Wo nehmt ihr eure Kraft her?
In meiner letzten Fragerunde auf Instagram ging es viel um meine Rolle als pflegende Mutter, weobei die meisten verstanden haben, dass mein Mann und ich diesen Job wie viel andere in der Familie teilen. Und so wurden uns Fragen rund um die Diagnosen unserer Kinder gestellt, welche Hilfen wir uns im Alltag holen, welche Bücher ich zum Thema Autismus empfehlen kann. Zwei Fragen fand ich besonders schwierig zu beantworten und deswegen habe ich sie mir für eine ausführlichere Beantwortungsweise aufgehoben. Die eine Frage lautete, wie wir Psychohygiene betreiben würden. Ich beantwortete diese Frage damit, dass alles, was bei uns gesagt werden muss, auch gesagt werden kann. „Nichts unausgesprochen lassen.“ Wann immer mein Mann und ich Angst haben, verärgert sind, egal ob über uns selbst, den anderen oder eine dritte Person, wann immer wir viel Freude an etwas haben und sollte es noch so peinlich sein, wann immer wir überfordert sind, wir sagen es. Und müssen auch Verständnis für die Reaktion der*s anderen haben. Wir wissen aber auch, dass unsere Beziehung ein Safer Space ist, in dem wir erstmal immer alles sagen können, weil „OKAY“ immer die erste Antwort sein wird. Okay wertet nicht, okay stimmt nicht zu oder schmettert ab, okay macht sich nicht lustig, okay sagt „Ich höre dich, ich sehe dich.“
Die zweite Frage war, was wir tun, um unsere Energie wieder zu gewinnen, die wir in unseren anstrengenden Alltag stecken. Oder wie wir eben einen Ausgleich schaffen, damit wir selber nicht verloren gehen. Da musste ich ein bisschen drüber nachdenken und uns im Alltag beobachten. Ich unterscheide in drei Kategorien: die Alltagsablenkung, die mittelgroßen schönen Dinge und die Wow-wir-haben-es-echt-geschafft-xy-zu-machen.
Die Alltagsablenkung ist ganz klar digital. Würden die Nachbarn mich durch’s Fenster beobachten, könnten sie sehen, dass ich viel am Handy hänge, vielleicht sogar zu viel. Aber es ist nun mal so, dass eine halbe Stunde Spielen mit unseren Kindern sehr viel Kraft benötigt. Die Kleine klettert grade überall hoch, der Mittlere schmeißt immer viel, seine Konzentration muss gelenkt werden, er läuft weg, wenn die Konzentration nach lässt. Spielen mit dem Großen allein ist schön. Er taucht in eine Lego-Welt ab, baut vor sich hin und während ich eigentlich nur daneben sitzen muss, darf ich auch nichts anderes machen. Wobei manchmal darf ich seine Wäsche einräumen, letzte Woche sogar sein Bett machen. Wenn aber alle drei im Raum sind und ich mir wünsche, sie spielten gemütlich nebeneinander oder miteinander schreien irgendwann alle und jemand heult und mindestens zwei müssen auf meinen Arm. Nach einer solchen Episode, wenn sich alle ein bisschen beruhigt haben, tauche ich erstmal in mein Handy ab, scrolle durch Instagram und schubse ein paar Juwelen in King’s Diamond. Das mache ich immer wieder über den Tag verteilt. Instagram gibt mir ein gutes Gefühl, weil meine „Community“ mit schönen Nachrichten auf meinen Content reagiert. Außerdem fühle ich mich in meinem Alltag dann nicht so alleine, der im Moment ja nur aus meiner Familie und Therapeut*innen besteht. Ich schreibe mit Freunden auf Insta oder Whatsapp oder auf beiden Kanaälen gleichzeitig und kann so an ihrem Alltag teilnehmen und sie an meinem. Mein Mann macht das ebenso, natürlich tagsüber nur in der Mittagspause, abends dann mit verschiedenen Plattformen, Lieblingsserien und Youtube. Er schaut sich gerne Videos übers Gitarre bauen an, ich mag Videos von The Voice. Manchmal schaue ich auch Supernatural oder Criminal Minds auf dem Fernseher, während ich nebenher Juwelen schubse. Maximale Ablenkung durch alles, was das Internet zu bieten hat. In den Weihnachtsferien habe ich gemerkt, dass ich nicht viel zu dieser Ablenkung gekommen bin, weder tagsüber noch abends. Es war irgendwann nur noch ein „den Tag irgendwie überstehen und vor Erschöpfung um 20:30 Uhr einschlafen“.
