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Der Weltmeister des Hausverstandes

George Orwell, ein Leben gegen die Lüge: Klares Denken, gute Sprache, einfache Ideale. Teil 2. 

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Das ist Teil 2 eines literarisch-biografischen Großessays über George Orwell, Teil 1 finden sie hier (Abre numa nova janela)

Unmittelbar nach der Fertigstellung von „Der Weg nach Wighan Pier“ geht Orwell nach Spanien. Dabei wollte er ursprünglich wohl nicht kämpfen, sondern als Berichterstatter dabei sein, wobei er möglicherweise als Option am Radar hatte, selbst in eine Miliz einzutreten. Orwell hatte Kontakte zur kleinen, linkssozialistischen „Independent Labour Party“ und damit auch zu deren Publikationen, aber keine besonders detailliert ausgeprägten Meinungen. Auch ein Eintritt in die Internationalen Brigaden, die faktisch von Moskau abhängig waren, war für ihn nicht denkunmöglich. Orwell war vielleicht nicht naiv, aber er war in den innerlinken Debatten nicht sonderlich bewandert und auch der stalinistische Terror, der sich in der Sowjetunion (und über diese hinaus), entfaltete, hatte ihn noch nicht sonderlich beschäftigt. „Im spanischen Bürgerkrieg … wurde er nicht nur der Autor George Orwell, sondern auch der vollständig ergebene Sozialist. In vielerlei Hinsicht wurden die sechs Monate in Spanien und seine Kriegserlebnisse die entscheidendste Erfahrung seines Lebens“ (Peter Stansky). 

Die junge, linke republikanische Regierung Spaniens wurde durch den Militärputsch von General Francisco Franco bedroht, einem faschistischen Caudillo, der von Nordafrika mit seinen Truppen auf das spanische Festland übersetzte, um ein Regime im Stile Mussolinis und Hitlers zu errichten. Die republikanische Regierung verfügte über wenige professionelle Strukturen, dementsprechend schlecht lief die Gegenwehr an. Der Widerstand gegen die faschistische Soldateska nahm eher die Formen einer Volksbewegung an, ein Volkswiderstand, der chaotisch, zugleich aber voller revolutionärer Dynamik war. Anarchistische und anarchosyndikalistische Bewegungen hatten starke Milizen, vor allem in Katalonien, auch antistalinistische kommunistischen Gruppen wie die POUM waren regional bedeutend, mit dem legendären Buenventura Durruti und dem kaum minder strahlenden Andres Nin hatten Anarchisten und Antistalinisten charismatische Anführer. Unglücklicherweise für die Republik haben Großbritannien, Frankreich und die Vereinigten Staaten eine Nichteinmischungs-Strategie gewählt. Während die Nazis die Faschisten unterstützten, erhielten die Demokraten wenig Hilfe, auch, weil viele westliche Linke eine pazifistische Haltung einnahmen, wie etwa die britische Labour Party. Die einzigen, die der demokratischen Republik mit Waffen halfen, waren die Sowjets, die dementsprechend ihren Einfluss ausbauten. Die Agenten des Moskauer NKWD, die Militärberater und die Anführer der moskautreuen Brigaden gingen nicht nur gegen die Faschisten vor, sondern auch gegen linke Rivalen. Es ist diese Konstellation, in die Orwell hineingeriet, und die er in seinem fantastischen Buch „Homage to Catalonia“ („Mein Katalonien“) beschreibt. Orwell tritt in die POUM ein, er ist fasziniert von der sozialen Revolution, die sich in den frühen Kriegsmonaten in Barcelona entfaltete, dem egalitären Geist, der völligen Gleichheit, die die Hierarchien zwischen einfachen Leuten und der reichen Oberschicht einebnete, er ist beeindruckt vom Stolz und Selbstbewusstsein der niedrigen Klassen – und später erschüttert, wie schnell sich diese Atmosphäre wieder änderte. Militärisch ist er an der eher ruhigen Aragon-Front im Einsatz, es gibt einzelne heftige Gefechte, Tote und Schwerverletzte, die im Schlamm liegen, Orwells Einheit, die in Querfeuer gerät, aber meist liegen sich Linke und Faschisten in den Schützengräben gegenüber, ohne dass allzu viel geschieht, außer, dass gelegentlich hin und her geschossen wurde. Bei seiner Rückkehr nach Barcelona wird Orwell in die Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten, Anarchisten und Trotzkisten verwickelt, die eine Form des inneren Vernichtungskrieges der Stalinisten gegen alle möglichen Konkurrenten annahmen. Orwell muss sich verstecken, seine Identität verdunkeln, seine Unterlagen schützen, alles Mögliche zu seiner Sicherheit tun, um nicht in die Mühlen der stalinistischen Vernichtungsmaschinerie und des NKWD zu geraten. Bei einer Hausdurchsuchung durch die stalinistische Geheimpolizei werden seine Notizen beschlagnahmt, Orwells Tagebücher aus jener Zeit sind bis heute verschollen. „Mein Katalonien“ ist große politische Literatur, auch, weil es so etwas wie Geschichtsschreibung der Gegenwart war, also unmittelbar nach der Rückkehr, die Eindrücke noch frisch, aufgeschrieben wurde, während sich die Geschehnisse noch entfalteten. Aber nicht nur das macht dieses Buch zu einem intellektuellen Abenteuer.

