Heute möchte ich dir eine Geschichte, die dem Valentinstag wert ist, erzählen.
Ich weinte schluchzend und schreiend, und ich meine es ernst, ich übertreibe es nicht, es ist die Wahrheit. Ich konnte danach nur schlecht schlafen, es war das Letzte in meinem Sinn vorm Einpennen, das erste in meinem Sinn nach dem Aufwachen. Und eine Weile konnte ich keine anderen mehr... lesen.
Zum ersten Mal im Leben habe auch ich ein Lieblingsbuch: „Dschinns“ von Fatma Aydemir. Ich habe „Dschinns“ vor ungefähr einem Monat gelesen, aber wollte unbedingt warten, bevor ich öffentlich darüber spreche. Zum einen weil es für mich neu ist, dass ein Buch mich derart berührt. Ich wusste also zuerst einmal nicht, wie darüber zu sprechen ist, musste mich sortieren. Zum anderen wollte ich auf die Veröffentlichung warten, damit jene, die es gleich lesen wollen, es auch können.
„Dschinns“ ist ein Roman so schön, so stechend, so befriedigend, so explosiv, so schmerzhaft, so genial... Hüseyin, ein Arbeiter und Vater, stirbt plötzlich kurz vor dem Frührenteneintritt. Das Buch handelt von dem Nachspiel seines Todes. Mit jeder Perspektive der Familienmitglieder werden nach und nach die Puzzleteile der Familiengeschichte geliefert. Es ist eine Familie, die in mehreren Zwischenwelten existiert, allerdings jedes Mitglied auf eigene Weise. Der Vater zieht 1971 aus einem kurdischen Dorf der Türkei nach Deutschland, als sogenannter Gastarbeiter, und holt seine Frau und Tochter nacheinander zu sich. In Deutschland wächst die Familie weiter. Alle sechs Familienmitglieder erleben die Migration unterschiedlich, dies lässt tiefe Risse zwischen ihnen entstehen, über die zu sprechen schwer zu sein scheint.
Das Buch besteht aus sechs Kapiteln, vier davon aus der Perspektive der Kinder. Die des Vaters Hüseyin und der Mutter Emine werden durch einen Dritterzähler in der zweiten Person vermittelt – durch jemanden, der mit ihnen spricht. Deutschlandfunk findet es „irritierend“, und das ist eine Bestätigung von Aydemirs Arbeit: Ich nahm diesen Erzähler gleich als einen Dschinn wahr, und das muss ja auch irritieren und sogar Furcht erregen.
Eine der wichtigsten Eigenschaften dieses Romans ist, dass jeder Charakter tatsächlich eine andere, vollständige, lebendige und glaubhafte Person ist. Nie hat man das Gefühl, dass man die Stimme der Autorin höre: Alle Charaktere sprechen, denken und handeln anders, sie sind nah, greifbar und nachvollziehbar.
„Dschinns“ ist aber auch unterhaltsam, hat einen einzigartigen Humor, was sich zum Beispiel in einem Gespräch über Geschlechterrollen zwischen Tochter Peri und Mutter Emine zeigt. Und dessen Ehrlichkeit, die sich beispielsweise in Form von Ümits Scham vor einer Alditüte, das Symbol der Armut, zeigt, ist schmerzhaft und befreiend zugleich. „Dschinns“ stellt zudem Fragen, die bisher in der deutschsprachigen Literatur selten gestellt werden konnten, so wie: „Als ob es nicht reichen würde, Kanake in Deutschland zu sein. Muss man jetzt auch noch Kanake in der Türkei werden?“
„Dschinns“ erzählt endlich von Schmerzen, die viele in diesem Land nur zu gut kennen. Viele, die in Parallelwelten existieren, unsichtbar wie Geister, wie Dschinns.
Fatma Aydemir. Dschinns. München: Carl Hanser Verlag 2022. 367 S., 24€ (Opens in a new window)
Leute, Fatma Aydemir ist diesmal sogar bei dem Mini-Interview „Drei Fragen“ dabei! Wooooohoo! Fatma Aydemir ist 1986 in Karlsruhe geboren. Ihr erster Roman „Ellbogen“ (Hanser) erhielt den Klaus-Michael-Kühne- und den Franz-Hessel-Preis. 2019 gab Aydemir gemeinsam mit Hengameh Yaghoobifarah den Sammelband „Eure Heimat ist unser Albtraum“ (Ullstein) heraus. Aktuell arbeitet sie als Redakteurin und Kolumnistin der taz.
