Frohes neues Jahr!
Über die Feiertage hatte ich Urlaub und das Privileg, die Netflix-Produktion „The Witcher“ zu schauen. Es war eine sehr befriedigende Erfahrung, muss ich sagen.
Ich mag Fantasy gern, auf dem Bildschirm mehr als auf dem Blatt Papier. Das liegt daran, dass ich arbeitsbedingt viel lese und kaum Zeit für Fantasy-Romane habe. Was ich bei „The Witcher“ interessant fand ist, dass die Serie eine positive feministische Lesart bietet, was beispielsweise bei „Game of Thrones“ so nicht möglich wäre.
https://twitter.com/sibelschick/status/1477333884559925248 (Opens in a new window)Achtung, hier folgen Spoiler. Wenn du die Serie noch nicht geschaut (oder die Bücher noch nicht gelesen) hast, könnten in folgenden Absätzen zu viele Informationen enthalten sein.
In der ersten Folge lernen wir Geralt of Rivia kennen, und dass die Welt, in der er lebt, ihn als Monster betrachtet. Menschen wollen ihn nicht in ihrer Nähe haben, er darf nicht unter Menschen leben, er gilt als unintegrierbarer Mutant, verunsichert Menschen, macht ihnen Angst. Wir erfahren, dass den Witchern jegliche Emotionen herausgezüchtet würden, sie weder Liebe spürten noch Hass, weder Glück noch Trauer. Kommt dir das bekannt vor? Mir schon. Und zwar als toxische Männlichkeit: Mann zu sein bedeute Gefühllosigkeit und Gewalt, und mehr nicht.
Also Geralt soll in diesem Sinne ein ganz normaler cis Mann sein, so interpretiere ich es. Und obwohl die Gesellschaft ihn genauso braucht, wie er sein soll, weil er die Monster, die er jagt, nur so jagen kann, schließt sie ihn aus und schaut auf ihn herab. Wir begleiten Geralt auf seiner Reise und erleben, dass die Vorurteile gegen ihn nicht stimmen. Wir sehen, dass er sich verliebt, dass er an seinen Entscheidungen zweifelt, dass ihm Wut, Sehnsucht und Reue nicht fremd sind. Und dass er, selbst wenn er beruflich Monster tötet, sich nicht immer für das Töten entscheidet, obwohl das manchmal das Einfachste für ihn wäre.
Das gilt auch für die anderen Witcher, also Geralts Familie, wenn Geralts Tochter Cirilla besessen wird. Cirilla verfügt über unfassbare Kräfte und wird besessen. Sie beginnt erst, schlafende Witcher umzubringen, lässt dann mächtige Monster auf sie los. In diesem Moment wäre es am einfachsten für die überlebenden Witcher gewesen, Cirilla auf der Stelle zu töten. Stattdessen gefährden Geralt und die anderen ihr eigenes Leben, um Cirilla zu retten. „Komme zurück nach Hause, Mädchen. Wir sind deine Familie“ rufen sie ihr wiederholt zu und versuchen sie mit Liebe und Zuneigung zu erreichen, um sie von der Besessenheit herauszuholen. Gerade jene Gruppe Männer, deren einzige Eigenschaft Gewalt, Gefühllosigkeit und Härte sei, zeigt plötzlich Zerbrechlichkeit, opfert sich für ein junges Mädchen, und zwar aus familiärer Liebe. Weil Liebe eben Arbeit bedeutet, und Arbeit ist nicht immer easy. Ich finde, dass diese Vermittlung einer anderen Männlichkeit viel wert ist.
Das ist natürlich nicht alles, was man über „The Witcher“ schreiben kann. Auch kritische Aspekte sind darin zu finden. Es gibt zudem weitere Charaktere, über die man sprechen könnte. Yennefer, zum Beispiel, bietet unfassbar viel Diskussionsstoff. Aber wir belassen das mal dabei. Wenn du Lust hast, dass ich auch über Yennefer schreibe, melde dich gerne unter contact@sibelschick.net. Wenn sich genug Menschen dafür interessieren, schreibe ich in der nächsten Folge drüber.
Auch die Musik von „The Witcher“ finde ich sehr schön, vor allem den Song „Burn Butcher Burn“ von Joseph Trapenese und Joey Batey. Gönn dir! Ist echt ein Genuss.
https://open.spotify.com/track/6Hp57iv0VLGgmWyOFx8iUm?si=54a1c63fab4b4cfe (Opens in a new window)🍋
Die Kolumne des Monats schrieb Juliana Franke. Juliana spielte eine große Rolle dabei, dass die Absicht, Jamilla, eine geflüchtete trans Frau aus Äthiopien, aus Deutschland abzuschieben in den Medien thematisiert wurde. Sie organisierte die Demonstrationen gegen Jamillas Abschiebung mit und leistete viel auf Social Media, um Aufmerksamkeit zu generieren. Am Ende führten ihre Aktionen und die anderer Menschen dazu, dass das BAMF Jamilla doch nicht abschieben konnte. In Julianas Text geht es um die Situation von trans Geflüchteten in Deutschland.