Der Geist des Humanismus

Was „Homage to Catalonia“ auszeichnet, ist die Wahrhaftigkeit und die Einsicht in politische Wirrnisse einer chaotischen Revolution, vor allem aber auch der humanistische Geist des Buches. Der „Bericht aus dem Spanischen Bürgerkrieg“ beginnt schon mit der Schilderung einer Begegnung, mit einem flüchtigen Aufeinandertreffen mit einem jungen Milizionär, wahrscheinlich einem Kommunisten aus Italien mit offenem, herzlichem Blick. „Ich weiß kaum, warum, aber ich habe selten jemanden gesehen – ich meine einen Mann –, für den ich eine solch unmittelbare Zuneigung empfand… Seltsam, welche Zuneigung man für einen Fremden fühlen kann! Es war so, als ob es seiner und meiner Seele für einen Augenblick gelungen sei, den Abgrund der Sprache und Tradition zu überbrücken und sich in völliger Vertrautheit zu treffen.“ Als hätte der Adel der Menschheit aus dem freundlichen Gesicht des Milizionärs geleuchtet. Aber auch die „Feinde“ sind oft nichts weiter als arme Schlucker. Orwell erzählt von einer Szene, als er auf einen Faschisten zielt, der panisch davon läuft und seine Hosen hochzieht, die ihm in den Kniekehlen hängen. Es gelingt ihm nicht, abzudrücken. Später wird er über diese Episode bemerken: „Ich habe auch wegen dieses Details mit den Hosen nicht geschossen. Ich war gekommen, um auf ‚Faschisten‘ zu schießen. Aber ein Mann, der mit Mühe seine Hosen hochzieht, ist kein ‚Faschist‘, er ist doch ganz offensichtlich und vor allem eine verwandte Kreatur, ähnlich uns selbst, und man hat keine Lust auf ihn zu schießen.“ Es ist diese Empathie, die sich durch viele von Orwells Reportagen, Romane und Essays zieht.

Orwells Erfahrungen, aber auch die recht abrupten Wendungen, die in diesen Jahren sein Denken prägten, sind faszinierend, und manches davon können wir wie Kommentare zu unseren heutigen Problemen lesen. 

Die Macht der Lüge

In Spanien machte er die Erfahrung, dass die totalitäre politische Propaganda die absurdesten Lügen in die Welt setzen kann, und diese sich in eine Art Wahrheit verwandeln, wenn sie nur oft genug verbreitet werden. Die stalintreuen Kommunisten erfanden die bizarrsten Geschichten, denunzierten undogmatische Linke als Agenten der Faschisten, Geschehnisse, die niemals vorgefallen waren, wurden erfunden und er musste mit Erstaunen feststellen, dass sie in der britischen linken Presse wie Tatsachen behandelt und von KP-treuen Intellektuellen verbreitet wurden. Wenn man der Lüge nicht entgegen tritt, verwandelt sie sich in Wahrheit, so Orwells Schluss, und mit der Lüge lässt sich das Denken steuern. Diese Erfahrung ist später Thema von „1984“, Orwells großer Dystopie. „Schon früh in meinem Leben“, schrieb Orwell im Rückblick, „war mir klar geworden, dass kein Geschehnis jemals völlig korrekt in Zeitungen wiedergegeben wird, doch in Spanien habe ich erstmals die Begegnung mit Zeitungsartikel gemacht, die nicht einmal eine lose Verbindung zu den Fakten haben, und sei es nur jene Bezugnahme auf die Realität, die üblicherweise sogar gewöhnliche Lügen haben… Und dann sah ich Zeitungen in London, die diese Lügen wiedergaben, und eifernde Intellektuelle, die heftige Emotionen gegenüber Geschehnissen zum Ausdruck brachten, welche niemals stattgefunden hatten.“

