ADHS - Die funktionelle Sicht
ADHS als Besonderheit der Regulationsdynamik und Exekutivfunktionen
Seit über 20 Jahren gibt es eine mehr oder weniger aktive Gruppe von Experten, die als ADD Forum Berlin sich so ihre eigenen Gedanken über Neurodiversität gemacht haben. Wesentliche Gründungsmitglieder waren Dr. Droll in Berlin, aber auch Corrie Neuhaus (Öffnet in neuem Fenster) oder dann Klaus Skrodski.
In ADHS-typischer Manier treffen wir uns regelmässig / unregelmässig und sind mehr oder weniger produktiv. Die Hauptfunktion dieses Freundes- und Arbeitskreises besteht aber eigentlich wohl eher darin, uns gegenseitig den Rücken zu stärken. Und natürlich neue und alte Ideen zu ADHS auszutauschen, die aus der Praxis entstammen
Da es sich fast ausschliesslich um selber betroffene ADHSler handelt, fliegen auch mal die Fetzen und es gibt Streits und Austritte, aber eben auch Ergebnisse.
Ein Ergebnis (an dem ich nun nicht beteiligt war, weil ich halt bei schriftlichen Muss-Aufgaben prokrastiniere ....) ist das Fallbuch ADHS bei Erwachsenen u.a. von Piet Altherr (Öffnet in neuem Fenster), Roy Murphy, Erika Tittman und Michael Wey. Hier werden praxisnahe Beispiele aus der Diagnostik und Therapie von ADHS dargestellt, die eben eine regulationsdynamische bzw. funktionale Sicht auf die Stärken und Probleme im ADHS-Spektrum zeigen.
Es geht halt dann darum, ADHS nicht als eine Auflistung / Checkliste von Symptome missverstehen zu müssen. Sondern eine andere, spezielle Funktionssteuerung und Regulation der höheren Hirnfunktionen (Exekutivfunkionen).
Anders- aber nicht unbedingt defizitär. Die daraus resultierenden Symptome können zu ganz erheblichen Beeinträchtigungen, ja Behinderungen führen. Aber das ist nicht allein am Vorhandensein von bestimmten Kriterien nach ICD oder DSM zu verstehen. Sondern nur im Kontext von individuellen Umfeldbedingungen, Lernerfahrungen bzw. eben Reaktion / Förderung / Behinderung auf diese Besonderheiten und eben dann auch eigene Kompensation / Masking.
Immer geht es dabei um eine konstruktive Sicht, also nicht um Defizite oder gar Störung. Sondern eben um Verstehen, was im neurodiversen Gehirn anders als bei "Stinos" = stinknormalen Menschen läuft.
Kritik am Begriff ADHS
Natürlich ist die Bezeichnung ADHS = Aufmerksamkeits-Defizit / Hyperaktivitäts-Syndrom ziemlich ungeeignet und muss zwangsläufig zu Missverständniss führen.
Die bisherigen zahlreichen Versuche eines besseren Namens laufen aber irgendwie auch ins Leere, oder?
VAST = Variable Attention Stimulation Trait von Ed Hallowell ist sicher noch eine ganz gute Annäherung an das Problem einer kategorialen Zuordnung oder Abgrenzung von "normal".
Typisch bei VAST / ADHS ist also die Variabiliät, die Verschiedenheit und auch die Fluktuation / Wechsel der Symptomatik im Bereich der Aufmerksamkeits-Steuerung und eben auch die entsprechende Stimulation und damit Voraktivierung des Gehirns.
Eine ähnliche Herangehensweise wählt unser Mitglied H. Lachenmeier.
Statt nun ausschliesslich symptombezogene zu klassifizieren spricht er von "Unusal Management of Informations and Functions".
Buchempfehlung : Mit ADHS erfolgreich im Beruf von Heiner Lachenmeier (Öffnet in neuem Fenster)
Ungewöhnlich oder eben von einer Mehrheit abweichende Funktionen im Bereich der Wahrnehmung und Reizfilter, Informations- und Emotionsverarbeitung, Zugriff auf das Arbeitsgedächtnis und eben im Bereich der Exekutivfunktionen.
Ich finde dann sein Filtermodell wegweisend für das Verständnis von ADHS (oder wie auch immer wir nun die Bezeichnung wählen).
Bei ADHS sind quasi die Poren für die Reiz-Filter zu weit bzw. es kommt zuviel Input auf einmal. Das führt bei der Reizoffenheit zur sensorischen und emotionalen Überflutung.
