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Die Mandarine

Unsere Tochter wurde gestern 1 Jahr alt. Neben ein paar Tränen verdrücken und vielen Geschenken gab es auch krasse Erkenntnisse für mich und meinen Mann. Wir haben jetzt ein Jahr lang ein nicht-behindertes Kind durch die Welt begleitet. Davor kannten wir das nicht. Sie entwickelt sich richtig schnell: die ersten Zähne gab’s mit drei Monaten, das Gebiss ist (vorläufig) seit letzter Woche vollständig. Sie läuft, seit sie 10 Monate alt war und hat die Breiphase recht schnell hinter sich gelassen. Und genau beim Essen kam für uns der Punkt, der uns so richtig fertig macht.

Der Mittlere kann ja nach wie vor, auch mit bald 5 Jahren, keine Rohkost essen, vieles mit Schale bleibt hängen und an Knusprigem könnte er ersticken. Seine verengten Atem- und Speiseröhrenwege verursachen diese Probleme. Und wenn er es doch mal probiert, hat er nicht die Muskelkraft, um es raus zu husten. Verdammte Muskelschwäche. Unsere Essens- und Einkaufsplanungen drehen sich stark darum, was er imstande ist zu essen. Beim Großen genauso, aber auf einer anderen Ebene. Wurstersatzprodukte, die mein Mann und ich aus ökologischen Gründen bevorzugen, mag er nicht. Das Gefühl beim Anfassen und im Mund entspricht nicht dem, was er bei der Optik erwartet. Geschmack ist nicht entscheidend. Nur Konsistenz. Manches kann er nicht essen, weil er kleine Stücke nicht erträgt. Kräuter und manchmal sogar Pfeffer in Stampfkartoffeln? Gehen nicht. Rosinen im Hefezopf? Müssen vorher rausgemacht und einzeln gegessen werden. Wenn er Eintopf sieht, darf das Gemüse nicht zu klein püriert sein, weil er sonst nicht sieht, was es ist. Und viele Lebensmittel dürfen sich auf dem Teller nicht berühren.

„Sollen wir XY kochen am Wochenende?“ ist eine Riesenherausforderung für uns. Ganz viele Dinge gehen nicht, müssen abgewandelt, verändert, angepasst werden. Wir haben in den letzten Jahren viel Zeit damit verbracht, uns anzupassen. Unser verändertes Verhalten beim Anbieten von Speisen ist uns so vertraut geworden, dass wir nicht mal gemerkt haben, dass es von dem abweicht, wie es vielleicht in anderen Familien stattfindet.

Bis unsere Tochter anfing zu essen. Am Anfang hat sie sich natürlich noch oft geschüttelt, klar, plötzlich gab es so viele Geschmäcker und Gerüche, da war was Saures, danach knusprig, dann wieder fest oder ganz weich. Sie findet alles super spannend, ich finde es super spannend ihr zu zuschauen. Und irgendwas in mir war noch nicht so weit, Dinge auszuprobieren, die bei den Brüdern nicht geklappt haben.

Ich erinnere mich, wie mir unsere Tagesmutter mal ne Nachricht schrieb, dass der Große seit 40 Minuten auf der Haut eines Mandarinenschnitzes rum kaute. Er würde beim Versuch, sie zu schlucken, würgen, aber ausspucken wollte er sie auch nicht. Letztendlich schaffte sie es, ihm die Haut zu entlocken und ab da war klar, dass er Mandarine nicht gern isst und nicht gut essen kann. Dasselbe beim Mittleren. Die Haut kriegt er nicht immer gut hin, dabei liebt er das Saftige und Süße daran.

Als vor kurzem also die Mandarinenzeit begann, kauften wir welche für uns Erwachsene, weil die Kinder ja nur bedingt davon aßen. Und für die Kleine ist das ja noch nichts. Dachten wir. Dann reagierte sie eines Tages sehr stark darauf, dass ich eine Mandarine schälte und ich gab ihr einen halben Schnitz. Ich schaute kurz weg und erwartete, als ich wieder hin schaute, dass sie sie entweder in der Hand zerquetscht oder auf den Boden geschmissen hätte. Aber da war nix, nicht am Boden, nicht in ihrer Hand. Ich fragte meinen Mann „Hat sie die Mandarine gegessen?“ Er so „Ich hab’s nicht mitgekriegt.“ Also gab ich ihr noch ein halbes Stück. Sie steckte es in den Mund, kaute zwei Mal und weg war es. Mein Mann und ich schauten uns an und hier könnt ihr ruhig das „Mind blown“-Emoji einsetzen. Vielleicht auch ein paar Tränen. 

Wir haben ein nicht-behindertes Kind, das sich höchstwahrscheinlich altersgerecht entwickeln wird, das einen andern Maßstab als ihre Brüder braucht, das mehr „kann“. Das ist ne ganz krasse Erkenntnis nach den letzten Jahren und nimmt uns sehr mit. Oder wie meine Internet-Freundinnen @madeformotti (Öffnet in neuem Fenster) und @vorstadtzauber (Öffnet in neuem Fenster) so schön sagten: „Krass, wie schnell sich nicht-behinderte Kinder entwickeln.“