In Spanien erkannte Orwell, dass der linke Pazifismus, der einer bedrohten Demokratie Waffenlieferungen aus naivem Antimilitarismus versagt, den Feinden der Freiheit direkt in die Hände spielt. Doch kurz nach der spanischen Erfahrung machte Orwell eine 180-Grad-Wendung und wurde zu einem „unerwarteten Pazifisten“ (Stansky). Aus dem Krieg hat er nämlich auch den durchaus diskussionswürdigen Schluss gezogen, dass man unter dem Banner der bloßen „Demokratie“ den Faschismus nicht bezwingen kann. Nur eine sozialistische Revolution, die dem Faschismus nicht nur defensiv entgegentritt, sondern die Hoffnungen auf eine Gesellschaft der Freien und Gleichen mobilisiert, könne die Reaktion bezwingen, meinte Orwell. Er hatte seine radikalste linke Phase. Einen Krieg gegen Hitlerdeutschland lehnte Orwell dementsprechend ab, da ein Sieg gegen die Nazis nur möglich sei, wenn man die sozialistische Revolution propagiere. Orwell unterzeichnete ein Manifest in dem es hieß, „wenn der Krieg kommt, dann ist es unsere Pflicht, zu widerstehen, und eine Opposition aufzubauen, die das Ende des Krieges beschleunigt“. Sogar angesichts der Aussicht eines Nazi-Überfalls unterstützte Orwell kurzzeitig die alten Phrasen aus dem Ersten Weltkrieg, wonach für Sozialisten der Hauptfeind immer im eigenen Land stünde – was angesichts eines imperialen, genozidalen Vernichtungsregimes zweifelsohne eine äußerst fragwürdige Ansicht ist. 

1937 war Orwell also für den Krieg der Republikaner gegen die Faschisten, 1938 dann, diametral dem entgegentretend, ein Pazifist, nur um ab 1939 wieder eine völlige Kehre hinzulegen. Im August 1939 revidierte er seine Position vollständig, im September 1939 trat Großbritannien in den Krieg ein und Orwell wurde ein „revolutionärer Patriot“. Die englische Arbeiterklasse, getragen von ihren Tugenden und ihrem Anstand, würde gegen die Nazis kämpfen, das eigene Land verteidigen, aber im Zuge dieser gemeinschaftlichen Kraftanstrengung würden Gleichheit und Sozialismus auch in England zur Überwindung des Kapitalismus führen, meinte Orwell. Diese Voraussage wiederum war nicht völlig korrekt, aber letztendlich auch nicht vollkommen falsch, denn der Triumpf der Labour Party, der Aufbau des britischen Wohlfahrtsstaates, großangelegte Nationalisierungen nach Kriegsende waren zweifelsohne Ergebnisse sozialer Verwandlungsprozesse, die der Krieg nach sich zog. Im Krieg wurde Orwell Patriot, spürte er den tiefen Patriotismus, wie er in den arbeitenden Klassen verwurzelt war, und kam zu dem Schluss, den der Verstand nahelegt, nämlich: „In der Praxis können wir nicht neutral sein, und es ist kaum jemals ein Krieg vorstellbar, bei dem es keinen Unterschied macht, wer gewinnt. Fast immer gibt es eine Seite, die mehr oder weniger für Fortschritt steht und eine andere Seite, die mehr oder weniger die Reaktion repräsentiert“. 1942 nannte er den Pazifismus „objektiv pro-faschistisch“, und fügte hinzu: „Das ist ganz weitgehend unumstritten. Wenn Du die Kriegsanstrengung der einen Seite untergräbst, dann hilfst du automatisch der anderen. Es gibt auch keine Möglichkeit, irgendwie außerhalb eines solchen Krieges zu bleiben wie dem gegenwärtigen“. Pazifistische Propaganda sei daher, „in anderen Worten eine Hilfeleistung für den Totalitarismus“.

