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Liebe Leserinnen und Leser,

Emmanuel Todd Lopez hat keine Ahnung, wie oft ich an ihn denke. 

Tatsächlich ist das inzwischen das erste, was ich jeden Morgen auf Twitter, Instagram und – sei’s drum, dann ergebe ich mich halt doch dem Kinderkram – TikTok kontrolliere: Ob es einen neuen Post vom Knucklebump-Farm-Account gibt, dem Bauernhof in Florida, auf dem der Emu Emmanuel lebt – und stört.

https://twitter.com/p4ndr_/status/1548017731936497665 (Öffnet in neuem Fenster)

Vermutlich kennen Sie Emmanuel Todd Lopez, 7 Jahre, schon alle längst, zumindest hoffe ich das sehr für Sie, weil er das Leben wirklich schöner macht. Ein bisschen fühlt es sich so an, als trage er bei jedem seiner Auftritte mit einem Schnabelschippen ein bisschen vom riesigen Misthaufen ab, den der sonstige Internetinhalt jeden Tag so aufhäuft. Zur Sicherheit rapportiere ich trotzdem nochmal im Schnelldurchlauf Emmanuels claim to fame: Der Laufvogel kam zu Viralruhm, weil er regelmäßig ungebeten in den Social-Media-Videos seiner Besitzerin Taylor Blake auftaucht und nach ihrem filmenden Smartphone pickt. Weswegen Taylor ihn als Gegenwehr mit der längst zur Catchphrase geronnene Ermahnung „Emmanuel, don’t do it!“ zur Räson ruft, allerdings meist mäßig erfolgreich: Mitunter entfernt sich der passionierte Picker erst dann von dem verhassten Gadget, wenn er streng mit seinem vollen Namen angesprochen wird.

https://twitter.com/hiitaylorblake/status/1551373000100003840 (Öffnet in neuem Fenster)

So weit die bekannte Mikro-Biografie von Emmanuel. Ich wäre nun nicht die talentierte Deadline-Verschlepperin und Selbstablenkungskünstlerin Anja „Ach, ich dachte, Abgabe ist morgen?“ Rützel, wenn ich mich nicht direkt zu umfangreichen Recherchen hätte hinreißen lassen. Demnach zog Emmanuels Pflegerin und Freundin Taylor Blake etwa vor einem Jahr auf die Knucklebump-Farm, die ihren Großeltern gehört, um ihnen mit den Tieren zu helfen. Neben Emmanuel und seiner Emufreundin Ellen leben dort unter anderem Esel, Ziegen, ein überaus renitenter Schwan namens Rico, das rätselhaft oralfixierte Reh Princess  und vor allem Miniatur-Rinder: Auf der Farm werden Schrumpfversionen von höckrigen Zebus und zottigen Highland-Rindern gezüchtet, die als Haustiere gehalten (und verkauft) werden.

Und dann schlug mein Trash-TV-Radar aus, und der hat mich natürlich noch nie im Stich gelassen: Taylor war tatsächlich Teilnehmerin (Öffnet in neuem Fenster) des Youtube-Formats „The Reality House (Öffnet in neuem Fenster)“, bei der diverse so genannte Content Creators nach dem alten Zusammenpferchprinzip gemeinsam in ein Haus gesteckt werden. Ein bisschen social-media-bekannt war sie also schon vor Emmanuel – aber nicht so prominent wie ihre Lebensgefährtin Kristian Haggerty, (Öffnet in neuem Fenster) die mit ihr auf der Farm lebt. Kristian wiederum bildete zusammen mit Demi Burnett das erste queere Paar bei der US-Ausgabe der Resteramscherei „Bachelor In Paradise“, und das kam so: Demi war als Kandidatin des US-„Bachelors“ in den Sumpf dieser Poussier-Parallelwelt geraten (in der 23. Staffel, in der Colton Underwood den „Bachelor“ gab, bevor er sich später im Rahmen einer eigenen Netflix-Doku (Öffnet in neuem Fenster) als schwul outete, good for him). In der ersten Folge von „Bachelor in Paradise“ erwähnte sie dann beiläufig, dass sie sich vor der Sendung ab und an mit einer Frau getroffen habe, woraufhin die Produktion natürlich sogleich besagtes potenzielles love interest, Kristian Haggerty nämlich, herankarrte. Demi und Kristian wurden ein Paar und verlobten sich in der Finalfolge, denn Romantik ist nicht tot. Irgendwann trennten sich die beiden dennoch, und Kristian und Taylor fanden zueinander. Man wundert sich ja manchmal, in welchen Kontexten Trash-Tv-Menschen irgendwann wieder zurück in die Wahrnehmung ploppen, aber als gute Bekannte eines internetprominenten Emus ist man da auf jeden Fall vorne mit dabei.

