Passdeutscher
Von Knuth Kung Shing Stein
Januar 2024 – Freitagabend in der Hamburger Innenstadt. Es ist sehr ungemütlich. Das eisige Wetter lädt auch nicht zum Verweilen ein. Die wenigen Passanten wollen schnell nach Hause und ihren Feierabend genießen. Es weht von allen Seiten. Der Januarwind kann sich nicht entscheiden. Er ist aus jeder Richtung fies. Ich ziehe mich tief in meinem Mantel zurück. Es bringt nichts. Die Kälte kriecht durch alle Schichten Stoff.
Klar könnte ich mir auch etwas Besseres zum Wochenende vorstellen, als hier an einer Anti-AfD-Demo teilzunehmen. Aber es musste sein. Jetzt auf dem Sofa zu chillen und gemütlich eine Serie zu suchten, ist keine Option mehr für mich. Mit ein paar tausend Menschen teile ich meinen Zorn: Eine rechtsextreme Partei darf offen ihr Gift versprühen. Dafür schäme ich mich. Die Demonstranten werden laut, aber es bleibt friedlich, keiner schwenkt einen Galgen. Dass an den nächsten Wochenenden hunderttausende Menschen sich dem Protest gegen die AfD anschließen, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht.
Die Empörung ist groß in Deutschland, seit die Details über ein Geheimtreffen von AfD-Politikern und Rechtsradikalen in einem Hotel bei Potsdam bekannt geworden sind. Hier wurde ein Masterplan zur Remigration, also der Rückführung von Millionen Menschen mit einer Zuwanderungsbiografie, vorgestellt. Es würde mich und meine Geschwister, viele Freunde, Kollegen und Kolleginnen treffen. Nach den Vorstellungen der AfD müsste ich meine deutsche Staatsangehörigkeit zurückgeben. Ich wäre dann wieder staatenlos.
Als uneheliches Kind eines Chinesen, dessen deutsche Mutter mit einem Türken verheiratet war, hatte ich keinen Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft.
Zwanzig Jahre nach Kriegsende kam ich 1965 unehelich in Hamburg auf die Welt. Nach einer langen Odyssee blieb mein Vater, ein chinesischer Schiffskoch, in Hamburg hängen, weil er sich in meine Mutter verliebte. Die Liebe hielt nicht lange. Nach meiner Geburt trennten sich die beiden. Mein Vater verschwand aus meinem Leben und tauchte erst Jahre später wieder auf. Keine ungewöhnliche Paargeschichte. Jeder von uns kennt ähnliche Geschichten. Meine Mutter lernte einen neuen Mann kennen, der aus der Türkei kam und den sie auch heiratete.
Als uneheliches Kind eines Chinesen, dessen deutsche Mutter mit einem Türken verheiratet war, hatte ich keinen Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft. Warum verstehe ich bis heute nicht. Trotzdem wurde meine Mutter regelmäßig bei den Behörden vorstellig. Immer wieder wurde unser Anliegen abgelehnt. Mein ungewöhnliches Schicksal überforderte jeden deutschen Beamten. So blieb ich ein Kind ohne Land und Rechte. Sobald sich eine Gelegenheit ergab, versuchte es meine Mutter wieder. Gemeinsam gingen wir zu den Ämtern in der Hoffnung, dass irgendein Beamter Erbarmen zeigte. Aber die meisten hatten kein Einsehen oder keine Lust uns zu helfen. Blut und Boden waren ihnen heilig. Was die Männer in den Amtsstuben über meine Mutter dachten, war ihr egal. Die Feindseligkeit und Arroganz, mit der sie behandelt wurde, perlten an ihr ab, wie Regentropfen auf einer Regenjacke. Ihre Unerschrockenheit hat bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Die Jahre vergingen. Langsam verflog der feldgraue Muff. Mit etwa 14 Jahren unternahmen wir einen weiteren Anlauf. Zusammen fuhren wir eines Tages zu unserem Ortsamt, weil ich für eine Klassenreise einen Kinderausweis brauchte. Ohne den Pass hätte ich nicht mitfahren können. Ein Beamter prüfte meine Akte. Er schüttelte den Kopf. „So ein Blödsinn. Der Junge braucht einen Pass. Du bist doch Deutscher und sollst doch mit auf die Reise. Was sollen deine Klassenkameraden von dir denken.“ Meine Mutter fiel ein Stein vom Herzen, weil sie wusste, wie wichtig eine Staatsangehörigkeit für mich war. Er nahm meine Passbilder und stellte mir einen Pass aus. Innerhalb weniger Minuten wurde ich Deutscher, ohne feierliche Zeremonie mit Bürgermeister, Urkunde, Sekt und schwarz-rot-goldenen Reden. Als ich meinen deutschen Pass endlich in den Händen hielt, konnte ich mein Glück kaum fassen. Zur Sicherheit fotokopierten wir den Pass paarmal, falls ich den Pass mal verlieren sollte. Wir blieben misstrauisch.
Deutschland ist mein Zuhause. Es ist kein perfektes Land. Aber gibt es überhaupt das perfekte Land? Es macht viele Fehler, ist voller Widersprüche und hat eine Menge Probleme. Als Bürger sehe ich meine Republik kritisch. Ein ganzes Wikipedia könnte ich vollschreiben, was mir nicht gefällt. Aber ich könnte auch ein ganzes Wikipedia vollschreiben, was mich alles an diesem Land begeistert. Ich bin dankbar, dass ich hier leben kann, weil es eine Demokratie hat, für die es sich lohnt, auf die Straße zu gehen.
Weg mit Ausländern. Weg mit Frauenrechten. Weg mit Juden. Weg mit Naturschutz. Weg mit der EU. Weg mit E-Mobilität. Weg mit dem Euro. Weg mit dem öffentlichen-rechtlichen Rundfunk. Weg mit Wissenschaft. Weg mit Journalisten. Weg mit Veganern. Weg mit Impfstoffen. Weg mit Klimaschutz. Weg mit Schwulen und Lesben. Weg mit Sozialschwachen. Weg mit Freiheit. Weg mit Gleichheit. Weg mit Vielfalt und Fortschritt. Die AfD kennt nur eine Lösung: Weg damit!
Wollen wir das? Ich nicht. Ich bleibe. Ich geh nicht weg.
Es steht für uns viel auf dem Spiel. Wir können jetzt beweisen, dass wir es besser machen als unsere Urgroßeltern. Keiner soll später sagen, er hätte nichts gewusst. Keiner.
Die AfD ist wie ein eisiger Winterwind, der durch alle Schichten geht. Er lässt Herz und Verstand gefrieren. Wir dürfen jetzt nicht erstarren. Kein Frühling wird uns später helfen können. Lasst es nicht so weit kommen. Wehrt euch.
Anmerkung: Dieser Text erschien im Februar 2024 auf dem SoSUE Blog
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