Manche hellsichtige Polemiken lesen sich wie aktuelle Kommentare zum russischen Invasionskrieg gegen die Ukraine, etwa wenn Orwell schreibt: „Die Mehrheit der Pazifisten gehören entweder zu eigenartigen religiösen Sekten oder sie sind ganz einfach Humanisten, die es ablehnen, irgendjemanden das Leben zu nehmen und die über dieses elementare Prinzip hinaus jeden Gedanken ablehnen. Aber es gibt eine kleine Gruppe intellektueller Pazifisten, deren reales, doch uneingestandenes Motiv der Hass auf die westliche Demokratie und die Bewunderung des Totalitarismus ist. Pazifistische Propaganda wird üblicherweise auf die simple Behauptung verdünnt, dass die eine Seite genauso schlecht wie die andere sei, aber wenn man die Schriften heutiger Pazifisten genauer betrachtet, dann stellt man fest, dass sie keineswegs beide Seiten auf die gleiche Weise anklagen, sondern beinahe ausschließlich Großbritannien und die USA.“

Orwell, der Champion der Unabhängigkeit

Orwell war in einem ganz eminenten Sinne ein „freier Mann“, einer nämlich, der mit Scharfblick, Redlichkeit und Mut seine eigenen Ansichten formulierte, dabei oft richtig lag, selten völlig daneben griff, seine Fehler wenigstens selbst machte, der sich nie vor einen Karren spannen ließ oder auf die gängigen Lügen seiner Zeit herein fiel. Dabei, wir haben es schon gesehen, wusste er über die Gefahr durchaus Bescheid. „Jeder Schriftsteller oder Journalist, der sich seine geistige Integrität bewahren möchte, wird daran mehr durch den allgemeinen Trend der Gesellschaft als durch tatsächliche Verfolgung gehindert.“ Er braucht geistige Unabhängigkeit, die ein gewisses Maß an Einzelgängertum voraussetzt, und ihm regelmäßig den Vorwurf „antisozialer Ichbezogenheit“ einbringen wird. „Der Schriftsteller, der sich weigert, seine Meinung zu opfern“, wird „immer als krasser Egoist bezeichnet“. 

Ein Schriftsteller kann „kein loyales Mitglied einer politischen Partei sein“, proklamiert Orwell. Auch Orwells Überlegungen zur Sprache und zur politischen Literatur sind bestimmt durch dieses Ringen um Unabhängigkeit und Redlichkeit. Denn Orwell war ja zugleich ein politischer Aktivist. Er war sich darüber bewusst, dass der menschliche Fortschritt, Sozialismus, die zivilisatorischen Verbesserungen nicht von Solitären bewirkt werden, sondern von Menschen, die sich mit anderen Menschen zusammentun, um etwas zu bewirken. Der Aktivist Orwell und der Schriftsteller Orwell mussten notgedrungen in einem Spannungsverhältnis stehen. Orwell war ein Mann, der mit seinen journalistisch-literarischen Arbeiten etwas bewirken wollte, und zugleich der Versuchung widerstehen musste, sich in einen Propagandisten zu verwandeln, der die Wahrheit für die Sache opferte. Mehr noch: Er wollte die Wahrheit hinter den Phrasen frei legen. Dass er sich dem Problem der Sprache stellen musste, ergibt sich durch die einfache Tatsache, dass die Lüge im Medium der Sprache auftritt und dass, schon vor der glatten Lüge, die Korrumpierung des Denkens mit der Korrumpierung der Sprache beginnt. 