Als mittelgroße, schöne Dinge bezeichne ich jetzt mal alles, was wöchentlich stattfinden kann. Unter der Woche sind wir zu müde und müssen zu früh aufstehen (5:20 Uhr), um uns regelmäßig auf dem Sofa zu treffen. Eine Serie haben wir schon lange nicht mehr gemeinsam geschaut, haben aber gemerkt, dass es uns fehlt. Und als mein Mann dann eine Leinwand und einen Beamer zu einem sehr günstigen Preis übernehmen konnte, haben wir ein Samstags-Sofa-Date eingerichtet. Da sind wir hoffentlich nicht zu müde und können im besten Fall mal bis 7:30 Uhr schlafen. Und so haben wir uns schon zu „Herr der Ringe“ mit Raclette oder Matrix auf 4 Meter Breite getroffen. Wir reden vielleicht nicht viel nebenher, aber wir halten uns an den Händen und liegen ungestört nebeneinander. Doch nicht nur solche Abende tun uns gut. Manchmal sind es auch einfach gute Tage als Familie, die nicht anstrengend sind, an denen sich alles leicht anfühlt, an denen wir ein bisschen vergessen können, was draußen ist und was nächste Woche an Terminen auf uns wartet. Oft sind solche Tage mit Ausflügen verbunden, auf denen alle richtig Spaß hatten und wir glücklich nach Hause kommen und dieses Glück sich noch eine ganze Weile fortsetzt und selbst der nächste Tag sich leichter anfühlt, obwohl er vielleicht sogar anstrengend ist.
Die die Wow-wir-haben-es-echt-geschafft-xy-zu-machen-Sachen wie Konzerte, gemeinsame Wellnesswochenenden oder ohne Kinder frühstücken gehen, sind immer schön, kosten uns aber in der Vor- und Nachbereitung oft viel Kraft. Wer kann auf die Kinder aufpassen, in welcher Kombination können wir die Kindersitter*innen auf die Kinder verteilen, wer kommt um wieviel Uhr, müssen wir jemanden abholen oder bringen wir hin, falls bei uns daheim betreut wird, müssen wir Mahlzeiten vorbereiten, falls auswärts betreut wird, müssen wir Taschen mit Wickelzeug und Wechselkleidung parat haben. Da muss das Ereignis schon richtig gut sein und richtig viel Eindruck hinterlassen, damit sich das nicht gegenseitig nulliert.
Ganz allgemein zehren mein Mann und ich von richtig guten Tagen oder Momenten sehr lange. Es gibt pro Jahr so 1-2 perfekte Momente, die nicht geplant werden können und die ich sehe, wenn ich mittendrin stecke, und die in meinen Kopf und in meinen Herz verweilen und für eine ganze Weile einen schönen Schleier über den Alltag legen. Da war dieses Kettcar-Konzert auf der Esslinger Burg, wo wir im Sommer 2019 waren. Es war warm, alle unsere Lieblingslieder wurden gespielt, ich hab zu „Deiche“ getanzt. Und dann hab ich diese Foto von uns gemacht. Es ist unscharf, aber ich sehe genau, wie glücklich wir sind. Ein perfekter Moment, der mich viele Wochen durch den Alltag getragen hat. Und das ist es, wie wir versuchen, nicht unterzugehn. Dran festhalten an der Gewissheit, dass es nicht nur alles anstrengend ist, sondern dass unser Leben auch ganz viel Gutes hat und es imemr möglich ist, geplant und ungeplant.