Überleitung zum Fanlied des FC St. Pauli. Das „Herz von St. Pauli“ wurde komponiert von Michael Jary. Zumindest ältere Schwule kennen den noch. Er schrieb viele Lieder für Zarah Leander. Darunter „Davon geht die Welt nicht unter“ und „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“; Durchhalteschlager zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges in zerbombten Städten und für die Soldaten an der Ostfront. Auch, dass die Texte von einem „175er“ stammten, Bruno Balz, wussten wir. Jary rettete ihn vor dem KZ, indem er sich direkt bei Goebbels für Balz einsetzte - trotzdem dieser bereits ins Visier der Homosexuellenverfolg geraten war. Er brauche ihn als Texter für die Filmmusik zu „Die grosse Liebe“. Goebbels gab Balz frei. So detailliert interessierte das die Fanszene des FC St. Pauli nicht - wie üblich. Immerhin wurde wahrgenommen, dass Jary seine privilegierte Stellung im Nationalsozialismus nutzte, um Freunden und Kollegen zu helfen.
Dieser Ausschnitt aus der Historie zeigt die hohe Ambivalenz mancher - nur mancher - derer, die im „3. Reich“ Karriere machten und - anders als Schelsky - so ganz einverstanden mit ihm nicht waren. Auch Erich Kästner hat Drehbücher für die UFA verfasst, z.B. für den „Münchhausen“-Film mit Hans Albers. Dieser sang auch das Original vom „Herz von St. Pauli“ und hat u.a. in einem rassistischen Film Carl Peters (Öffnet in neuem Fenster) gespielt, einer der Schlächter unter den deutschen Kolonisatoren. Die Goebbelsche Propaganda-Maschine wirkte auch deshalb so zynisch und teuflisch, weil sie mit Ambivalenzen spielte. „Kann denn Liebe Sünde sein?“, ein anderes Werk des Duos Balz/Jary und gesungen von Zarah Leander, ist nicht zufällig später zur Schwulenhymne avanciert. Goebbels wird schon verstanden haben, was Balz damit meinte. Zarah Leander selbst päsentierte sich als Gegentypus zur arischen, blonden Schönheit mit ihrer dunklen Stimme und sang „Er heißt Waldemar und hat schwarzes Haar - er ist weder stolz noch kühn, aber ich liebe ihn“. Marika Rökk, zweiter UFA-Megastar neben Zarah Leander, tanzte als „Czardasz-Fürstin“ durch Filme bewegte sich damit auf den musikalischen Spuren eben jener Sinti und Roma, die zeitgleich in KZs ermordet wurden.
Die Diskussion der Beziehung Zarah Leanders zum Nationalsozialismus ist etwas, das sich mitten durch meine schwule Sozialisation zog. Es gibt Dokumentarfilme mit weinenden Schwulen, die in tiefer Identifikation mit ihrer Ikone zugleich nicht fassen konnten, als wessen Gallionsfigur sie agierte. DASS sie mit der dunklen Stimme und den kaum noch zweideutigen Texten zu einer solchen wurde und noch in den 80er Jahren unbestritten war, auch Nina Hagen hat sie gecovert, das lag auch daran, dass es gar keine sichtbaren schwulen Männer gab, mit denen man sich hätte identifizieren können. Es musste der Umweg über die Knef, Zarah Leander oder Marlene Dietrich, Migrantin und die US-Armee unterstützend, gewählt werden, um Gefühle für Männer zum Ausdruck bringen zu können.