Orwell und der „einfache Stil“

Orwell hielt viel auf den „einfachen Stil“, den „plain style“, den „schmucklosen Stil“. Der Stil ist mehr als nur eine Geschmacksfrage, sondern selbst eine politische Entscheidung. „Der hohe Stil klingt nach Autorität und Tradition, und der einfache Stil ist verbunden mit Hausverstand und dem einfachen Mann“, schreibt der britische Literaturwissenschaftler Bernard Crick in seinem Vorwort zu Orwells Essays. Orwell bevorzugte den „einfachen Stil“, um den normalen Leser zu erreichen. Ein veritables Regelwerk legte er sich zurecht. „Ein gewissenhafter Autor wird sich bei jedem Satz, den er schreibt, vier Fragen stellen: Was versuche ich zu sagen? Welche Worte werden es am besten ausdrücken? Welches Sprachbild und welcher Klang wird es klarer machen? Ist es lebendig genug? Und er wird sich höchstwahrscheinlich zwei weitere Fragen stellen: Kann ich es kürzer sagen? Habe ich irgendetwas gesagt, das hässlich ist, und das vermieden werden kann?“

An anderer Stelle formulierte Orwell: „Ich denke, die folgenden Regeln werden die meisten Fälle abdecken. 1. Benütze niemals eine Metapher oder andere Sprachbilder, die du gewohnheitsmäßig gedruckt findest. 2. Benütze niemals ein langes Wort, wenn es ein kurzes Wort auch tut. 3. Wenn du ein Wort streichen kannst, dann streiche es. 4. Benütze niemals die passive Form, wenn du die aktive benützen kannst. 5. Benütze nie ein Fremdwort, eine akademische Formulierung oder Jargon, wenn dir ein Alltagsbegriff zur Verfügung steht. 6. Breche jede dieser Regeln, bevor du etwas Grobes, Ekelhaftes sagst.“ 

Orwell verband den „einfachen Stil“ mit Wahrhaftigkeit, die verkopften Kompliziertheiten mit Lüge oder wenigstens dem Versuch, die Wahrheit zu vernebeln. Gänzlich zu Ende gedacht ist das womöglich nicht, denn wie wir heute auch wissen, führt der krampfhafte Versuch, eine komplexe Wirklichkeit auf möglichst einfache Weise zu beschreiben, oft zu Versimpelungen, die der wirklichen Welt nicht gerecht werden, und außerdem kann man mit „volkstümlichen“ Formeln oft sogar besser lügen als mit komplizierter Sprache. Generationen populistischer und rechtsextremer Verseschmiede haben es vorgeführt. Es ist also auch das nicht so einfach, wie es scheint. 

Kampf gegen „die Unehrlichkeit“

Der große Feind der politischen Sprache ist für Orwell „die Unehrlichkeit. Wenn es eine Kluft zwischen den realen und den deklarierten Zielen gibt, wird ein Autor intuitiv viele Worte und erschöpfende Phrasen gebrauchen, so wie ein Tintenfisch Farbe verspritzt.“ Das politische Schreiben ist so oft schlechtes Schreiben, weil mit großen Worten das Nichts vernebelt wird, oder weil das, was die Autoren wirklich meinen, verschwiegen werden soll. Wo immer in klarer, verständlicher und wahrer Weise über Politik geschrieben wird, „werden wir im allgemeinen erkennen, dass der Autor eine Art von Rebell ist, der seine persönlichen Urteile ausdrückt, aber nicht eine ‚Parteilinie‘. Orthodoxie, welcher Art auch immer, scheint geradezu leblose Nachplapperei zu erfordern. (…) Ein Redner beispielsweise, der in solcher Phraseologie verfangen ist, hat sich zu einem erheblichen Maß in eine Art Maschine verwandelt.“

Politische Sprache und politisches Schreiben laborieren primär daran, dass sie oft zur „Verteidigung des Unverteidigbaren“ dienen. Orwell illustriert seine Überlegung mit dem Beispiel eines in aller Bequemlichkeit lebenden englischen Professors, der den stalinistischen Totalitarismus rechtfertigt. „Er kann nicht geradeheraus sagen, ‚ich glaube, dass wir durch die Ermordung von Oppositionellen gute Resultate erzielen werden‘. Daher wird er etwas von der Art sagen: Während wir durchaus bereitwillig einräumen müssen, dass das sowjetische Regime einige Eigenarten hat, die aus humanitärer Sicht beklagt werden können, so müssen wir, denke ich, auch einräumen, dass eine gewisse Begrenzung des Rechts zur politischen Opposition als unvermeidbare Begleiterscheinung der Übergangsperiode angesehen werden muss…“ 