Drei Fragen sind diesmal mit der wunderbaren Autorin Sharon Dodua Otoo! 🎉 Sharon ist eine deutsch-britische Autorin und Publizistin. 2016 wurde Sharon bzw. ihr Text „Herr Gröttrup setzt sich hin (Opens in a new window)“ mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Ihr erster Roman „Adas Raum (Opens in a new window)“ erschien 2021 bei S. Fischer Verlag.
Saure Zeiten erscheint monatlich und ist kostenlos abrufbar wie abonnierbar. Die Arbeit kostet allerdings Geld und Zeit. Du kannst mich mit 9€/Monat unterstützen. Bei einer Jahresmitgliedschaft bekommst du 10% Rabatt. Als Dankeschön sende ich dir mein Leseheft „Deutschland schaff‘ ich ab. Ein Kartoffelgericht“ mit Widmung.
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Kritik und Anmerkungen gern an: contact@sibelschick.net
Danke und liebe Grüße
Sibel Schick
Was hast du immer in der Tasche dabei?
Sharon Dodua Otoo: Abgesehen von den üblichen Dingen (Schlüssel, Bargeld, FFP2 Maske usw.) habe ich immer eine Wäscheklammer dabei. Lifehack! So kann ich unterwegs halb-leere Packungen von Chips, Nüssen oder sonstigen Snacks verschließen. Und wenn ich auf Lesereise bin und keine Mappe oder keinen Umschlag dabeihabe, kann ich damit auch Bahntickets und andere Belege zusammenhalten.
Hast du ein Kleidungsstück, das eine besondere Bedeutung für dich hat?Sharon Dodua Otoo: Ich trage oft einen hellgrauen Pullover, den ich sehr liebe und vor ca. zwei Jahren meinem Sohn aufgeschwatzt habe, als er ihn gerade gekauft hatte. Er hatte den Fehler gemacht, mich zu fragen, was ich davon halte. „Er passt nicht zu dir“, sagte ich. „Er würde mir viel besser stehen...“
Hast du ein Lieblingsbuch? Wenn ja, welches ist es und warum?
Sharon Dodua Otoo: Ja, das ist kein Geheimnis. Mein Lieblingsbuch ist „Beloved“ von Toni Morrison. Die Geschichte einer Mutter, Sethe, die ihr eigenes Kind ermordet, um es vor Versklavung zu retten, erschütterte mich damals beim ersten Lesen und begleitet mich als Mutter und als Schriftstellerin bis heute. Ich lese es hin und wieder und kann es immer noch nicht ganz greifen.
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Inhaltswarnung: sexualisierte, körperliche, psychische Gewalt
Missachtet auf allen Ebenen
Von Juliana Franke
Keine Chancen für trans Frauen wie sie – so bewertet Denisa die Situation in ihrem Herkunftsland. Sie ist im Herbst 2021 aus Albanien nach Deutschland geflohen. Im Zentrum der Hauptstadt Tirana wurde im November 2019 eine wohnungslose trans Frau von einer Gruppe Männer brutal zusammengeschlagen, bis sie ihr Bewusstsein verlor (Opens in a new window). Im jährlichen Bericht (Opens in a new window) der LGBTQ+-Organisation ILGA Europe zur Lage in Albanien aus dem gleichen Jahr, gaben sechs trans Frauen an, wegen ihrer Transgeschlechtlichkeit aus ihren Wohnungen geworfen worden zu sein. Die Unmöglichkeit, den Geschlechtseintrag zu ändern, von der auch Denisa berichtet, zusammen mit dem vollkommen fehlenden Schutz vor Diskriminierung bis hin zum Wohnungsverlust, führen zu Lebensrealitäten, die in ständigen Bedrohungslagen bestehen. Dieser Realität wollte Denisa entfliehen. Doch laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist Albanien ein sicheres Herkunftsland (Opens in a new window), aus denen es keinen Grund zur Flucht gebe. Auch für trans Frauen.
