Wir leben alle in zwei Realitäten gleichzeitig
Von Manuel Benjamin Lehmann
Wieso wir Utopie und Dystopie gleichzeitig erleben. Und wie man dem mit einem Medienprojekt gerecht werden könnte.
Das Narrativ, dass wir auf zwei Zeitlinien leben, begegnete mir rund um die Neujahrstage vor allem in astrologischen Voraussagen und bei magischen Seher:innen. Diese «spirituellen Narrative» interessieren mich, da sie für viele Menschen Teil ihres Weltbildes sind und häufig auch in den kulturellen Mainstream einfließen. Doch diese Erzählung der zwei Zeitlinien findet sich auch bei philosophischen Denker:innen und Science Fiction-Autor:innen. Um einige Namen zu nennen: Yuval Noah Harari, Mark Fisher, Donna Haraway, Naomi Klein und Kim Stanley Robinson.
Rund um den Jahreswechsel brachten einige Medien bewusst Artikel, die darauf hinwiesen, dass es um die Welt gar nicht so schlecht steht. So präsentierte beispielsweise Dino Pomeranz, Professorin für angewandte Ökonomie an der Universität Zürich, im Tagesanzeiger in sechs Themenfeldern ermutigende Fakten und Zahlen. Auch zu China las ich einige positive Artikel. Deren Strategie zur Energiewende scheint aufzugehen – die eigenen Prognosen wurden 2024 sogar übertroffen.
Doch dabei gibt es auch eine Schattenseite, die bei uns viel Raum einnimmt: den Niedergang der europäischen Automobil- und Solarindustrie. Bestimmte Rückstände gegenüber China scheinen kaum mehr aufzuholen zu sein. Dass der Zug dennoch nicht vollständig abgefahren ist, zeigt das Beispiel von 3S Swiss Solar, einer ehemaligen Tochterfirma von Meyer Burger. Während der Pionier Meyer Burger zu scheitern droht, geht es der inzwischen unabhängigen Tochterfirma 3S Swiss Solar wirtschaftlich gut. Sie produzieren Solardächer statt Solarpanels und sind damit in einer Nische erfolgreich.
An diesem Beispiel erkennt man die beiden Zeitlinien sehr gut. Der utopische Strang könnte so interpretiert werden: China beliefert Entwicklungsländer und Europa mit bezahlbaren Solarpanels und Elektroautos, basierend auf starker Automatisierung. Die europäische Industrie besetzt Nischen und setzt auf Qualitäten wie ästhetisch besser integrierte Solarpanels. Wir schaffen so die Energiewende!
Der dystopische Strang ist, wie so oft, lauter: Der Fokus liegt auf chinesischen Kohlekraftwerken, hohen Energiepreisen (zwar bedingt durch den Ukraine-Krieg) und drohendem Arbeitsplatzverlust. Ein wirtschaftlicher Umbau bringt immer Verlierer mit sich. Die Widerstände einfach als Statements von „Ewiggestrigen“ zu bezeichnen, greift zu kurz. Die Ängste sind ernst zu nehmen. Jedem Umbruch geht einher mit Disruption. Oder eben: Mit einer Dystopie. Aber stehenbleiben ist auch keine Option.
Es ist nachvollziehbar, dass es nervt, wenn das Dystopische so viel lauter ist und Chancen übersehen werden. Wie ernst die Ängste vieler Menschen zu nehmen sind, zeigen Phänomene wie die Wahl Trumps und der Aufstieg populistischer Bewegungen. Hier wäre Empathie wichtig, auch wenn die Situation komplex ist, da sie oft mit Ängsten vor Zuwanderung und veränderten Rollenbildern vermischt ist.
Es ist herausfordernd, dieser Wut zu begegnen – sowohl für die Politik als auch für uns alle. Und insbesondere auf Social Media. Es würde mehr Formate brauchen, wie das Demokratie-Experiment des ORF, das sechszehn Menschen mit sehr unterschiedlichen Meinungen zusammenbrachte für verschiedene spielerische Übungen in Demokratiebildung. Dabei trafen Menschen mit unterschiedlichen Meinungen aufeinander, um spielerische Übungen zur Demokratiebildung durchzuführen. Die Methoden stammen aus dem Betzavta-Ansatz („Miteinander“), der am ADAM-Institut für Demokratie und Frieden in Jerusalem entwickelt wurde. Die Sendung zeigte, dass innerhalb weniger Stunden erstaunliche Einsichten und Veränderungen möglich sind.
Eine Kritik lautet, dass Medien die dystopische Zeitlinie stärker abbilden, weil wir solche Artikel häufiger anklicken – ein Überlebensinstinkt, der beim Säbelzahntiger Sinn machte, aber beim tausendsten Artikel über Trump weniger. 46 % der Menschen in der Schweiz konsumieren laut einer aktuellen Studie deshalb oder weil sich unwohl fühlen mit ihrem Medienkonsum keine oder weniger Nachrichten.
Eine weitere Reaktion darauf ist die Produktion von sogenannt konstruktiven Journalismus - mit Fokus auf positive Meldungen. Zwar gibt es einige Beispiele in Deutschland und Österreich, doch oft fehlt mir die Einordnung in einen größeren Kontext – wie bei vielen negativen Meldungen ebenfalls. Ich lese sehr viele Newsletter und verschiedene Apps, um die wenigen relevanten Artikel zu finden, die mir Orientierung bieten. Häufig sind dies Interviews mit Wissenschaftler:innen. Ich wünsche mir ein Medienprojekt ohne unwesentliche Meldungen – seien sie negativ oder positiv.
Ich ertrage es, dass die Welt nicht nur gut ist und es diese beiden Zeitlinien gibt. Ich finde es aber wichtig, dass Journalismus beide Zeitlinien erkennt und Ereignisse einordnet. Diese sind nicht voneinander losgelöst. Wir brauchen mehr Diskussionen und eine bessere Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen. Zum Beispiel: Wollen wir hochautomatisierte Fabriken wie in China, um wieder mehr in Europa zu produzieren? Oder setzen wir auf Solardächer statt Solarpanels? Oder wie kann die Zuwanderung besser gesteuert werden, ohne die Menschenrechte zu verletzen?
Solche Debatten kommen oft zu kurz, da die Diskussion von Lärm und mangelnder Diskussionskultur übertönt wird. Hierfür braucht es Lösungen.
https://www.tagesanzeiger.ch/klima-armut-gesundheit-weltweiter-positiv-trend-241416102005 (Abre numa nova janela)https://www.klimareporter.de/deutschland/aber-china-hat-ausgedient (Abre numa nova janela)https://taz.de/Negativity-Bias-im-Journalismus/!6055111/ (Abre numa nova janela)https://www.nzz.ch/wirtschaft/3s-swiss-solar-wo-meyer-burger-scheiterte-hat-dieser-modulhersteller-erfolg-ld.1841437 (Abre numa nova janela)https://on.orf.at/video/14244216/dok-1-spezial-das-demokratie-experiment (Abre numa nova janela)https://erwinschatzmann.ch/ (Abre numa nova janela)