Neurodiversität und ADHS
Mir gefällt ja der Begriff neurodiverses Gehirn noch besser. So wie es Diversität im Spektrum Mensch nun für Körpergrösse, Haarfarbe, ethnische Zugehörigkeit oder sexuelle Orientierung gibt, so ist auch unser Gehirn individuell wie ein Fingerabdruck.
Einmal, weil ADHS unnötig pathologisierend ist bzw. einfach so negativ vorbelegt zu sein scheint. Aber auch, weil es eben mir nicht so sehr um ein Syndrom nach den Kriterien der Psychiatrischen Klassifikationssysteme ICD oder DSM geht.
Es geht mir darum, ein Verständnis für die besondere Empfindsamkeit und eben teils zu geringe, dann wieder überschiessende Aktivierung und Steuerung von Aufmerksamkeit, Emotionen, Impulsen und Handlungen zu bekommen.
Neurodiversität steht aber eben schon für einen Oberbegriff und umfasst ja dann auch neben ADHS u.a. das Autismus-Spektrum, Legasthenie, Dyspraxie oder Dyskalkulie. Für mich dann auch noch Hochsensibilität (wenn man die Definitionen vorsichtig verwendet) oder Hochbegabung. Halt ein Gehirn bzw. eine Funktionalität und Regulation des Gehirns, die spezieller ist.
Und damit auch wieder um die Funktionsweise unseres Gehirns, unserer neuronalen Netzwerke und die Informationsverarbeitung und Reaktion.
Was bedeutet dann Diagnostik bei ADHS ?
Letztlich geht es dann nicht um die Frage "habe ich ADHS" im Sinne von Ja oder Nein ?
Daher sind ja auch Checklisten mit den Symptomen nach ICD nicht mehr als Checklisten. Man kann und sollte damit keine Diagnostik im Sinne eines Cut-off machen (was aber nach den diagnostischen Kriterien ja gefordert ist).
ADHS versteht man nur, wenn man sich die Entwicklung über die Zeit (also das Leben des Klienten), seine Persönlichkeit, sein Umfeld und nicht zuletzt auch seine eigene Kompensation / Masking genauer anschaut. Und dann eher in Form von Anekdoten bzw. Berichten von typischen Situationen mit Anforderungen an das "Funktionieren" schaut, ob sich da überdauernd und mit deutlichem Leidensdruck quasi der "Fingerabdruck" einer ADHS-Konstitution bzw. von Neurodiversität ergibt.
Das ist zeitaufwendiger als ein Screenigfragebogen. Es ist auch zeitaufwendiger als einem Probanden nun etliche Fragebögen mit immer gleichen 18 ADHS-Frage-Kriterien zu schicken und auf "komplettes" Ausfüllen der Fragebogen als Voraussetzung für ein Diagnostikgespräch zu drängen.
Ich werde jedenfalls eher misstauisch, wenn ein Proband von mir auf alle Fragen dieser Checklisten immer und klare Antworten hätte (oder nicht mal Fragen komplett offen lässt oder mit zig Bemerkungen versehen zurückgibt).
Daher mag ich auch selber so ungern Diagnostik anbieten. Ich finde, ADHS-Diagnostik bedeutet eher : Ein gemeinsames Erkunden des Reaktions- und Wahrnehmungsstils meines Klienten. Und das kann ich eben nicht in einer Sitzung.
Es geht um ein eigenes Verständnis davon, ob nun die Funktionssteuerung und letztlich auch Teilhabe im Alltag und in Ausbildung und Beruf dem Regulations- und Wahrnehmungsstil ADHS entspicht.
ADHS wird sicher charakteristischerweise sehr fluktuierend, also wechselnd zeigen. Je nach Anforderungen an die höheren Handlungsfunktionen, Stressbedingungen, aber auch emotionaler Voraktivierung durch die Aufgabe oder eben Personen mit denen man es zu tun hat.
Hierzu gehören dann einige Charakteristika (ohne Anspruch auf Vollständigkeit)
Angeborene Reizoffenheit bei Reizfilterschwäche
genetische Disposition = weitere Familienangehörige mit ADHS-Konstitution
frühe Anzeichen für Entwicklungsverzögerung / Entwicklungsbesonderheiten
häufig weitere Teilleistungs- und Wahrnehmungsbesonderheiten (
hohe Emotionalität bzw. affektive Schwankungen (sog. affektive Labilität / intermittierende Dysphorie)
Emotionale Impulsivität und Schwierigkeiten mit der inneren Bremse (Response Inhibition)
Besonderheiten der Exekutivfunktionen (z.B. Prokrastination, Zeitblindheit, Probleme vom Wollen ins Tun zu kommen)
Intoleranz für Langeweile
hohe Empfindsamkeit für Kritik und Ungerechtigkeit (Rejection sensitive dysphoria)
Und auch wenn es Hochnäsig klingen mag : Man spürt als erfahrener Diagnostiker / ADHSler eher, ob mein Gegenüber einen neurodiversen Denk- und Wahrnehmungsstil hat. Diese besondere Regulationsdynamik bildet sich natürlich auch im Kontakt ab und ist dann eigentlich das wesentliche Diagnostikinstrument bei mir.