Die Ambivalenz der Nazi-Ästhetik, nicht derer Vernichtungs- und Völkermordspolitik, die ist eindeutig, sorgte auch im Falle Leni Reifenstahls dafür, dass z.B. Mick Jagger und Andy Warhol zu deren Fans gehörten. All das ist ja nun nix Neues. Auch nicht, dass viele derer, die in den 50er Jahren im Gegensatz zu vielen Migranten ganz gut weiter leben konnten, obwohl sie mit Nationalsozialismus kontaminiert waren. Darauf verweist auch der sehr gute Podcast des FC-St. Pauli-Museums, der den Fall „Herz von St. Pauli“ ins Rollen brachte. Nach ein paar Oberflächlichkeiten zu Hans Albers und Michael Jary folgt in ihm eine Tiefenrecherche zum Texter des „Herz von St. Paul (Öffnet in neuem Fenster)i“, Josef Ollig. Dessen Verstrickung in den Nationalsozialismus war erheblich tiefer, weil er auch als Kriegsberichterstatter tätig war - und auch er hat, ähnlich wie Schelsky und anders als die „175er“, danach ein gutes Leben geführt. Lohnenswert, sich das anzuhören. Ist gründlich, ist gut, und es wird auch ausgiebig begründet, wieso das Fanlied lieber nicht mehr zu singen sei (ohne, dass das explizit gefordert würde). Das ist auch meine Ansicht.
Tatsächlich wurde die Hymne beim letzten Heimspiel nicht gespielt und Oke Göttlich, Präsident, lautstark ausgepfiffen, als er dieses mitten auf dem Platz begründete. Um mich herum auf der Haupttribüne zeigten viele sich wütend und stimmten es trotzig an, andere zeigten erregt ihre T-Shirts mit der Aufschrift „Herz von St. Pauli“. Dritte meinten, sie könnten doch nix dafür, dass der Nazi war und man dürfe ja gar nix mehr - der ganze rechte Schmodder, der nicht weiß, dass er das ist, brach aus allerlei ansonsten ganz liebenswerten Menschen hervor und setzt in sozialen Medien nunmehr einen Shitstorm in Gang, der ziemlich genau so funktioniert wie rund um das „N-Wort“ in Pipi Langstrumpf oder Schnitzelnamen. Jene, aus denen ehemalige ZDF-Moderatoren empört Bestseller basteln mit Titeln wie „Seid ihr noch ganz bei Trost“ und „Ist das euer Ernst?“. Mitten im ach so progressiven FC St. Pauli bricht auf, was seit ca. 2 Jahrzehnten auch die Reaktionäre im Land antreibt. Manche pöbeln und wähnen sich unterdrückt. Andere formulieren ganz sophisticated, dass man dann ja auch keinen Mercedes fahren dürfe, weil die Geschichte der Automarke mit dem Nationalsozialismus verstrickt sei. Da haben sie sogar recht. Es ist auch weiterhin ein Skandal, dass das nach der Zerschlagung der IG Farben entstandene „Bayer Leverkusen“ in der Bundesliga spielt. Die IG Farben war maßgeblich an der Etablierung Auschwitzs beteiligt. Auch die Werkself vom VFB Wolfsburg ist kontaminiert. Als VW 1938 auf Wunsch Adolf Hitlers gegründet wurde, hieß es noch „Werk des Kraft durch Freude-Wagens bei Fallersleben“ - weil Wolfsburg überhaupt erst aufgrund dieses Werkes entstand. Das ist aber nun kein Grund, heute so zu tun, als sei da nix gewesen. Ganz im Gegenteil. Dass solche „Schwamm drüber!“-Debatten nun im ach so antifaschistischen FC St. Pauli aufploppen erscheint mir aberwitzig.
Dass die „aktive Fanszene“ sich nun jedoch wieder geriert als die Guten, das erscheint mir aber auch etwas zu kurz gegriffen. Klar sind die „Nie Wieder!“-Choreos im Stadion grandios, und auch die Geschäftsstelle läßt die Spieler namentlich der Opfer von Hanau gedenken. Das IST großartig. Die Ästhetik rund im die Fanszene zeigt jedoch mal abgesehen von Slogans, Stickern und hier und da auch Wissen jedoch ein oft eher tragisches Bild, das in dieser Punkrock-Version des „Herz von St. Pauli“ eben auch grau und starr in die Kurven zurück glotzt.
