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Menschlichkeit lässt sich nicht wegoptimieren

Vielleicht kennst du das: Es gibt da diese Idee, dass irgendwann mal alle Baustellen behoben sind – Die Ernährung ist low carb und whole food, die Yoga-Routine steht, der Schlafrhythmus ist regelmäßig. Du schaufelst keine Chips mehr in dich rein, während du vor dem abendlichen Trash-TV versackst, sondern kuschelst dich total selbstfürsorglich mit einem klugen Buch und einer Tasse Kräutertee aufs Sofa. Endlich hast du sie: Die Landkarte, auf der nur noch gesunde Mittelwege verzeichnet sind. Stetig, achtsam, produktiv, das Leben in Balance. 

Die Realität sieht für die meisten Menschen anders aus. Sie verlieren sich in Nebensächlichkeiten, prokrastinieren die Steuererklärung, scrollen zu lange durch Social Media, haben Phasen von großer Produktivität und Phasen von gedrückter Stimmung. Sie zweifeln an der Qualität ihrer Arbeit, manchmal zurecht, aber meistens nicht. Sie machen eine Millionen Sachen und fragen sich, wieso sie eigentlich erschöpft sind. Sie lassen ein großes Blutbild machen, um herauszufinden, ob es am B12 liegt und sind enttäuscht, wenn es nicht am B12 liegt. Sie beginnen einen neuen Sport, den sie nur kurz wegen einer Erkältung pausieren und ärgern sich ein halbes Jahr später immer noch darüber, dass sie nie wieder hingegangen sind. Sie googeln Life-Hacks und nehmen sich vor, einfach jeden Morgen 15 Minuten aufzuräumen. Und während sie das Gefühl haben, eine Sache nach der nächsten aus dem Weg räumen zu müssen, bevor sie sich erlauben können, wirklich zu leben, übersehen sie, dass genau das das Leben ist.

Die kleinen und großen Alltagsprobleme sind nicht die Hürden auf dem Weg zum eigentlichen Leben. Sie sind das Leben.

Leben ist das Stück Käse im Kühlschrank, um das man verlässlich herumgreift, bis es wirklich schlecht geworden ist und man es wegwerfen kann. Leben ist Kita-Platz-Suche, das Fahrrad reparieren und der Kaffee-Vollautomat, bei dem ständig irgendwas ausgetauscht werden muss: Wasser, Kaffeesatzbehälter, Bohnen, Entkalker oder der Typ, der sich um nichts davon selber kümmert. Leben besteht zu großen Teilen aus sehr profanen Tätigkeiten und sehr starken Gefühlen wegen dieser profanen Tätigkeiten. 

Wenn man sich in der aktuellen Selbsthilfe, Coaching und Lebensweisheits-Bubble so umschaut, könnte man den Eindruck kriegen, dass im Grunde alles, was wir tagtäglich erleben, ein Problem ist, das wir lösen müssen. Noch dazu erscheinen immer häufiger irgendwelche menschlichen Regungen als zu bearbeitende Psychopathologien. Keinen Bock haben ist eine »Trauma Response«, überfordert sein ist neurodivergent, Arschlöcher sind Narzissten, Angehörige, die sich Sorgen machen, sind »co-abhängig« und »stützen das Suchtsystem«. Und so wichtig ich zugängliche psychologische Informationen finde, kann das alles auch ganz schön Druck machen. Druck, die richtige Antwort auf alles zu finden. Druck, super aufgeräumt durch’s Leben zu gehen. Druck, in einen Zustand »innerer Reinheit« zu finden.

Es ist kein Geheimnis, dass ich großer Fan davon bin, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Ich finde es gut, nach Antworten zu suchen, Neues auszuprobieren, sich weiterzuentwickeln und ab und zu Salat zu essen. Ich finde es lohnend, die Prozesse im eigenen Leben mal genauer zu betrachten, um sie vielleicht ein bisschen angenehmer, schneller oder klüger zu gestalten. Und ich glaube daran, dass man damit wirklich etwas bewirken kann (sonst hätte ich Beratung nicht zu meinem Beruf gemacht). Aber ich habe in den letzten Jahren auch genug Selbsthilfebücher gelesen, um in die Versuchung der einfachen Lösung zu kommen. Wie könnte ich auch nicht?

