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Liebe Leserïnnen,

vor zehn Monaten, im Verlauf der zweiten Corona-Welle, habe ich in meinem Blog 18 Corona-Mythen und Fehlannahmen (Abre numa nova janela) aufgeschrieben. Denn im Verlauf der Sars-CoV2-Pandemie haben sich allerlei Mythen und Legenden herausgebildet, die es erschweren, sinnvoll über Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung zu debattieren. Die meisten dieser Mythen und Legenden haben den Effekt, dass sie eine sinnvolle Diskussion über die jeweiligen Maßnahmen unterbinden.

An diese Liste musste ich wieder denken, seitdem uns politisches Vollversagen in die vierte Welle manövriert hat und die Gesellschaft einer Person gleicht, die schreiend im Kreis rennt, während die Intensivstationen langsam aber sicher in die völlige Überlastung fahren. Doch seit dem letzten Winter hat sich einiges geändert. Über bestimmte Dinge wird heute nicht mehr geredet, dafür ist anderer Unsinn im Umlauf. Neun weitere Punkte sind hinzu gekommen. Zeit für ein Update also.

Wichtig: Hier geht es eher nicht um die Hirngespinste aus der Querdenken-Bewegung. Nur falls sich Leserïnnen aus einer bestimmten Ecke schon freuten: Hier will ich weder das Virus oder seine Gefährlichkeit noch die Impfung oder den Sinn des Mund-Nasen-Schutzes in Frage stellen. Hier geht es nicht um Verschwörungsmythen, sondern um Ansichten, die sich festgesetzt haben und immer wieder geäußert werden, obwohl sie recht fragwürdig sind.

1. Impfen bringe nichts

„Was hat Impfen eigentlich gebracht?“ (Abre numa nova janela) lautet die „Bild“-Schlagzeile, und egal was im Artikel steht: Wer die Schlagzeile liest, ergänzt reflexartig: „Nichts“. Schließlich infizieren sich auch Geimpfte mit SARS-CoV2 und liegen auf Intensivstationen. Allerdings sind 80–90% der Corona-Intensivpatientïnnen ungeimpft, während nur etwa 23% der Deutschen ungeimpft sind. Würde die Impfung nicht helfen, müsste die Zahl der Geimpften auf den Intensivstationen viel größer sein. Tatsächlich haben fast alle Menschen, die trotz Impfung wegen Corona auf die Intensivstation kommen, entweder ein sehr hohes Alter, relativ schwere Vorerkrankungen oder beides. Leider machen Verquerdenkende gerade einen Treppenwitz draus:

https://twitter.com/ennopark/status/1459209619344080900 (Abre numa nova janela)

2. Wir hätten eine „Pandemie der Ungeimpften“

Leider nein. Der einfache Grund ist: Auch geimpfte Menschen können sich mit SARS-CoV2 infizieren und andere anstecken. Es passiert nicht so leicht wie bei ungeimpften, aber es passiert. Das ist weder neu noch überraschend. Die WHO formulierte bereits im August (Abre numa nova janela) für die Delta-Variante: "Similar transmissibility between vaccinated and unvaccinated individuals". Dummerweise haben die politisch verantwortlichen lange so getan, als sei das anders. Siehe Punkt 3.

3. Die 2G/3G-Regeln würden bei der Pandemiebekämpfung helfen

Die 3G-Regel unterstellt ja, dass nur Ungeimpfte sich testen lassen müssen und sich bei den anwesenden Geimpften nicht anstecken. Das macht 3G-Veranstaltungen zu Seuchenherden. (Abre numa nova janela) Dasselbe gilt für 2G-Veranstaltungen. Deren Teilnehmerïnnen haben zwar ein sehr geringes Risiko, selbst zu erkranken, aber tragen das Virus hinterher weiter und gefährden andere. Es müssten also bei 2G-/3G-Veranstaltungen eigentlich Masken und Abstand Pflicht sein, doch in der Infektionsschutzmaßnahmenverordnung des Landes Berlin (Abre numa nova janela) heißt in fast allen Paragraphen, dass Abstandsgebote, Maskenpflicht und andere Einschränkungen in den jeweiligen Bereichen nicht gelten, wenn die Zusammenkunft unter „2G“ stattfindet. Die große Mehrzahl der Menschen wird also seitens ihrer Regierung noch ermuntert, sich zu verhalten, als gäb’s kein Corona, solange Geimpfte unter sich sind. Das Virus wird sich also wegen der 2G-Regelung noch schneller verbreiten als ohnehin schon.