Mein langjährig guter Freund Erik Hauth hat zu der Diskussion einen hervorragenden Gastbeitrag gepostet (Öffnet in neuem Fenster), der Kriterien für die Diskussion bereit stellt: Trennung von Werk und Schöpfer, eine kritische Reflektion anhand moralischer Kriterien des Werkes auch dann, wenn man es weiter singt, die Annahme, dass ein Werk im Zuge seiner Aneignung auch die Bedeutung wandeln kann und schlicht ein eher pragmatischer denn an Prinzipien orientierter Umgang mit ihm.
Das sind die Ideen, auf die man kommt, wenn man immanent bleibt. Also sich gar nicht erst die Frage stellt, wie eine eher lahme Punkrock-Version des Liedes eines Nazi-Texters es überhaupt in Stadion geschafft hat.
Der Text ist lokalpatriotischer Kitsch „der Hafen, die Lichter“, bla, bla, die Musik eher simpel und auch öde, lässt sich aber gut mitsingen. Mich hat es schon immer geschüttelt, dass die Zeile auftaucht „Das Herz von St. Pauli, das ist meine Heimat“ - weil ich trotz aller Versuche, den Heimat-Begriff sich progressiv anzueignen, immer an den der Heimatfilme denken muss. Was eben AUCH zur Geschichte der Nachkriegszeit gehört. Deswegen hat Ollig das da wohl rein gedichtet. Der Heimatfilm der 50er Jahre spielte eine zentrale Rolle in der Restauration, die den ganzen Ex- und Noch-Nazis Schutz gewährte. Sei es der „Förster vom Silberwald“ oder „Grün ist die Heide“ - der Plot ist immer das Eindringen des Bösen in eine heile, volkstümliche, ländliche Welt. So bildete man sich retrospektiv auch das „3. Reich“ ein - die Nazis seien irgendetwas von außen Kommendes gewesen, das dann die braven und ehrenhaften Deutschen unterjochte. Die aber in der Realität mitschwammen, mitmachten, zusahen, als Juden erst entrechtet und dann deportiert wurden. Viele profitierten noch von deren Enteignung - gerade auch im Falle des Immobilienbesitzes meines Wissens im Schanzenviertel.
Diese Lüge des Eindringen des Bösen in die heile, volkstümliche Welt wirkt noch heute maßgeblich in den ganzen rassistischen Migrationsdiskursen, in der selbst Merz verschiedenen Quellen zufolge mittlerweile Flüchtlinge als Invasorenarmee imaginiert. Diese Struktur kann aber auch „Alternativszenen“ und progressive Kräfte prägen. Sie fantasieren sich als außerhalb der Macht und begreifen deshalb oft nicht, wo sie selbst Rassismus, Queerfeindlichkeit, Antisemitismus und Sexismus, z.B., einfach nur reproduzieren. Michel Foucault zeigte jedoch auf, das Machtverhältnisse kein Außen kennen. Sie gehen durch die Individuen in einer Gesellschaft mitten hindurch und man wird durch sie geprägt - und kann sich dazu verhalten. Dass so ein quasi-folkloristisches, beim FC St. Pauli ist Punkrock ja sowas wie Volksmusik bei bayerischen Dorffesten, Lied es überhaupt zum Fanlied mitsamt Heimatbegriff geschafft hat, das ist doch das Problem.