Die Bereitschaft linker Intellektueller, die Verfehlungen des Stalinismus mit absurden rhetorischen Verrenkungen zu rechtfertigen, war in den furchtbaren Terrorjahren der Moskauer Prozesse besonders abstoßend und verstörend. Aber natürlich lassen sich diese Verrenkungen zur Schonung der vermeintlich „eigenen Leute“ oder zur Zukleisterung von Konflikten auch in weniger eklatanten Fällen finden. Oft sind sie unumgänglich, wenn man mit politischem Aktivismus etwas bewirken will, da politisches Engagement immer ein gemeinsames politisches Engagement unterschiedlicher Menschen ist, die in einigen Fragen Meinungsverschiedenheiten ignorieren müssen, um im Großen und Ganzen in der Lage zu sein, an einem Strang zu ziehen. Während der politische Schriftsteller in seiner Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit danach streben muss, Meinungsverschiedenheiten klar und schonungslos auszusprechen, kann für den Aktivisten durchaus ratsam sein, die Fehler der eigenen Leute nicht an die große Glocke zu hängen. Dann werden die heiklen Themen hinter einer Sprachwolke von Jargonbegriffen zum Verschwinden gebracht. „Gruppenloyalitäten sind notwendig“, weiß Orwell, „und doch sind sie Gift für die Literatur.“ 

Es versteht sich von selbst, dass Orwell in den Jahren zwischen 1936 und seinem Tod im Januar 1950 von der „offiziellen Linken“, den stalinistischen Kommunisten, aber auch von linken Sozialisten und auch manchen späteren Wortführern der Neuen Linken attackiert wurde. „Es gibt keinen Zweifel für die eigentliche Quelle diese Anti-Orwell-Ressentiments“, schreibt Christopher Hitchens in seinem Großessay „Why Orwell Matters“, nämlich: „In den Augen vieler aus der offiziellen Linken begingt er die ultimative Todsünde ‚dem Gegner Munition zu liefern‘“.

Redlichkeit und Wahrheit

Die Schlampigkeit „unserer Sprache macht es uns leichter, dumme Meinungen zu haben“, beklagt Orwell. „Prosa besteht immer seltener aus Worten, die ihrer Bedeutung wegen gewählt werden, und immer mehr aus Jargonphrasen, die zusammengetackert wind wie ein windschiefer Hühnerstall“. Und: „Wenn das Denken die Sprache korrumpiert, so kann die Sprache auch das Denken korrumpieren“. 