Das kann also eine sehr schnelle "Blickdiagnose" sein, die ja so häufig (und wohl auch berechtigt) kritisiert wird. Aber die Blickdiagnose ist dann nicht wichtig. Wichtig ist, dass ich dann mit meinem Klienten seinen Blick und seine Orientierung neu sortiere (oder vielleicht auch nur bestätige, also Validierung mache)
Was bedeutet dann "Therapie" bei ADHS?
Gute Frage.
Für mich ist es eher eine Art Lotsenfunktion. Ein Begleiten in einer Umorientierungsphase.
Natürlich kann und sollte da die Frage gehören, ob und wie man Medikamente einsetzt.
Aber eigentlich viel wichtiger, eine Einordnung der bisherigen Erfahrungen und eben sehr praxisnahe Hilfen für den Umgang mit diesen Besonderheiten.
Das ist dann eben doch meistens mehr Coaching, also ausgerichtet auf pragmatische Hilfestellungen im Hier und Jetzt. Und eben ganz viel Wissensvermittlung = Störungsbild-Teaching.
Hier finde ich beispielsweise "Nido-Therapie" wichtig. Damit ist gemeint, dass man sein Umfeld so anpasst, dass es den eigenen sensorischen Anforderungen bzw. dem eigenen Wahrnehmungs- und Denkstil entspicht.
Im Coaching geht es dann u.a. darum ein tieferes Verständnis für die Exekutivfunktionen zu vermitteln. Also die Bereiche, die dann mitbestimmen, warum man im Alltag immer wieder nicht "Liefern" kann, was man eigentlich weiss und will.
Daneben finde ich aber auch die Themen positive Stressbewältigung bzw. De-Alarmierung wichtig, weil nur unter Sicherheit bzw. stressarmen Bedingen die Exekutivfunktionen gut laufen werden.
Daneben sind dann Themen wie Kommunikation mit unserer Umwelt / Mitmenschen bzw. Soziale Interaktion (und Abgrenzen / Nein-Sagen) wichtig.
Psychotherapie ist dann häufig die Bearbeitung der Folgestörungen bzw. typischer Interaktionsmuster. Dazu setze ich dann auf ACT = Acceptance and Commitment-Therapie oder Ansätzen aus der Positiven Psychologie.
Die überdauernden Muster und auch Selbstsabotage / dysfunktionaler Interaktionsmuster kann man nach meiner Erfahrung dann ganz gut mit Schematherapie aufgreifen.
Wenn es dann um die emotionale Last bzw. auch Stressfolgestörungen / Erschöpfung bis hin zu Trauma und strukturelle Dissoziation geht, setze ich eben auch auf Traumatherapie (Emoflex bzw. EMDR, aber auch Überlegungen aus der Polyvagal-Therapie).
Vom Makel und Defizit zum Nutzen der eigenen Ressourcen und Stärken.
Es wäre illusorisch ADHS nun nur als eine ganz tolle Sache zu verkaufen. Aber ich möchte den besonderen Denk- und Wahrnehmungsstil auch bei mir nicht missen. Ich möchte verstehen und umsetzen können, was es ausmacht neurodivers zu sein.
Das versuche ich schon lebenslang. Aber eben dann professioneller seit 1998. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich da schon ALLES weiss. Vieles ändert sich dauernd bzw. wird ergänzt und verändert. Aber ich habe auch in der Klinik gemerkt, dass diese neue Sichtweise auf psychiatrische "Störungen" eben ganz neue Optionen in der Unterstützung meiner Klienten und damit auch von Selbstwirksamkeit und Selbstmanagement ergibt.
Damit ist ADHS dann eben weit mehr als ein Mangel an Konzentration oder ein Überschuß an Aktivität.
ADHS wird somit besser als eine Selbstregulationsproblematik mit Auswirkungen im Selbstmanagement begreifbar.
Oder wie seht ihr das ?
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