4. Eine Impfpflicht verstoße gegen die Verfassung

Wird immer wieder behauptet, ist aber nicht so. Auch wurden in Deutschland bisher Pflichtimpfungen nicht aus juristischen Gründen abgeschafft, sondern weil sie medizinisch nicht mehr notwendig wahren, wie etwa die Pocken-Impfung nach Ausrottung der Pocken. Im Gegenteil: Im Mai 2020 hat das Bundesverfassungsgericht Beschwerden gegen eine Masern-Impfpflicht für Kitas abgewiesen (Abre numa nova janela).

5. Plexiglas-Barrieren

Sie stehen in Arztpraxen, an Supermarktkassen und auf Kneipentresen und manchmal sogar in Parlamenten zwischen den Sitzen der Abgeordneten. Allerdings bringen sie wahrscheinlich kaum etwas. Zwar verhindern sie Tröpfchen-Infektionen beim direkten Ansprechen/Anhusten/Anniesen, allerdings verhindern sie nicht, dass sich Virus fein in Form von Aerosolen im Raum verteilt. Und das Aerosol wabert früher oder später auch hinter die Plexiglaswand. Unter bestimmten Umständen können sie sogar kontraproduktiv sein (Abre numa nova janela), weil sie beim Lüften den ungehinderten Luftaustausch blockieren. Wer hinter einer solchen Plexiglasscheibe sitzt, sollte also trotzdem eine FFP2-Maske tragen und für Luftaustausch sorgen.

6. Kontaktbeschränkungen/Ausgangssperren seien nicht wirksam

Ich wäre im Traum nie auf die Idee gekommen, diesen Punkt mit auf die Liste zu setzen, wenn FDP-Chef Christian Lindner ihn nicht in den Tagesthemen gebracht hätte. Selbstverständlich wirken Kontaktbeschränken. Wenn Menschen sich nicht begegnen, übertragen sie auch keine Viren. Allerdings ruderte Christian Lindner zurück und behauptet, er sei „missverstanden“ worden und habe nur Ausgangsbeschränkungen gemeint. Das ist dumm, denn aus wissenschaftlicher Sicht ist völlig unstrittig, dass auch Ausgangsbeschränkungen die Verbreitung hemmen. (Abre numa nova janela) Viele Menschen nehmen das mit den Kontaktbeschränkungen nämlich nicht so genau und müssen dann per Ausgangssperre gehindert werden. Von Christian Lindner ist das aber auch ein klassisches Strohmann-Argument, denn eigentlich redet im Moment außer ihm niemand von Ausgangssperren.

7. Die Inzidenz habe bei hohen Impfraten keine Aussage mehr

Das ist falsch. Nicht nur weil auch Geimpfte andere anstecken können. Solange 20 Millionen Menschen im Land ungeimpft herumrennen, haben wir alleine mit denen genügend „kritische Masse“, um das Gesundheitssystem völlig zu überlasten. Die Zahl der Krankenhauseinweisungen als neuer Indikator anstelle der Inzidenz ist witzlos (Abre numa nova janela), weil sie nachlaufend ist. Wenn die Leute im Krankenhaus landen, ist es für Vorsorgemaßnahmen zu spät. Und die Krankenhäuser können ihre Fallzahlen oft erst mit erheblichem Verzug melden, weil dafür schlichtweg kein einheitliches System existiert. (Auch eines von vielen, vielen Beispielen des Politik-Versagens: Einen Indikator einführen, der mangels System gar nicht richtig gemessen werden kann, ohne ein solches System vorher einzuführen.)