Höre dir Julianas Interview mit Denisa an
Monatelanges Warten auf eine Anhörung beim BAMF, demütigende Verhöre, erneutes zermürbendes Warten auf den Asylbescheid – die Schilderungen der Geflüchteten und die BAMF-Bescheide gleichen eher Ermittlungen gegen Straftäter*innen. Schutzsuchende, traumatisierte Menschen, Opfer von extremer psychischer, physischer, sexueller Gewalt, werden Sachbearbeiter*innen vorgesetzt, die alles daransetzen, sie in Widersprüche zu verwickeln. Auch in Deutschland ist Geflüchteten ohne Aufenthaltstitel keine Änderung ihres Geschlechtseintrags (Opens in a new window) möglich. Medizinische Versorgung über den Notfall hinaus erhalten sie erst ab 18 Monaten Aufenthalt – ebenso eine Missachtung ihres trans Seins.
So schildert auch Jamila, eine äthiopische trans Frau, ihr BAMF-Interview: Sie musste einem Sachbearbeiter, einem ihr wildfremden Mann, ihre monatelange Inhaftierung in einem äthiopischen Männergefängnis schildern. Unter anderem von Vergewaltigungen durch Polizisten und Mithäftlingen. In Äthiopien kann der Geschlechtseintrag nicht gewechselt werden, ganz so als gäbe es keine trans Menschen. Jamila hatte als Frau männliche Ausweispapiere und wurde mit 26 Männern in einer Zelle eingesperrt. Der BAMF-Sachbearbeiter stellte im Interview immer wieder Jamilas Sexualität infrage, fragte sie, ob sie nicht in Wirklichkeit eine lesbische cis Frau sei. Nach dem BAMF-Interview bekam sie erst einen negativen Asylbescheid. Sie sollte nach Äthiopien abgeschoben werden (Opens in a new window), obwohl sie sofort wieder in einem Männergefängnis landen würde, wo sich die äußerst traumatischen Gewalterfahrungen wiederholen würden. Nach Protesten und Zeitungsartikeln lud das BAMF Jamila erneut zu einem Interview vor. Kürzlich erhielt sie einen positiven Asylbescheid.
Schaue dir Julianas Interview mit Jamila an
https://www.youtube.com/watch?v=jC8XUSrG_8E (Opens in a new window)Jamilas Geschichte ist keine Ausnahme. Deutschland bietet geflüchteten trans Frauen selten die ersehnte Akzeptanz und den Schutz vor öffentlicher Anfeindung und Ächtung. Das musste auch Ella (Opens in a new window) aus dem Iran erfahren, die 2016 nach Deutschland kam, weil sie im Iran keine Möglichkeit hatte, als trans Frau zu leben. Am 14. September 2021 verbrannte Ella sich (Opens in a new window) auf dem Alexanderplatz in Berlin. Deutschland habe sie als Paradies gesehen, erzählt ihre Freundin Georgina (Opens in a new window) aus Magdeburg. Sie hatte Ella als eine offene Frau mit sonnigem Wesen kennengelernt. Doch tägliche Diskriminierung in der Geflüchtetenunterkunft, auf der Straße, im Jobcenter, wo ein Mitarbeiter sie mit „Du bist ein Mann!“ angeschrien habe, ein dreijähriger Kampf gegen einen negativen Asylbescheid, erschütterten ihre Hoffnung. Anfang 2020 wurde Ellas Asylantrag bewilligt, sie zog von Magdeburg nach Berlin, was die Erfüllung eines Traums gewesen sei. Doch auch wenn es immer wieder Lichtblicke gab, Menschen, die ihr beistanden und die Straßen mit queeren Cafés und Kultur, spricht Georgina von einer Veränderung in Ellas Verhalten: „Sie hat irgendwann allen misstraut, da hat etwas die ganze Zeit gelodert in ihr bei diesen täglichen Angriffen in irgendeiner Form.“ Traumatherapie habe sie gebraucht und ein sicheres Haus mit Wohngemeinschaften. „Da kann dir draußen immer noch was passieren, aber du brauchst einen Rückzugsraum, wo dir nicht noch deine Nachbarn auf die Pelle rücken.“
Der Kampf um Anerkennung, Sicherheit, gesundheitliche und materielle Grundbedürfnisse von Denisa, Jamila, Ella und vielen anderen geflüchteten trans Frauen, deren Geschichten es nie ans Licht der Öffentlichkeit schaffen, setzt sich nach ihrer Flucht nach Deutschland fort. Proteste und jahrelanges Anfechten von Asylbescheiden werden zu notwendigen Schritten, da sich der deutsche Staat weigert, die Schutzbedürftigkeit und klare Bedrohungslage von trans Menschen in ihren Herkunftsländern anzuerkennen. Auch wenn die neuen Regierungsparteien im Koalitionvertrag (Opens in a new window) ankündigen, für queere Verfolgte Asylverfahren zu überprüfen, ist kaum abzusehen, ob sich daraus reale Veränderungen ergeben werden. Denn „Verfolgte“ wird so ausgelegt, dass ein klares Verbot ihrer Existenz in Gesetzestexten des jeweiligen Landes vorliegen muss. Wenn Nichtanerkennung deiner Lebensrealität und alle Konsequenzen davon genau das ist, wovor du fliehst, führt sich so eine Herangehensweise selbst ad absurdum. Es wird scharfe öffentliche Aufmerksamkeit auf die Aktivitäten des BAMF und auf die Situation von trans Geflüchteten brauchen, und Bereitschaft zu ihrem Schutz vor dem Staat, um zu verhindern, dass die Lebensgeschichten dieser Menschen enden wie die von Ella. Über Ellas Geschichte wurde viel berichtet, eben weil sie tragisch endete. Aber wir sollten nicht erst dann anfangen, hinzusehen, wenn es zu spät ist.
