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Kram mit Charme

Meine Schwester darf niemals von diesem Newsletter erfahren. Es wäre wirklich gut, wenn Sie ihr bitte nichts davon erzählen würden, denn er handelt heute von meinem liebsten Pandemie-Hobby, das sie mir aus Hygiene- und Würdegründen streng verboten hat. 

Ich wühle gerne in Ramschkisten. Nicht in meinen eigenen, von denen ich noch genug im Keller und in der Abstellkammer bevorrate (und in denen ich spektakuläre Dinge fand, als ich nach meinem Impfpass suchte). Meine Leidenschaft gilt aber jenen Kartons, in denen Menschen  Dinge, die sie nicht mehr brauchen, zum Verschenken auf die Straße stellen. Keine Ahnung, ob das ein reines Berliner Ding ist – wenn sich ein Medium fände, das mich dafür bezahlen würde, unternähme ich gerne mal eine ausführliche Recherchereise durch die Republik, um kramsoziologisch zu erforschen, worin sich Ramschkisten in Bitterfeld von jenen in Freiburg unterscheiden. 

Schon immer konnte ich jedenfalls nie einfach vorbeigehen, wenn ich auf den Gassirunden mit meinem Hund an einer solchen Kiste vorbeikam, und während der Corona-Jahre hat sich dieses Interesse stark intensiviert. Erstens, weil ich – wie alle – viel mehr spazierenging, zweitens, weil viele Leute die Zeit zu Hause augenscheinlich zum ausgiebigen Rümpeln nutzten und die Kistendichte zumindest in meinem erweiterten Kiez ähnlich dramatisch anstieg wie die Doodlewelpendichte (DoWeDi) – vielleicht, fällt mir da gerade ein, schaue ich auf der Straße auch deshalb nahezu zwanghaft in wirklich jeden Karton, weil ja doch immer auch eine 0,5-Prozent-Chance besteht, dass jemand darin einen ungewollten Wurf Welpen entsorgen will, die ich dann übergangsweise bei mir aufnehmen würde, und mit übergangsweise meine ich: für immer. Drittes liebe ich die Kisten, weil ich mir durch sie – gerade in sehr isolierten Zeiten – immer auch eine Art dingsprachlich vermittelten Dialog vorstellte, mit einem Menschen, den ich zwar nicht kennenlernen werde, weil ich ja gottlob nicht in einer romantischen Komödie lebe, von dem ich aber einiges erfahre, allein durch die Betrachtung der Sachen, mit denen er nichts mehr zu tun haben will. Dass es nicht zufällig ist, womit wir uns im Alltag umgeben, welche Sessel wir uns in die Wohnung stellen, welche Tassen wir am liebsten benutzen, darüber gibt es reichlich mal mehr, mal weniger eierköpfige Bücher (Öffnet in neuem Fenster) (also wirklich viele (Öffnet in neuem Fenster),  und noch mehr (Öffnet in neuem Fenster)). Meine These ist ja: Noch mehr als die Sachen, mit denen wir unsere Wohnung teilen, über uns aussagen, plaudern  jene Dinge über uns aus, mit denen wir nichts mehr zu tun haben wollen. Die wir ja irgendwann einmal angeschafft hatten, aber die jetzt aus irgendwelchen Gründen weg müssen.

Über diese Gründe spekuliere ich gerne, wenn ich in den Kisten wühle. Vielleicht sind das Rest meiner Besessenheit mit dem Soziologen Pierre Bourdieu, dank derer der ich vor bald drei Jahrzehnten mit minimalem Aufwand und maximalem Gepose durch weite Teile meines Studium flutschte: Ich hatte mich ächzend durch sein Großwerk Die feinen Unterschiede (Öffnet in neuem Fenster) geackert, in dem er darlegt, warum unser Geschmack und unsere Urteile nicht zufällig , sondern durch unsere soziale Herkunft bestimmt sind, und damit sich dieser Aufwand amortisierte, bezog ich mich stoisch und schamfrei in wirklich jeder Seminararbeit darauf, weitgehend ungeachtet des Themas. Und es ist ja vor allem in Zeiten, in denen man nicht oft direkt mit Menschen zu tun hat, ein schönes Gedankenspiel, sich zusammenzufantasieren, welche Art Mensch in welcher Stimmung wohl diese Kiste gepackt hat.

Mit dieser Bourdieu-Chose versuchte ich auch meine Schwester zu überzeugen, dass es schon okay sei, wenn ich bei unseren gemeinsamen Spaziergängen mitunter zickzackig wie ein betagter Hase von einer Straßenseite zur anderen wechselte, um alle Kartons abgrasen zu können – tatsächlich optimierte ich im Laufe der Zeit meine bevorzugte Spazierstrecke entlang von beliebten Kistenablageplätzen, wohl eher ähnlich einem Reh, dass vom Jäger zwecks gemütlicherer Abknallbarkeit durch konsequente Anfütterung an bestimmte Orte gewöhnt wird. Meine Schwester hat aber leider eine deutlich geringere Ekelschwelle als ich und findet das Kistenwesen im Allgemeinen schrecklich unappetitlich, da ist nichts zu machen. In ihrer Anwesenheit darf ich den Inhalt einer Kiste nicht mal zur groben Begutachtung vorsichtig mit dem Handrücken auseinanderschieben, wie es einem Dr. Bob vom Dschungelcamp ja auch beim Umgang mit Schlagen, Spinnen und Zwicktieren empfiehlt. Ich will ja auch wirklich meistens nur gucken, sehr selten nur nehme ich dann auch tatsächlich etwas mit. Was meine Schwester anging, half es auch wenig, dass ich mir irgendwann im Seniorenbedarf eine Greifzange (Öffnet in neuem Fenster) anschaffte, um hygienischer arbeiten zu können. Als irgendwann an meinem liebsten, sogar luxuriös witterungsfest überdachten Ablageplatz ein strenges Verbotsschild hing, hatte ich sofort meine Schwester in Verdacht, sie lächelte nur sibyllinisch. Meine fellow Ramschlover ließen sich davon aber nicht beirren, nur zwei Tage später fand ich an besagtem Platz das hier vor: Ein Ramschablagesofa. Nature is healing.