8. Die Corona-Warn-App bringe nichts

Wird immer bis heute wieder behauptet. Tatsächlich gibt es keine Zahlen. Niemand weiß, wie viele Infektionen durch Warnungen in der App verhindert werden konnten – es gibt allenfalls Schätzungen. Aber alleine heute warnen 5834 Menschen über die App andere Menschen, die ihnen begegnet sind. Selbst wenn nur ein Teil der so gewarnten sich isoliert und testen lässt, muss das einen Einfluss auf das Infektionsgeschehen haben. Tatsächlich ist die Corona-Warn-App im Moment die einzige Chance, überhaupt Menschen davor zu warnen, dass sie Kontakt mit Infizierten hatten. Die Kontaktnachverfolgung durch die Gesundheitsämter ist nämlich längst zusammengebrochen. Wodurch ganz nebenbei auch die Verwendung der Luca-App sinnlos wird. Wir erinnern uns: Als Grenze, bis zu der die Gesundheitsämter noch Kontakte nachverfolgen konnten, um eine Welle zu verhindern, war eine Inzidenz von 35. Die hatten wir bundesweit das letzte mal im August. Bis wir diese Inzidenz wieder erreichen, ist das einzige, was wir tun können, uns per Corona-Warn-App gegenseitig zu warnen.

9. Das Virus stammt aus einen Labor in Wuhan

Ein Grund, warum dieser Verschwörungsmythos wieder aufgetaucht ist, ist ein Forschungsantrag. Im Jahr 2018 wollten Forscherïnnen am SARS-CoV1-Virus eine so genannte Furin-Spaltstelle ins Spike-Protein einbauen, um die Folgen für die Infektiösität zu studieren. SARS-CoV2 besitzt eine solche Furin-Spaltstelle, worin manche einen Hinweis sehen, dass es Ergebnis solcher Experimente sei. Problem: Der Forschungsantrag wurde abgelehnt. Das Experiment mit der Furin-Spaltstelle wurde nie durchgeführt. Dass SARS-CoV-2 im Spike-Protein eine Furin-Spaltstelle hat, ist auch kein Indiz dafür, dass ein solches Experiment stattfand. Solche Anpassungen kommen in der Natur häufig vor und sind erwartbar. Gerade deshalb wollten die Forscherïnnen es im Labor bauen, um es zu testen. Dass SARS-CoV2 aus SARS-CoV1 im Labor zusammengebaut wurde, ist theoretisch möglich, praktisch jedoch ausgesprochen unwahrscheinlich. Wäre es ein menschengemachter Umbau, hätten gäbe es zwei Viren, die weitgehend identisch sind, und sich an den wenigen Stellen unterscheiden, an denen umgebaut wurde. SARS-CoV2 hat jedoch gegenüber SARS-CoV1 so viele verschiedene und unsystematische Veränderungen, dass es keine plausible Erklärung dafür gibt, wer die alles aus welchen Grund vorgenommen haben könnte und warum. (Abre numa nova janela) Und technisch wäre es absurd aufwendig gewesen, das so hinzubekommen.

Der letzte Punkt ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie Verschwörungsmythen und unrealistische Vorstellungen vom technisch Machbaren das Denken verkleben. Denn wahrscheinlich ist SARS-CoV2 durch den Konsum und Missbrauch von Wildtieren und dem zu engen Zusammenleben von Mensch und Tier entstanden. Was bedeutet, dass auf diesem Wege weitere Seuchen entstehen werden. Glauben wir jedoch an die Laborhypothese glauben, findet die Wildtierhypothese in unserem Denken erst gar nicht statt. Wir kommen nicht einmal entfernt auf den Gedanken, dass es eine gute Idee sein könnte, unseren Umgang mit Tieren zu verändern. Deshalb gibt es durchaus ein wirtschaftliches Interesse daran, dass viele Menschen an die Laborhypothese glauben, und verbreiten diese. Letzteres ist zwar nach aktuellem Stand eine Verschwörungstheorie, aber immerhin keine, die einen Mythos bemühen muss.

Ein schönes Restwochenende wünscht

Enno Park

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