Ich habe länger darüber nachgedacht, was mich an Emmanuel noch mehr rührt als an all den anderen Internettieren, für die ich mich ja durchaus regelmäßig begeistere. „Become ungovernable. Be the Emmanuel you wish to see in the world“, twitterte die Autorin Deanna Raybourn zu einem Compilationvideo seiner schönsten Attacken, und womöglich liegt in diesem Gedanken einer der Gründe, warum sich so viele Menschen für dieses Tier begeistern können. Der Reiz seiner und Taylors Videos liegt ja gerade in der Konfro-Pattsituation: Hier  seine unbeirrbare Erpichtheit, da  ihr genervtes Flehen um Frieden und Ruhe. Damit liefern die kurzen Filmchen gleich doppelte Identifikationsmöglichkeiten: Wir würden schließlich insgeheim auch gerne wie Emmanuel impulsiv nach all den vielen, vielen Dingen picken, die uns stören oder belasten, unbeeindruckt von möglichen Konsequenzen. Und müssen stattdessen leider wie Taylor Blake die Nerven behalten und davor sorgen, dass die Dinge nicht völlig aus dem Ruder laufen. Ich jedenfalls könnte am Tag ganz easy hundertmal „Emmanuel, don’t do it!“ rufen, gerichtet an wechselnde Adressaten.

Und ich musste bei Emmanuels Videos wieder einmal an den Essay „Das Tier, das ich also bin“ des Philosophen Jacques Derrida denken. Er zweifelt darin die philosophische Tradition an, den Menschen innerhalb der Gesamtheit der Lebewesen als etwas Anderes, Besonderes, vor allem aber entschieden Höherstehendes als das Tier zu sehen. Denn es gebe doch viele offensichtliche Gemeinsamkeiten zwischen den beiden, schreibt Derrida: Ist der Mensch tatsächlich etwas ganz anderes als ein Tier?

Anlass für seine Überlegungen war eine heitere Szene, in der ein nackter Derrida vorkommt: Der Philosoph kam eines Tages aus der Dusche und begegnete solchermaßen unverhüllt und tropfend seiner Katze. Das Tier habe ihn stumm betrachtet, „von Angesicht zu Angesicht“, und er habe sich für seine Nacktheit vor der Katze geschämt, schreibt er. Weil er in diesem winzigen Moment erkannte, dass nicht nur wir Menschen Tiere betrachten, sondern dass das Tier auch auf uns zurückblickt. Indem Emmanuel ganz nah an die Smartphone-Kamera herankommt, hat man wirklich das Gefühl, er sehe einen durch den Bildschirm hindurch an. 

Derrida glaubte, die Philosophie rede die Gefühls- und Gedankenwelt der Tiere vor allem darum klein, um sie weiter ungehemmt ausbeuten zu können und sich ihnen ethisch nicht verpflichtet zu fühlen. Wenn es Emmanuel alleine nicht schafft, wenigstens einen Teil seiner Fans zu Vegetariern zu machen, können dabei vielleicht die Kälbchen helfen, die gerade auf der Farm geboren werden, und die Taylor Blake ebenfalls in ihren Storys zeigt. Alleine die Idee, dass man Rinder gar nicht essen muss, sondern auch als rührend schmusefrohe Haustiere halten kann, dürfte einige Menschen überraschen.

Bis nächste Woche!

Herzliche Grüße

Anja Rützel

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