Orwell war nicht unbedingt selbst ein vorbildlicher Mensch, er hatte, wie erwähnt, Vorurteile, denen er ein Leben lang treu blieb oder die er zumindest nicht vollständig ablegen konnte, etwa seine Abneigung gegenüber Homosexuellen, er hatte seine schrulligen Seiten und er hat Handlungen gesetzt, deren moralische Rechtfertigbarkeit diskutiert werden kann. So hat der Antistalinist Orwell im beginnenden Kalten Krieg eine Art Denunziantenliste von prosowjetischen Literaten und Denkern an eine Abteilung des Londoner Außenministeriums übermittelt, allerdings eine, die von Labour-Party-Leuten zwecks Verteidigung des demokratischen Sozialismus eingerichtet wurde. Das wird ihm häufig als schwere Verfehlung ausgelegt, aber auch für jene, die ihn dafür nicht gleich verurteilen, ist das eine zweischneidige Sache. Vieles, wofür Orwell stand, ist bis heute aktuell und vorbildlich: die intellektuelle Redlichkeit, seine Weigerung, die Wahrheit für Gruppenloyalitäten zu opfern, seine Bereitschaft, wenn nötig zwischen allen Stühlen Platz zu nehmen, zugleich für die Utopie von Revolution und Sozialismus einzutreten und die liberale Demokratie, die Grundrechte und die Menschenwürde eines jeden bedingungslos zu verteidigen. Diese Redlichkeit der Wirklichkeit gegenüber ermöglichte es ihm, die Welt und ihre Erscheinungen, die Menschen und ihre Eigentümlichkeiten in herrlicher Klarheit und auch mit Sarkasmus zu beschreiben. Mit seiner Witterung für die Macht der Lüge hat er nicht nur die Totalitarismen seiner Zeit verstehen können, sondern darüber hinaus etwas erspürt, ein Vorgefühl auf unsere Zeit der „Truisms“ und der „Fake-News“, der Aufganselei durch völlig frei erfundene Lügen, die nicht einmal mehr eine Beziehung zur Realität haben. „1984“, hat viel mehr Bedeutungsebenen, als man seinerzeit wahrscheinlich annahm. In einer Zeit der digitalen Überwachung, medialer Blödmaschinen und von „Fake News“ lesen wir dieses Buch nicht nur als Allegorie auf totalitäre Entartungen, wie den Nationalsozialismus und den Stalinismus. Auch die „Farm der Tiere“, Orwells zweiter großer Welterfolg, ist einerseits eine hart an der Realität modellierte Parabel über die Degeneration der bolschewistischen Revolution, aber darüber hinaus eine Allegorie über die Conditio Humana, wie Ungleichheiten und Hierarchisierungen entstehen, wie Wichtigtuer groß werden, wie in Gruppen Einschlüsse und Ausschlüsse geschehen, eine Satire über Mitläuferei und das Mobbing von Schwachen durch die Starken. Napoleon, das gerissene, schlaue Schwein, das sich zum Diktator über die kurzzeitig befreiten Tiere aufschwingt, ist einerseits Stalin, aber andererseits auch eine Satire auf uns alle, kurzum: dass zuviel Schwein in uns sein mag, um eine Gesellschaft der Freundlichkeit hinzukriegen. An vielen Stellen seines Werkes bemerkt Orwell – den wir auch einen Autor der Vernünftigkeit nennen können – wie sehr berechtigte Anliegen im Widerspruch zueinander geraten können, sodass wir schwierige Zielkonflikte ausbalancieren müssen. So schreibt er etwa, dass wir einerseits Kommerzialisierung und einen kapitalistischen Wohlstand, bei dem sich alles nur mehr um das Haben dreht, satt haben, und auf der anderen Seite wissen, dass die fortschreitende Industrialisierung notwendig ist, um die einfachen Leute und die unteren Klassen aus dem Elend zu erheben. Bei Orwell war schon viel grün im rot, bevor das Common Sense wurde. Die Arbeiter des Westens werden für den Sozialismus gewonnen, indem man ihnen sagt, sie seien ausgebeutet, während sie im Weltmaßstab gesehen selbst „Ausbeuter seien“, eine Wahrheit, die geflissentlich übersehen werde, formulierte Orwell. Orwell nahm sich jede Phrasen-Konstruktion vor, indem er eine Karte nach der anderem aus dem Kartenhaus zog, bis es zusammenbrach. Während über viele zeit- und gesellschaftskritische Autoren seiner Epoche die Geschichte hinweg gegangen ist, kann man die allermeisten Orwell-Texte und Essays heute noch mit sehr viel Gewinn lesen, manche klingen so zeitgemäß, dass man ihnen kaum anmerkt, dass sie achtzig oder neunzig Jahre alt sind. 

Ein kämpferischer Sozialist

Orwells Schreiben war lebendig, klar und überzeugend, er war gewissermaßen der Weltmeister des Hausverstandes, und das einzige Schlimme, was die Nachwelt ihm angetan hat, ist, ihn in einen beinahe unumstrittenen Autor zu verwandeln, Pflichtlektüre für die gymnasiale Oberstufe. Orwell war der unbestechliche freie Mann, der den Selbstbetrug zum Zwecke einer größeren Sache ablehnte und am Betrug anderer nicht mitmachte. Er war von Zynismus nicht frei, aber das zynische Vernützen von Menschen war ihm zuwider. Er war gewissermaßen der nichtzynische Zyniker. Klares Denken, gutes Schreiben und allgemein verständliche Ideale, davon bräuchte es auch heute noch mehr.

„Was ich in den vergangenen zehn Jahren mehr als alles andere versuchte, war, das politische Schreiben in eine Kunst zu verwandeln“, resümierte Orwell in seinen letzten Lebensjahren, und gegenüber den vielen, die ihn immer wieder für die herrschende Ordnung und gegen die Linken instrumentalisieren wollten, stellt Orwell prophylaktisch und unmissverständlich klar: „Jede Zeile ernsthafter Produktion, die ich seit 1936 geschrieben habe, wurde, direkt oder indirekt, gegen den Totalitarismus geschrieben und für den demokratischen Sozialismus, wie ich ihn verstehe.“

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