Es ist Black History Month. Ist zwar reiner Zufall, dass diese Kolumne gerade jetzt erscheint, dennoch ein schöner: Ruth Hunstock aus Kassel setzt sich u.a. für ein Ende des Rassismus im Stadtbild ein. Sie gründete die Initiative „Side by Side – Afrodeutsche und Schwarze Menschen Nordhessen“ und erwirkte im Februar 2021 (Opens in a new window), dass Kassel als vierte deutsche Stadt das N- und M-Wort ächtete. Danke für deine Arbeit, liebe Ruth!
Ich freue mich, dass Ruth eine Kolumne über die Verbindung zwischen rassistischer Sprache und Kolonialismus geschrieben hat. Bei Interventionen an diskriminierender Sprache wird oft die hohle Kritik geäußert, es sei linksliberale Symbolpolitik. Jetzt stellen wir uns eine Gesellschaft vor, in der es Tabu ist, Menschen rassistisch, sexistisch und anderweitig diskriminierend zu beleidigen und zu entmenschlichen. Eine Gesellschaft, die Menschen, die bisher marginalisiert wurden, denselben Wert beimisst wie allen anderen. Und umgekehrt stellen wir uns eine Gesellschaft vor, in der Menschen zu anderen gemacht und gewaltvoll beleidigt werden können und dürfen. In welcher Gesellschaft sind Menschen gleichgestellt? In welcher wollen wir leben?
Wenn uns Gewalt und Diskriminierung nicht egal sind, dann kann es auch keinen Raum geben, in dem ein bisschen Gewalt hier und ein wenig Diskriminierung da toleriert wird. Gleichgestellt ist, wer nicht diskriminiert werden kann. Alles andere wäre bloß Süßwasseraktivismus.
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Kritik und Anmerkungen gern an: contact@sibelschick.net
Danke und liebe Grüße
Sibel Schick
Hast du ein Kleidungsstück, das für dich eine besondere Bedeutung hat?
Fatma Aydemir: Es gibt ein Minikleid, das ich vor sieben Jahren in einem Vintageladen in Rom gekauft habe. Es ist aus Wolle gestrickt, hat lange weite Ärmel und ist weiß-orange gestreift. Ich habe es an einem verregneten Tag entdeckt, an dem ich mich sehr alleingelassen und traurig gefühlt habe. Seine leuchtende Farbe und sein flotter Schnitt haben mir sofort gute Laune gemacht. Es stammt aus den 60ern und wurde nie getragen, der Händler hat es in einem alten Depot gefunden. Mir passte es wie angegossen und es war auch noch recht günstig. Das Kleid erinnert mich daran, dass Alleinsein nichts Schlimmes sein muss.
Hast du einen Lieblingsgeruch? Wenn ja, welchen und warum?
Fatma Aydemir: Ich liebe den Geruch von Bakkal - diese winzig kleinen, vollgestopften Lebensmittelgeschäfte, die es in der Türkei früher an jeder Straßenecke gab. Es gibt sie zwar noch, aber immer seltener. Sie riechen irgendwie staubig und alt wie eine Abstellkammer, und gleichzeitig so süß wie die Kaugummis, die in tausend Varianten an der Kasse liegen, und nach warmem Brot. Der Geruch erinnert mich an die Sommer meiner Kindheit, an meinen ersten Liebeskummer und die Naivität, mit der ich damals auf die Welt geblickt habe.
Was war dein Traumberuf als Kind? (Büyüyünce ne olmak istiyordun?)
Fatma Aydemir: Ich wollte alles werden: Popstar, Lehrerin, Tierärztin, Modedesignerin, Hausfrau, sogar Autorin für eine Weile, aber das habe ich schnell verworfen, weil meine Deutschlehrerin meinte, dafür müsse man begabt sein, das könne man nicht einfach lernen. (Was obviously bullshit ist, ich glaube nicht an „natürliche Begabungen“.)
Sprache und koloniale Kontinuität
Von Ruth Hunstock
Seit ich vier Jahre alt bin, lebe ich in Deutschland. Seither werde ich mit dem N-Wort betitelt, und begegne dem M-Wort in Straßennamen, Apothekennamen, Hotelnamen und vielen weiteren Firmen- und Produktbezeichnungen. Unabhängig von den Entstehungsgeschichten dieser beiden Fremdbezeichnungen stehen beide Begriffe in der Tradition der Abwertung und Entmenschlichung Schwarzer Menschen. Eine Konfrontation mit einem dieser Begriffe ist für viele Schwarze Menschen in jedem Kontext verletzend und herabwürdigend.