Juliana Franke spricht auf ihrem Youtube-Kanal „Unruly Juli (Opens in a new window)“ über Transfeindlichkeit in Gesellschaft, Politik und Medien und analysiert in Streams und Videoessays konservative Strategien der Diskursverschiebung. Zudem bietet sie Vorträge zu denselben Themen an. Sie wohnt in Berlin und arbeitet als Stimmtherapeutin mit Spezialisierung auf trans Stimmtherapie. Kontakt: julianaskugga@gmx.de. Wer Julianas YouTube-Kanal finanziell unterstützen möchte, kann dies über Patreon (Opens in a new window) machen.
Pflegeprotokolle – Frédéric Valin
„Keine zehn Pferde kriegen mich wieder in die Pflege. Ich hab immer erwartet, dass sich irgendwas ändert. (…) Und es ändert sich nichts.“ - Andrea
Autor und Journalist Frédéric Valin, der selbst Pflegekraft ist, veröffentlichte vergangenes Jahr das Buch „Pflegeprotokolle“. Dafür sprach er mit vielen Menschen, die in einem Pflegeberuf aktiv sind oder waren.
240 Seiten, 18 Euro. Erhältlich bei Verbrecher Verlag (Opens in a new window).
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Notes on Grief – Chimamanda Ngozi Adichie
Während der Pandemie verlieren viele ihre Liebsten. Auch ich musste einen unerträglichen Verlust erleiden, mein Cousin kam im Dezember ums Leben. Tausende Kilometer zwischen uns, ich musste meinen Abschied von hier aus nehmen. Er liegt in dem Stadtteil, wo er in Istanbul aufgewachsen ist. Und ich lebe mit der Reue, ihm nie gesagt zu haben, dass ich ihn liebhabe.
Auch die Autorin Chimamanda Ngozi Adichie musste einen Verlust erleiden, ihr Vater starb. In ihrem Büchlein „Notes on Grief“ denkt sie über Leben und Tod, Trauer und Glück, Familie und Community, Sprachlosigkeit, Sehnsucht und Reue nach. Es hat mir bei meiner Trauer geholfen.
Die Autorin Chimamanda Ngozi Adichie tätigte in vergangenen Jahren mehrfach transmisogyne Aussagen. Von diesen distanziere ich mich ausdrücklich.
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Wir waren wie Brüder – Daniel Schulz
Journalist und Autor Daniel Schulz liefert in seinem ersten Roman eine Gesellschaftsanalyse über Ostdeutschland und die Situation nach der Wende während der sogenannten Baseballschlägerjahre. Wir betrachten die Welt durch die Brille des jungen Protagonisten und seine alltäglichen Erfahrungen mit Gleichaltrigen und Erwachsenen.
Erscheint am 24. Januar. 286 Seiten, 23 Euro. Vorbestellbar bei Hanser (Opens in a new window).
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Netflix-Serie „Kulüp“ aus der Türkei
Über jüdische Menschen in der Türkei gab es bisher in der Kultur nur antisemitische Darstellungen. In diesen ging es allerdings nie um institutionalisierten oder alltäglichen Antisemitismus. Die Serie „Kulüp“ ist insofern eine kleine Revolution. Es geht um die Stimmung der 50er Jahre der Türkei. Rassismus und Antisemitismus wird in ihrer nackten Härte sichtbar wie bisher so gut wie nie.
Random-Zitat:
„All right, y’all. Mother Earth is climate changing. Let’s go change, too.” – Scarlet Envy, RuPauls Drag Race All Stars Staffel 6
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