Millionen von Gehirnen mobilisieren
Mit kollektiver Intelligenz lassen sich Lösungen für Probleme wie den Klimawandel finden, sagt Geoff Mulgan, Professor am University College London. Philanthropie könnte dabei eine wichtige Rolle einnehmen. Doch das tut sie bisher nicht.
Interview: Takashi Sugimoto. Erstmals veröffentlicht am 29. Mai 2023, The Philanthropist.
Herausforderungen wie die Klimaerwärmung oder die ungleiche Verteilung des Wohlstands verlangen, dass sich unsere Gesellschaft ändert. Was hindert uns daran, dass wir das schaffen?
Uns fehlt aktuell die kollektive Vorstellung einer besseren Zukunft. Viele Menschen können sich eine ökologische Katastrophe vorstellen oder die technologische Entwicklung, nicht aber, wie eine bessere Gesellschaft, die Demokratie oder die Wohlfahrt in 40 Jahren aussehen könnte. Wir haben eine Krise der Vorstellungskraft. Der Philanthropie kommt eine entscheidende Rolle zu, damit wir den Weg aus dieser finden.
Weshalb gerade die Philanthropie?
Fast die einzigen, die noch in positive Zukunftsbilder investieren, sind heute Technologieunternehmen. Universitäten haben ihre Rolle aufgegeben, die sie in diesem Bereich hatten, genauso wie politische Parteien und soziale Bewegungen. Deshalb ist hier die Philanthropie gefordert. In England hat bspw. der grösste philanthropische Förderer das Programm Emerging Futures gestartet. Lokale Gemeinschaften entwickeln in Projekten eine gemeinsame Vorstellung ihrer Zukunft.
Wie wichtig sind diese positiven Zukunftsbilder für das Finden von Lösungen?
Neben einer effizienten Umsetzung ist vor allem diese gemeinsame Vorstellung essentiell, um Probleme zu lösen. Denn ohne die Vorstellungskraft fehlt die Richtung für die Lösungsfindung. Oft stehen wir heute leider genau dort.
Dennoch glauben Sie an einen Wandel unserer Gesellschaft zum Positiven?
Ja. Denn ich habe ihn erlebt. Ich habe in Regierungen von Städten und Nationen gearbeitet, für NGOs Geschäfte entwickelt und eine Stiftung geleitet. In all diesen Funktionen habe ich erlebt, dass wir Wirtschaft und Gesellschaft transformieren können – und zwar ziemlich grundlegend. Wohl überschätzen wir oft, was kurzfristig möglich ist. Gleichzeitig unterschätzen wir, was langfristig erreicht werden kann. Damit der Wandel aber stattfindet, muss jemand die kollektive Intelligenz organisieren.
Wer könnte das tun?
Die Philanthropie könnte bei dieser Aufgabe eine bedeutende Rolle einnehmen, nur macht sie dies nicht.
Weshalb macht sie das nicht?
Die kurze Antwort: Niemand macht das.
Und die ausführliche?
Ich beschäftige mich seit 30 Jahren mit Net-Zero. Vor 20 Jahren habe ich an der Entkarbonisierungsstrategie für England gearbeitet, die dazu beigetragen hat, die Emissionen zu halbieren. Das Faszinierende an der Klimawandel-Thematik ist, dass die Welt gute kollektive Diagnose-Werkzeuge entwickelt hat, wie den 1988 gegründeten Intergovernmental Panel on Climate Change IPCC. Tausende Wissenschaftler:innen waren involviert. Für die Erarbeitung von Lösungen fehlt dagegen eine gleichwertige Organisation. Zwar engagieren sich Regierungen und Universitäten ein wenig. Doch insgesamt klafft hier eine Lücke. Bei anderen grossen gesellschaftlichen Herausforderungen wie der ungleichen Verteilung des Wohlstands oder bei psychischen Gesundheitsproblemen zeigt sich dasselbe Bild. Wissen und Daten sind weltweit vorhanden. Aber wir nutzen sie nicht, um eine Lösung zu finden. Es fehlt die Organisation dieser Daten und des Wissens.