Trotzdem wehren bis zum heutigen Tage große Teile der weißen Mehrheitsgesellschaft jegliche berechtigte Kritik an der unkritischen Weiterverwendung beider Begriffe ab. Einige verteidigen diese Begriffe sogar in regelrecht kämpferischer Weise und sprechen von „Cancel Culture“, ohne wirklich zu verstehen welche Kultur und Tradition sie damit fortschreiben und verteidigen. Abweichende Einzelmeinungen Schwarzer Menschen werden als gültige Mehrheitsmeinung hochstilisiert und als Totschlagargument gegen die wirkliche Mehrheit der Betroffenen eingesetzt.
Woran liegt das? An Information und Aufklärung mangelt es nicht. Es hat wohl eher mit Machtverlust der Deutungshoheit des Sagbaren, gepaart mit Gleichgültigkeit und Ignoranz, zu tun. Noch immer beansprucht die weiße Dominanzgesellschaft die Beurteilungskompetenz des Sagbaren und Unsagbaren allein für sich, denn Weißsein ist bis heute die kolonial gesetzte Norm.
Und die Politik? Von den Parteien und ihren Politiker*innen ist nicht viel zu erwarten, wenn es um gesellschaftliche Veränderungen geht. Zu stark sind diese in ihrem Wahlkampfmodus und innerparteilichen Flügelkämpfen gefangen. Machtkämpfe innerhalb der gebildeten Koalitionen, immer auf der Suche nach dem kleinstmöglichen gemeinsamen Nenner, verhindern wichtige und dringend notwendige Entscheidungen. Die Ereignisse rund um die Künstlerin Ènissa Amani zeigen exemplarisch wie notwendig ein Umdenken auf politischer Ebene ist.
Aber ein Verbot von N- und M-Wort lässt wohl noch lange auf sich warten. Somit ist es umso wichtiger, dass wir Aktivist*innen Veränderungen aus der Zivilgesellschaft anstoßen. In Kassel ist uns das im Falle des N- und M-Wortes bereits gelungen, dies war für mich persönlich ein wichtiger Schritt. Nur so konnte ich meinem Sohn und mir ein wirksames Abwehrinstrument gegen verbale rassistische Übergriffe schaffen. Täter*innen-Opfer-Umkehr oder die Verharmlosung und Legalisierung dieser Begriffe unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit sind in unserer Stadt nicht mehr möglich.
Verschiedene Aktivist*innen kämpfen auch in anderen Orten, aber um wirklich auf Bundesebene eine spürbare Veränderung zu bewirken müssen noch viele folgen.
Ruth Hunstock ist eine 43-jährige Afrodeutsche und wohnt in Kassel. Sie hat erreicht, dass in ihrer Stadt die zwei für Schwarze Menschen gewaltvollsten Fremdbezeichnungen offiziell geächtet wurden. Unter @sidebysidenordhessen (Opens in a new window) findet ihr mehr Informationen dazu.
Video von der Podiumsdiskussion „2 Jahre Hanau – Entwicklungen und Konsequenzen seit dem rassistischen Terroranschlag“ mit Serpil Temiz Unvar (Bildungsinitiative Ferhat Unvar) und Çetin Gültekin (Initiative 19. Februar Hanau). Auf der Website des Amtes für multikulturelle Angelegenheiten Frankfurt am Main. (Link (Opens in a new window))
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Artikel. Bei den Brit Awards wurden die Kategorien „Mann“ und „Frau“ abgeschafft. Eine der Argumente der transfeindlichen „Gender Critical“-Bewegung lautet, dass diese Kategorien für weitere Geschlechter zu öffnen eine Diskriminierung von cis Frauen darstelle (es gibt keine Daten, die diese Behauptung unterstützen). Dieses Jahr am 8. Februar gewann Adele den Brit Award „Artist of the Year“ und sagte in ihrer Dankesrede, dass sie es liebe, eine Frau zu sein. Die sogenannten Gender Criticals nahmen das als Anlass, um daraus Hetzkampagne gegen trans Personen zu machen. Adele soll daraufhin auf einer Party gesagt haben, wer sich als Frau identifiziere, sei auch eine Frau. In yer face, TERFs. (Link (Opens in a new window))
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Serien. Ich war diesen Monat fast zwei Wochen krank und streamte in dieser Zeit viel. Empfehlen kann ich „The Silent Sea“, „Getting Curious with Jonathan Van Ness“, vor allem die 3. Folge mit dem Titel „Können wir die Binarität überwinden?“ und außerdem ist die neue Staffel von „Brooklyn Nine-Nine“ ist endlich da!! (Netflix)
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