Im Podcast des FC St. Pauli.Museums wird es mit „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ in einem Atemzug genannt. Die Hans Albers-Nummer kann man mit guten Gründen sexistisch finden, es ist aber ganz und gar anders situiert als das „Herz von St. Pauli“ - im „Milieu“ halt. Es spielt auf das Vergnügungsviertel an - mitsamt Rotlicht. Womit der FC St. Pauli ja ansonsten möglichst gar nichts mehr zu tun haben will. Warum auch mit den Deklassierten und Sex-Arbeiter*innen sich solidarisieren? Auch historisch steht es Verbindung mit „Die große Freiheit Nr. 7“; ebenfalls ein Film mit Hans Albers. Der wohnt da nicht nur am Pinnasberg, also gleich neben den Hafenstraßenhäusern - der Film durfte auch aufgrund der Zensur, trotzdem er zu Zeiten des Nationalsozialismus gedreht wurde, nicht gezeigt werden. Erst die Alliierten gaben ihn frei. Er zeige keine deutschen Seehelden, die Protagonisten würden nur saufen, rauchen und rumjammern, und ein Titel wie „Die große Freiheit“ sei eh zu subversiv, so die Goebbelsche Propaganda-Abteilung. Zudem „Einmal wird es vorbei sein“ im berühmten Song „La Paloma“ im selben Film als Zeile wehrkraftzersetzend wirken könne.
Das sei alles nur referiert, um zum einen erneut auf die Ambivalenz solcher UFA-Produktionen zu verweisen. Aber auch darauf, wieso zum Teufel eigentlich so ein Kitschlied Fanlied werden konnte, dass noch nicht mal so eine Backstory hat?
Ästhetiken sind immer sozial codiert. Sie verweisen auf Lebenswelten. Zielsicher hat sich nun also die Fanszene einen Song ausgewählt, bei dem es so erstaunlich nicht ist, dass er ihr um die Ohren fliegt.
Das liegt auch in der Verbindung von Punkrock und Heimat-Kitsch. Punk spielte schon in seiner Frühzeit mit Witzchen rund um Nazi-Ästhetiken - Bandnamen wie „Joy Division“, kann ja jeder googeln, wo das herkommt, Sid Vicious im Hakenkreuz-T-Shirt, auch die Erzählungen am Anfang des hervorragenden Buches „Verschwende Deine Jugend“ können hierzu gelesen werden. Punk zeigt sich 1976, 1977 insofern musikalisch avanciert, dass er den damals omnipräsenten Artrock von Pink Floyd bis Supertramp zertrümmerte und dessen Wurzeln, den Rock’n’Roll, gleich mit. Er zeigte sich urdemokratisch, weil es um „Do it yourself“ ging - 3 Akkorde kann jeder spielen, und rumschreien auch. So weit, so gut.
Punk etablierte sich jedoch auch als ästhetischer Gegenentwurf zu Disco, dem frühen Hip Hop und Synthie-Pop. Weil das alles wahlweise zu schwul oder zu schwarz war. Klar, das ist jetzt a long story short, ich gebe dazu gerne ergänzende Auskunft. Ich hatte 2008 eine von Dirks Laabs als Autor gefertigte Doku „Style Clash“ - Disco versus Punk“ als Executive Producer zu verantworten, die das vortrefflich herausarbeitete. Dirk trieb noch Punk-Fanzine-Macher aus dem New York der späten 70er auf, die sich für den Mist entschuldigten, den sie damals geschrieben haben. Durch die Rückkopplung des Punk an Rock-Elemente - nur 3 Akkorde erwiesen sich als Sackgasse - verschärfte sich das Problem noch. Die Rocker zogen in den Krieg gegen schwarz und schwul, also Disco-Musik. Heute ist das Zentralevent dazu, die Disco-Demolition-Night, in Deutschland mittlerweile auch recht bekannt. Zum Zeitpunkt, als Dirk sie in seinen Film einbaute, waren wir ziemlich weit vorn in der musikhistorischen Aufklärung. In einem Stadion verbrannte in den frühen 80ern ein Radio-DJ Disco-Platten, und die Masse johlte. Das bildet eine Vorstufe zu Trumps MAGA-Bewegung. Als Blondie - übrigens benannt nach dem Schäferhund von Adolf Hitler - mit „Heart of Glass“ oder KISS - mit SS-Runen im Bandnamen - im Falle von „I was made for loving you“ Disco-Elemente in New Wave bzw. Hardrock einbauten, da wurden sie dafür von vielen dafür gehasst. Und man HÖRT das in Rockmusik, selbst wenn da auch schwule Musiker aktiv sind. Man kann dazu zwar headbangen, aber nicht mit dem Arsch wackeln. Kann man zum „Herz zum St. Pauli“ mit dem Arsch wackeln?