Und hier sehen Sie eine Rolle für die Philanthropie?
Ja. Ich möchte Stiftungen ermutigen, sich mit diesen Lücken zu befassen. Denn die grundlegende Organisation von Intelligenz fehlt insbesondere in den Feldern, in denen sich Philanthropie engagiert. Deswegen arbeitet Philanthropie viel weniger effizient als möglich. Das führt zu einer grossen Verschwendung von Ressourcen und bringt Doppelspurigkeiten.
Weshalb nimmt sich Philanthropie dieser Aufgabe nicht an?
Es handelt sich um wenig spektakuläre Grundlagenarbeit. Dabei muss nicht alles von einer Institution alleine oder von Grund auf neu gemacht werden. Vieles ist schon da: Neben der Kreation ist deswegen auch das Kuratieren von Wissen entscheidend.
Das klingt abstrakt. Wie organisiert man kollektive Intelligenz?
Meist geschieht dies auf drei Wegen. Erstens: Die Menschen werden in die Beobachtung eines Phänomens involviert, bspw. das Zählen von Vögeln oder die Beobachtung von Symptomen bei einer Pandemie. Zweitens können sie an der Lösungsfindung partizipieren und Vorschläge machen. Die Weltraumbehörde Nasa nutzt diese Möglichkeit bereits stark. Drittens kann man die Öffentlichkeit bei der Implementierung der Massnahmen einbinden. Bei allen drei Wegen zeigt sich, dass es hilft, wenn viele Menschen ihre Beobachtungen und Entdeckungen teilen und in die Lösungsfindung einbezogen sind.
Und was macht diesen Ansatz so viel besser?
Wir können damit Millionen von Gehirnen mobilisieren und nicht nur ein paar ausgewählte Professor:innen an Universitäten. Gerade bei komplexen Fragestellungen ist das matchentscheidend. Global funktionieren bereits zahlreiche Projekte auf diese Weise. Die Vereinten Nationen haben bereits Accelerator Labs in 100 Ländern lanciert. Auch viele Städte und Länder nutzen Methoden kollektiver Intelligenz, um Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Mir scheint es, dass die Philanthropie lange darauf gewartet hat, dass die Werkzeuge für diese Methoden zur Verfügung stehen. Sie sind jetzt bereit.
Warum führen diese Methoden zu besseren Lösungen?
Weil wir den Prozess der Problemlösung öffnen. Er wird dadurch objektiver, weil wir tatsächlich erleben, welche Antworten wirklich eine Wirkung haben. Das alte Modell, einfach einen Universitätsprofessor beizuziehen oder eine Regierungsumfrage zu starten, ist anachronistisch. Die Reputation einer Institution garantiert nicht, dass eine Lösung funktioniert. Trotzdem tendiert die Philanthropie weiter dazu, Gelder an angesehene Universitäten zu sprechen, an Harvard, Cambridge oder die ETH. Auch wenn an diesen Institutionen sehr intelligente Menschen arbeiten, ist diese Methode ineffizient. Die kollektive Methode ist offener, objektiver und inklusiver.
Bergen kollektive Methoden nicht die Gefahr, dass gehört wird, wer seinen Input am lautesten einbringt?
Die Lautesten, Extrovertiertesten oder Mächtigsten dominieren traditionellerweise die Lösungsfindung. Dieses Phänomen zeigt sich sehr konkret auch in Sitzungen. Dabei gibt es interessante Strukturierungsmethoden von Sitzungen, um die kollektive Intelligenz der Gruppe zu maximieren. Open Space oder ein World Cafe gehören zum Repertoire und im Bereich der kollektiven Intelligenz werden viele Methoden entwickelt, die noch viel weiter gehen.
Doch es wird nicht ausgeschöpft?
