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Warum ADHSler keine Tages- oder Gefühlsprotokolle in der Psychotherapie führen können.

Verhaltenstherapeuten lieben Protokolle - wenn sie sie nicht selber führen müssen. Also bevorzugt bei ihren Klienten.

Nur : Wenn man als ADHSler nun Fragebögen vollständig ausfüllen könnte / würde, bzw. über Tage und Wochen Selbstprotokolle und Listen führen könnte, bräuchte man doch keine Therapie…

Die Führung eines regelmäßigen Tages- oder Gefühlsprotokolls in der Verhaltenstherapie kann für Klienten mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) aber eine besonders herausfordernde Aufgabe darstellen. Dies liegt an verschiedenen Kernmerkmalen und Begleiterscheinungen der ADHS, die mit den Anforderungen eines solchen Protokolls oft in Konflikt stehen.

Kennen wir ja noch aus der Schulzeit, bei der Hausaufgaben eben nicht regelmässig erledigt werden konnten. Und nicht selten quasi noch Aversionen zusätzlich damit verknüpft sind, wenn nun das Führen von Protokollen / Berichtsheften etc über eine Woche oder gar länger erwartet werden.



Das liegt (u.a.) an:

  1. Probleme mit der Exekutivfunktion: Menschen mit ADHS haben oft Schwierigkeiten mit Exekutivfunktionen, einschließlich Planung, Organisation und Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit. Diese Funktionen sind entscheidend für die regelmäßige und systematische Durchführung von Aufgaben wie dem Führen eines Tagesprotokolls. Es fällt ihnen schwer, sich an die tägliche Routine des Protokollschreibens zu halten, und sie können leicht von anderen Aufgaben oder Ablenkungen abgelenkt werden​​.

  2. Schwankende Motivation und Stimmung: ADHS ist oft mit Schwankungen in Motivation und Stimmung verbunden. An Tagen mit geringer Motivation oder in Phasen niedriger Stimmung kann das Führen eines Protokolls als besonders belastend oder überfordernd empfunden werden. Dies kann dazu führen, dass die Protokollführung inkonsistent ist oder ganz ausbleibt.

  3. Vergesslichkeit und Ablenkbarkeit: Ein weiteres Merkmal von ADHS ist Vergesslichkeit. Klienten vergessen möglicherweise, ihr Protokoll zu führen, oder sie beginnen damit und werden dann durch andere Reize abgelenkt. Solche Ablenkungen können das kontinuierliche Führen eines Protokolls erschweren​​.

  4. Schwierigkeiten beim Erkennen und Benennen von Gefühlen: Einige Menschen mit ADHS haben Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu identifizieren und zu artikulieren, ein Prozess, der als Alexithymie bekannt ist. Dies kann das Führen eines Gefühlsprotokolls, in dem Klienten gebeten werden, ihre Emotionen genau zu benennen und zu beschreiben, besonders anspruchsvoll machen​​.

  5. Impulsivität: Die Impulsivität, die oft mit ADHS einhergeht, kann es für Betroffene schwer machen, sich für die notwendige Zeit ruhig hinzusetzen und reflektierend ihre Erlebnisse und Gefühle niederzuschreiben. Sie können zu spontanen Handlungen neigen, die das regelmäßige Protokollführen unterbrechen.

  6. Hyperfokus: Ironischerweise kann der für ADHS charakteristische Hyperfokus – eine intensive Konzentration auf bestimmte Interessen oder Aktivitäten – dazu führen, dass andere Aufgaben, wie das Führen eines Protokolls, vernachlässigt werden. Wenn sich jemand mit ADHS auf eine bestimmte Tätigkeit konzentriert, können sie andere Verpflichtungen, einschließlich der Protokollführung, vollständig aus dem Auge verlieren​​.

  7. Frustrationstoleranz und Selbstkritik: Die regelmäßige Konfrontation mit eigenen Schwächen und Herausforderungen im Rahmen eines Tages- oder Gefühlsprotokolls kann bei ADHS-Klienten zu Frustration und erhöhter Selbstkritik führen. Dies kann die Fortsetzung der Protokollführung erschweren und demotivierend wirken.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Führung eines regelmäßigen Tages- oder Gefühlsprotokolls aufgrund der spezifischen Herausforderungen, die mit ADHS einhergehen, für Klienten mit dieser Diagnose eine besonders schwierige Aufgabe sein kann. Es ist wichtig, dass Therapeuten diese Herausforderungen anerkennen und alternative oder angepasste Strategien zur Unterstützung ihrer Klienten mit ADHS in Betracht ziehen.

Es ist also keine Vermeidung oder gar Widerstand, wenn Protokolle vielleicht angefangen, dann aber nicht vollständig ausgefüllt werden oder zu Hause vergessen werden.

(Übrigens : wer mit komplett ausgefüllten Fragebogen-Sets von mehreren Seiten zur ADHS-Diagnostik kommt, ist mir verdächtig…)


Was könnten nun Alternativen dazu sein, damit die Therapeutin ein Feedback über Stimmung und Symptomatik erhält ?

Alternativen zum Führen eines detaillierten Tages- oder Gefühlsprotokolls können für Klienten mit ADHS hilfreich sein, um ihre Stimmungen und Verhaltensweisen zu erfassen und dem Therapeuten einen Einblick zu gewähren. Hier sind einige Vorschläge:

  1. Einsatz von Apps und Technologie: Digitale Tools und Apps, die speziell für die Stimmungs- und Verhaltensüberwachung entwickelt wurden, können hilfreich sein. Sie ermöglichen oft eine schnelle und einfache Eingabe von Informationen und können Erinnerungen senden, um die regelmäßige Nutzung zu fördern.

  2. Visuelle Hilfsmittel: Statt schriftlicher Protokolle können visuelle Hilfsmittel wie Stimmungsdiagramme oder Farbskalen verwendet werden, auf denen Klienten ihre tägliche Stimmung mit minimalen schriftlichen Erklärungen markieren.

  3. Kurze Check-ins: Anstatt detaillierte Protokolle zu führen, könnten Klienten täglich oder wöchentlich kurze Check-ins durchführen, bei denen sie in wenigen Worten oder Sätzen ihre derzeitige Stimmung oder signifikante Ereignisse beschreiben.

  4. Audio- oder Videoaufzeichnungen: Einige Klienten finden es möglicherweise einfacher, ihre Gedanken und Gefühle in Form von kurzen Audio- oder Videoaufzeichnungen auszudrücken, statt sie niederzuschreiben.

  5. Tagebuch mit offenen Einträgen: Anstatt täglich zu schreiben, könnte ein Tagebuch mit offenen Einträgen, in dem Klienten nur dann schreiben, wenn sie das Bedürfnis haben, weniger Druck und mehr Flexibilität bieten.

  6. Fokus auf spezifische Ereignisse oder Situationen: Statt ein kontinuierliches Protokoll zu führen, könnten Klienten gebeten werden, spezifische Ereignisse oder Situationen zu notieren, die starke Emotionen oder Verhaltensänderungen ausgelöst haben.

  7. Regelmäßige mündliche Berichte in Therapiesitzungen: Für manche Klienten könnte es einfacher sein, ihre Erlebnisse und Stimmungen direkt in der Therapiesitzung zu besprechen, anstatt sie aufzuschreiben.

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