Dass ganz im Allgemeinen trotz Regenbogenflaggen allerorten queere oder BPoC-Musikkulturen rund um den FC St. Pauli hoch im Kurs stünden, das wäre mir zumindest auch noch nicht aufgefallen. Vielleicht irre ich. Der FC St. Pauli war auch noch nicht mal in der Lage, die von allen deutschen CSDs gleichzeitig durchgeführte „Wähl Liebe“-Veranstaltung zu unterstützen und brachte eine Aufstiegsfeier auf die Bühne, bei der die Regenbogenflagge rund um die Hüfte von Kapitän Jackson Irvine das einzig für mich erkennbar Queere war. Er scheffelt Geld mit Regenbogen-Merchandising und Anzeigen mit entsprechender Kapitänsbinde, die für die Genossenschaft werben, und behauptet da auch noch, ohne ihn gäbe es keine Vielfalt. Als hätte er die Regenbogenflagge erfunden. Er tut aber außer einmal im Jahr im Falle von CSD-T-Shirt Editionen meines Wissens NICHTS für die queere Community. Die Fanszene war NICHT beteiligt, als es Demos gegen zunehmende Gewalt gegen Queers im Viertel gab. Sie ist zwar in der Lage, wenn ein Kevin Behrens sich schwulenfeindlich äußert, große Teile des Stadions mit Regenbögen zu füllen. Ob da nun geschieht, weil man nicht wie Nazis queerfeindlich sein will oder weil man sich für queeres Leben interessiert, das wird mir zumindest nicht klar.
Das ist auch das eigentlich Absurde an der aktuellen Diskussion. Dass zum einen ein Shitstorm gegen das Nicht-Singen, auch das Museum und den Verein tobt, als sei er von Peter Hahne orchestriert. Zum Anderen, dass bei der Diskussion um Alternativen überhaupt nicht gefragt wird, wer denn Opfer der Nazis war und ist und ob es nicht besser wäre, vielleicht mal in deren Fundus zu schauen, was sich als Alternativer anböte. Völlig fixiert darauf, nicht Nazi sein wollen, übersieht man so was halt. Einfach mal über den Tellerrand schauen und nicht wieder irgendetwas Wiedergängerisches aus der immer schon je eigenen Suppe löffeln, wie wäre es damit? „Der Hafen, die Lichter“, das ist Antifaschismus! Haha.
Es gab auch musikalische Menschen, die vor den Nazis ins Exil flüchteten, man glaubt es kaum. Friedrich Holländer, Marlene Dietrich und Kurt Weill zum Beispiel. Nicht „Heimat“ genug? Wieso eigentlich ein Hans-Albers-Schlager? Es wird viel von Antirassismus geredet, sogar Fanturniere veranstaltet. Was gibt es denn da so, was angeeignet werden könnte, ohne es zu überschreiben? Was existieren für queere Traditionen, an die man z.B. aus dem House-Kontext anknüpfen könnte? Was wären Musiker*innen, die so was produktiv umsetzen könnten, ohne nun ausgerechnet an den immer schon musikalisch konservativen Punkrock anzuknüpfen? „Bella Ciao“ wurde diskutiert, das ist wenigstens ein Lied antifaschistischer Partisanen. Wobei deren kommunistische Variante in Italien auch Schwule aufgeknüpft hat, meines Wissens.
Deshalb Erlenmeierkolben. Da erhitzt sich etwas selbstreferentiell, was erschreckend analog ist zur gesamtgesellschaftlichen Lage. Und schon wieder nur immanent bleiben will und dabei die ganze Zeit narzisstisch lediglich die eigene Identität unter sich diskutiert. Das ist ziemlich deutsch.
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