Ich habe eine Umfrage bei Topuniversitäten und Parlamenten gemacht. Sie nutzen diese nicht und auch im Mainstream sind diese Methoden nicht angekommen. Die Philanthropie könnte hier also viel bewegen, indem sie diese Methodik verbreitet und die Nutzung von kollektiver Intelligenz damit verbessert. So gibt es heute kaum systematische Auswahlverfahren, die uns unterstützen, jene Methode zu finden, die für eine bestimmte Aufgabe die geeignete ist. Dabei stünde schon heute Technologie zur Verfügung, welche die kollektive Intelligenz in Sitzungen verbessert. Das taiwanesische Parlament etwa nutzt das Tool Pol.is (Abre numa nova janela). Dieses zeigt die Muster von Meinungen in einer grossen Gruppe und unterstützt den Prozess um zu einem Konsens zu gelangen. Auch wenn am Ende die Minister und das Parlament entscheiden, involviert die Regierung eine grosse Anzahl von Menschen in die Debatten. So beruht der Entscheidungsprozess auf der kollektiven intelligenz der Gesellschaft und nicht einer kleinen Gruppe. Demokratien mit kollektiver Intelligenz sind eine gesunde Alternative zu autoritärem Populismus, der Macht auf eine Person beschränkt.
Im Moment redet die Welt eher von künstlicher – KI – als von kollektiver Intelligenz. Macht KI die kollektive Intelligenz obsolet?
Das Gegenteil ist der Fall. Die meisten Applikationen, die mit Künstlicher Intelligenz Lösungen für soziale Probleme bieten wollen, sind enttäuschend. Aber die Kombination ist effektiver. Es gibt zwar keine KI, die eine Net-Zero-Strategie für die Schweiz entwickeln kann. Aber es gibt zahlreiche Möglichkeiten, kollektive Intelligenz mit KI zu verbinden, um die Lösungsfindung zu erleichtern. Vor einem Jahr habe ich mit Kolleg:innen einen Report für die UN zu kollektiver Intelligenz und KI erstellt. Er enthält verschiedene Praxisbeispiele aus der Flüchtlingsunterstützung, den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit oder den Abfall, die zeigen, wie kollektive Intelligenz und KI zusammen genutzt werden können.
Wird KI immer nur Teil der Lösung sein oder ist es denkbar, dass sie in Zukunft alleine die Lösung ist?
Noch ist KI nicht sehr gut im Lösen komplexer Probleme. Gut funktioniert sie, wenn sie bei einer Frage auf eine breite Datenbasis zurückgreifen kann. Aber auch die Daten sind Teil der Problemlösung. Der Umgang mit ihnen weist Verbesserungspotenzial auf.
Was läuft falsch?
Eine Fragestellung, mit der sich unsere Gesellschaft beschäftigen sollte ist, wem die Daten gehören, neu organisieren. Wir brauchen Datenintermediäre, die diese schützen und zur Verfügung stellen um den sozialen und öffentlichen Wert der Daten zu maximieren.
Eine Aufgabe für Google und Facebook?
Nein. Google oder Facebook wollen die Daten besitzen und den privaten Wert maximieren, aber nicht für die Gesellschaft zur Verfügung stellen um so den öffentlichen Wert zu maximieren. Es ist wichtig, dass wir Daten nicht als vollkommen privat ansehen. Wegen der Diskussion um diese beiden Pole haben wir Jahre verloren. Wir müssen Institutionen schaffen, die wir brauchen. Die Institutionen müssen die Daten, bspw. der Mobilität oder im Gesundheitswesen, bewahren und schützen und gleichzeitig zugänglich machen. Ich hoffe, dass uns da in diesem Jahrzehnt gelingt. Auch diese Aufgabe könnte die Philanthropie übernehmen – doch sie spielt hier bisher keine Rolle.
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(Abre numa nova janela)Bild: JJ Ying (unsplash)