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Heute morgen haben wir in Venedig mal wieder gegen eine weitere kalte Enteignung protestiert. Dagegen, dass die Stadt Venedig Teile des Arsenale (Opens in a new window) verschenkt, an die Biennale und an das italienische Militär.

Jahrzehntelang haben die Venezianer dafür gekämpft, das Arsenale aus Staatsbesitz  wieder in den Besitz der Stadt zurückzuführen. 2012 war das erreicht worden - allerdings ist in den zehn Jahren, in dem die Stadt Venedig wieder Herr über die ihr zustehenden Bereiche des Arsenale verfügt, nichts passiert: kein Plan, kein Projekt - außer dem zwei Wochen dauernden „Salone Nautico“, der Motorbootschau, an der Bürgermeister Brugnaro großes Interesse hat.

Jetzt hat Brugnaro beschlossen, den Teil, der Venedig gehört, der Biennale und dem Militär (denen ohnehin bereits ein großer Teil des Arsenale gehört) kostenlos (!) zur Verfügung zu stellen. Die Absicht dahinter: den größten Teil des Arsenale als „Location“ für was auch immer nutzbar zu machen, ohne dafür die Verantwortung übernehmen zu müssen. Praktisch eine weitere kalte Enteignung öffentlichen Raums.

Das Arsenal war mehr als eine Schiffswerft, es war das kriegerische Herz der Stadt – und ja, Venedigs ganzer Stolz. Es erstreckt sich auf ein Siebtel der Stadt - das die Venezianer bis heute nicht betreten dürfen - außer als Besucher der Biennale.

Am Eingang des Arsenale ist dieser in Stein gefräste Vers aus Dantes Inferno zu lesen: Gleich wie man in Venedigs Arsenal/ Das Pech im Winter sieht aufsiedend wogen/Womit das lecke Schiff, das manches Mal/Bereits bei Sturmgetos das Meer durchzogen/Kalfatert wird – da stopft nun der in Eil’/Mit Werg die Löcher aus am Seitenbogen.

Nein, die letzten Venezianer werden sich nicht kampflos ergeben, selbst wenn der Sturm tobt und das Schiff leckt.

Wer sich den Erhalt des Arsenale unterstützen möchte, kann das über das Forum Futuro Arsenale (Opens in a new window) tun. 

Als wir am Ufer vor dem Campo della Tana standen und darauf warteten, dass es losging, sagte mir ein Freund: "Schau mal Petra, da oben hat meine Großmutter gewohnt. Manchmal habe ich bei ihr übernachtet. Und wenn ich aus dem Fenster sah, konnte ich beobachten, wie tausende Arbeiter aus dem Arsenale nach der Arbeit nach Hause gingen."

Bis in die 1960er Jahre wurde im Arsenale gearbeitet. Schon beeindruckend, wie es Venedigs Stadtväter (auch so ein schrecklich patriarchalischer Ausdruck) hinkriegen, auch die letzten Spuren der Vergangenheit zu tilgen. 

Ja. der Markt. Der Markt. Der Markt.

Was sonst noch war? Vor allem das Schlagerfestival von Sanremo. (Opens in a new window)Für mich auch nach einem halben Leben in Italien so rätselhaft wie schwarze Löcher im Weltall. 

Beim Schlagerfestival wird nicht nur gesungen, sondern auch gepredigt - und natürlich auch Politik gemacht. In diesem Jahr gab es Streit darüber, ob es eine gute Idee ist, wenn Roberto Saviano, zwischen zwei Liedern auf die Mafia-Attentate von 1992 hinweist. Und überdies demnächst beim gleichen Sender eine Sendereihe über seine Sicht der Mafia führt. (Kleiner PR-Coup).

In diesem Jahr jähren sich die Attentate von Falcone+Borsellino zum dreißigsten Mal, und uns steht eine ganze Lawine von Gedenkveranstaltungen bevor. 

Um es gleich zu sagen: Ich finde es ok, wenn Saviano beim Schlagerfestival an die Attentate erinnert - obwohl es vielleicht erwähnenswert gewesen wäre, dass die Morde an Giovanni Falcone und Paolo Borsellino, wie in Dutzenden von Prozessen bewiesen, keineswegs nur das Werk der Mafia waren, ganz im Gegenteil.

Saviano erwähnte auch Rita Atria, über die ich 1993 mein erstes Buch geschrieben habe (Opens in a new window). Und da wäre es auch erwähnenswert gewesen, dass Ritas Schwägerin, Piera Aiello, eine Parlamentarierin ist, die sich sehr dafür einsetzt, uns darüber zu informieren, was es bedeutet, wenn die lebenslange Haftstrafe für Mafiosi abgeschafft wird - falls das Parlament nicht bis Mai dieses Jahres ein  neues Gesetz vorschlägt.

Dies sind die Dinge, die uns hier in Italien interessieren sollten. Oder wie Salvatore Borsellino sagte: » Die derzeitige Regierung, die den schlechten Geschmack besaß, das Bildnis von Paolo Borsellino und Giovanni Falcone auf die 2-Euro-Münze zu setzen, ist dabei, das gesamte von Paolo Borsellino und Giovanni Falcone zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens geschaffene Gesetzgebungssystem systematisch zu demontieren: die lebenslange Freiheitsstrafe, die 41bis-Regelung über die Hochsicherheitshaft, die Gesetze über die Zusammenarbeit mit den Kronzeugen.«

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte - der im Übrigen schon einige weitere haarsträubende Urteile zugunsten von Mafiosi gefällt hat -  kam nach der Klage eines Mafiosos zu dem Urteil, dass die in Italien für Mafiosi vorgesehene lebenslange Haft ohne Möglichkeit auf vorzeitige Entlassung als Verletzung der Carta für Menschenrechte anzusehen sei. In Italien kann ein Mafioso nur dann eine vorzeitige Entlassung beantragen, falls er mit der Justiz zusammenarbeitet: also sich nicht nur "lossagt" von der Mafia, sondern ganz konkrete, nachprüfbare Aussagen macht. 

In den italienischen Medien wurde darüber nur am Rande berichtet. Selbst die Nachricht, dass das italienische Verfassungsgericht daraufhin im Jahr 2020 die lebenslange Haft für Mafiosi als verfassungswidrig erklärte – falls es das italienische Parlament bis Mai 2022 nicht schaffen sollte, den Artikel 4 des italienischen Strafvollzugsrechts zu reformieren – sorgte nur unter Mafiaopfern und Antimafia-Staatsanwälten für einen  Aufschrei. Und in dem Zusammenhang ist es vielleicht nicht ganz uninteressant zu erwähnen, dass die jetzige Justizministerin Marta Cartabia die ehemalige Präsidentin des italienischen Verfassungsgerichts ist.

So sieht die Wirklichkeit jenseits der Gedenktage aus. Und deshalb empfehle ich denjenigen, die des Italienischen mächtig sind, diesen Film über die geplante Abschaffung der lebenslangen Haft zu sehen (Opens in a new window) - der im November 2021 gesendet wurde, um 23.40 Uhr, damit dieser nicht eventuell die öffentliche Meinung beeinflussen könnte.

Je weniger das Volk weiß, desto besser lässt es sich manipulieren. Das gilt für Italien und auch für Deutschland.

In diesem Sinne grüßt Sie aus Venedig, leicht verfroren (seitdem ich als Kind im Ruhrgebiet Schlitten fuhr, hatte ich nie wieder so kalte Füße wie heute morgen)

Ihre Petra Reski 

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