Zwei Duschköpfe, ein trauriges Sexbuch und eine Rolle Geschenkpapier – für mich ist das ein hochkomplexes Stilleben. Meine Schwester wütete leider schon, als ich mich dem Sofa auf Armlängenabstand näherte.

Ich glaube ja, Andy Warhol wäre ein  guter Ramschkartonbuddy für mich gewesen. Er begann 1974 damit, so genannte Time Capsules zu packen: Bis zu seinem Tod füllt er Hunderte dieser Wundertüten in Kartonform, randvoll mit echter Kunst,  popkulturellen Objekten und absolut schäbigem Kram. Manchmal stellte er, wenn sich auf seinem Schreibtisch mal wieder zu viel Zeugs türmte, einfach einen großen, leeren Karton an die Schmalseite des Möbels, wischte mit einer Armbewegung alles mit einem Rutsch in die Kiste, ließ sie zukleben und von einem Assistenten ins Lager zu den anderen bringen. Leider stellte er sie nicht auf die Straße, denn der Inhalt war pures Gold. Sehr grob konnte man ihn  in zwei Kategorien unterteilen: Alltagsgegenstände aus seinem täglichen Leben und Rohmaterial, das er für seine Kunst benötigte. Also: Polaroids, die ihm als Vorlagen für seine Bilder dienten, ausgerissene Katalogseiten, geschäftliche Verträge, Postkarten, insgesamt etwa 4000 Audio-Kassetten von mitgeschnittenen Gesprächen mit allen möglichen Menschen, mit denen er mal zusammengearbeitet hatte, Opernkarten, Weihnachtsbaumkugeln, zerlesene Schwulenmagazine, leer gesnackte Pommestüten und ausgemusterte Kleidungsstücke, die ihm nicht mehr gefielen. Da waren Schallplatten, ein Klumpen Beton, eine ganze Tüte benutzter Paletten von Dali (noch vollgekleckst mit eingetrockneter Ölfarbe), eine Einladung zum Essen bei den Rockefellers, eine Hochzeitsanzeige von Liza Minelli, abgeklippste Fußnägel-Stückchen, tote Ameisen, ein mumifizierter Fuß und über dreißig silbrig-weiße Perücken. Als er 1987 starb,  hinterließ er 610 dieser Zeitkapseln mit geschätzt 300 000 Dingen darin, alles Indizien seines Lebens. Seit 1994 gehören die Zeitkapseln dem Andy Warhol Museum in Pittsburgh, das seitdem damit beschäftigt ist, alle Gegenstände zu registrieren. Der Museumsdirektor schätzt, dass sechs Leute 50 Jahre dafür bräuchten, um alle Kartons mit ihrem Inhalt zu erfassen. 

 Packregeln für eine gute Ramschkiste:

  • Unterschiedliche Konsistenzen und Haptiken wählen: Der Tastsinn grabbelt mit! Nichts ist fader als eine reine, monothematische Hemden-, Bücher- oder Plastikspielzeugkiste – wie bei einem guten Nudelsalat kommt es auf das richtige Mischungsverhältnis der Komponenten an. Einmal fand ich in einer Kiste übrigens tatsächlich ein großes Glas erst vor drei Jahren abgelaufener Mayo, da war die Freude groß.

  • Nicht zu protestantisch packen: Nützliche Dinge, die man tatsächlich gebrauchen kann, sind schön, brauchen zum Kontrast aber zwingend ein komplett sinnloses Fun-Element. Ich freute mich sehr, als ich einmal eine noch wohnungswarme Kiste mit sämlichen Berliner-Biermeile-Jahrgangssammelkrügen der vergangenen sieben Jahre fand, weil ich damit meine eigene, teils leider schon unachtsam zerdepperte Sammlung wieder komplettieren konnte (die Krüge sind wunderschön, weil sie jedes Jahr eine leicht variierende Form haben und auf ihnen ein lachender, aber eben augenscheinlich auch heimlich saufender Teddy (Öffnet in neuem Fenster) abgebildet ist). Noch mehr hätte ich mich aber gefreut, hätte ich in der Kiste außerdem auch noch ein noch halb gefülltes, schon etwas eingetrocknetes Fläschchen des sehr guten, geronnenes-Blut-roten Nagellacks mit dem exzellenten Namen Bitter Bitch (Öffnet in neuem Fenster) und einen angegilbten Kniffelblock gefunden.

  • Dramaturgisch anspruchsvoll packen: Eine gute Ramschkiste erzählt eine Geschichte, die man beim sachkundigen Kruschteln idealerweise Schicht für Schicht freilegt. Das entscheidende Indiz, das alle Teile und ihre Beziehung zueinander erschließt, muss natürlich auf dem Grunde der Kiste warten. Surprise me!

Wer seine Kisten nach diesen Prinzipien packt, dem ist ein Platz in meinem schwarzen Herzen sicher. Und wer in seiner Nachbarschaft regelmäßige, auch wertige Kistenablagen beobachtet: Schreiben Sie mir gerne mit den näheren Details.

Bis nächste Woche!

Herzlich, Anja Rützel

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