Die moderne Selbsthilfebubble verspricht mit Routinen, Mindsets und Achtsamkeit so eine Art beständiges Glück: das beigefarbene, gut ausgeleuchtete und fleckenfreie Leben in Balance. 

Die Sache ist bloß: Wenn es wirklich so einfach wäre, wenn es nur die richtige Routine bräuchte, hätte niemand mehr irgendwelche weltlichen Probleme. Und abgesehen von der absoluten Unmöglichkeit, so ein Leben zu führen, könnte man sich auch fragen: Will ich das überhaupt? 

Leben bedeutet Bewegung und Bewegung bedeutet Wandel. Anstrengenden, beängstigenden, schockierenden, erleichternden, langsamen und viel zu schnellen Wandel. Du blühst auf und bist erfüllt, kriegst alles gut hin und denkst, es könnte ewig so weitergehen, bis du dich verliebst oder entliebst, eine Konstante wegbricht, sich eine neue Chance ergibt oder deine Aufmerksamkeit ein neues Ziel findet. Und plötzlich ist eben alles anders. Das ist kein Zeichen dafür, dass etwas falsch läuft. Es ist ein Zeichen dafür, dass du lebst. 

»Wir sind zyklische Wesen mit Sprüngen, Energiestürmen und Phasen von Einkehr oder Müdigkeit.« habe ich neulich in eine Instagram-Story geschrieben.

»Der Anspruch gleichbleibend und konstant jeden Tag mit demselben Energielevel dasselbe zu leisten (aka »die perfekte Routine« zu etablieren) ist Ausdruck von einer kapitalistischen Idee, nach der Menschen verlässlich und quantifizierbar seien sollen.« Ich habe darauf so viele Antworten bekommen, dass ich dachte: »Okay, das scheint nicht nur mein Ding zu sein.« Aus allen Antworten sprach dieselbe Erleichterung: »Puh, danke, das musste ich mal hören«. Ich verstehe das gut. Der Anspruch, ständig in Balance und Harmonie zu sein, ist zwar nachvollziehbar, aber – im wahrsten Sinne des Wortes – unmenschlich.

Mensch zu sein bedeutet, widerstrebende Bedürfnisse zu haben.

Sicherheit und Freiheit, Ruhe und Aufregung, Ausdruck und Einkehr, Harmonie und Selbstbehauptung, Eigenständigkeit und Gemeinschaft. Das alles sind Grundkonflikte, die sowohl in uns als auch mit anderen bestehen. Deine Antworten auf diese grundlegenden Konflikte sind dein Leben. Du kannst lernen, bessere Antworten zu finden, aber wenn du die Dynamik selbst beseitigen willst, wirst du nicht nur scheitern, du würdest auch etwas verlieren: die Aufregung, die Unsicherheit und ihre Überwindung, die neuen Vorhaben und großen Sehnsüchte, das beständige Vergehen und Neuentstehen, das aufgeregte Flirren eines neuen Anfangs, die schwere Leere nach einem ungewollten Ende und die zähe Müdigkeit einer zu lang gezogenen Routine. Das Aufbrechen einer tiefen Dunkelheit, die Perspektivwechsel, die nur entstehen können, wenn wir Konflikte austragen, ohne die Verbindung abzubrechen. Kreativ und inspiriert sein, ideenlos und blockiert sein. Die Erfahrung, mit all dieser Menschlichkeit noch immer einen Platz am Tisch zu haben. Man kann mit dieser Menschlichkeit nur leben, man kann sie nicht aus sich herausoptimieren. Und so wie die profanen Alltagsärgernisse nicht die Hürden auf dem Weg zum eigentlichen Leben sind, sind auch diese Gefühle nicht die Hürde, die wir überwinden müssen, um endlich Leben zu dürfen. Sie sind das Zeichen dafür, dass wir es schon tun. 

Macht also ruhig häufiger mal Mittagsschlaf.

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