Sprachlose Stille
Wir sind mittendrin
Erinnerungskultur. Das klingt schon so verschnarcht. Und auch irgendwie anstrengend und unangenehm. Und dann gibt es auch noch so viele Jahrestage. Allein, was da in den letzten Jahren alles dazu gekommen ist … oh. Tja. Wie konnte das eigentlich passieren? Wo wir doch so fleißig an all das Unrecht erinnern.
In diesem Newsletter soll es nicht um das schlechte Gewissen gehen. Sondern um Sprech- und Handlungsfähigkeit. Um Perspektiven, Erinnerungslücken und Konsequenzen. Denn wir haben nichts gewonnen, wenn wir erinnern ohne echte Erkenntnis. Wenn unser Handeln in der Zukunft nicht nach unseren Erkenntnissen ausgerichtet ist.
Also los. Fangen wir an:
Als mir am Mittwochmorgen per Toot jemand die Meldung "Hakenkreuze an Schulgebäude geschmiert" in die Timeline schickt, wühlt mich das ziemlich auf. Denn die verfassungswidrigen Zeichen befinden sich an den Wänden des Schulgebäudes der Theo-Hespers-Gesamtschule. Theo Hespers, das war mein Großvater. Er hat sich bereits vor 1933 politisch gegen die Nationalsozialisten engagiert, musste fliehen, wurde 1942 verhaftet und ein Jahr später von den Nazis als Hochverräter erhängt. Dass ausgerechnet an dieser Schule rechtsextreme Schmierereien auftauchen, hat schon eine besondere Qualität.
Nach dem ersten Schock bin ich vor allem eins: Sauer. Denn neben der Meldung, die auf dem Polizeibericht fußt, finde ich nirgendwo ein Statement dazu. Nicht von der Stadt, die in irgendeiner Form dazu Stellung nimmt. Und auch nicht von der Schule. Dabei ist der Sachverhalt bereits seit dem Wochenende bekannt. Die Schmiereien sind am Ostersonntag entdeckt worden.
Die Frage nach den Betroffenen
Was in der Polizeimeldung auch nicht zur Sprache kommt: Dass es sich bei der Schule um eine "Schule ohne Rassismus • Schule mit Courage handelt"*. Das heißt, in diese Schule gehen vor allem Kinder mit diversen Hintergründen. Das ist eine besondere gesellschaftliche Verpflichtung, der sich die Schule hier verschreibt. Eine, die eigentlich für jede Schule selbstverständlich sein sollte, aber das steht auf einem anderen Blatt.

Nachdem ich kurz überlegt habe, ob ich da jetzt auch irgendwie ins Visier geraten könnte, weil ich seit fast 10 Jahren zur Lebensgeschichte meines Großvaters publiziere, wird mir schnell klar: Um mich zu treffen muss man nicht erst ein Schulgebäude anschmieren. Das ginge viel bequemer per Mail. So wie andere Hater das ja auch tun. Und deshalb bin ich gleich mit meinem zweiten Gedanken bei den Schülys der Schule. Gerade vor dem Hintergrund der rechtsextremen, rassistischen Morde in Hanau 2020 oder dem - zum Glück - verhinderten rechtsterroristischen Anschlag an einer Schule in Essen-Borbeck (Abre numa nova janela) vor fast genau einem Jahr kann ich mir vorstellen, dass sich einige Schülys bedroht fühlen. Dass sich Eltern Sorgen machen um ihre Kinder. Dass sich möglicherweise auch die Lehrkräfte nicht mehr ganz wohl fühlen. Gerader deshalb wäre es wichtig, ein politisches Zeichen zu setzen. Aber ich finde nichts. Kein Statement, keine Pressemeldung. Nichts. Also rufe ich bei der Stadt Mönchengladbach an, um rauszufinden, wer da zuständig ist.
Mein nächster Gedanke ist: Jetzt, wo ich Kenntnis von dem Sachverhalt habe, kann ich nicht einfach dazu schweigen. Ich bin die Enkelin des Mannes, nach dem die Schule benannt ist. Ich schreibe über ihn. Ich stelle mich mit dieser Geschichte in die Öffentlichkeit. Ich kann jetzt nicht so tun, als würde mich das nichts angehen. Interessanterweise hat diesen Gedanken sonst niemand. Weder die Schule, noch die Stadt, noch die Polizei kontaktieren mich als Angehörige, um mich über den Vorfall zu informieren.
Lücke Nummer 1: Ja, wir leben.
Und damit sind wir bei der ersten Lücke in dieser Geschichte. Denn ich erlebe es zum wiederholten Male - und nicht nur persönlich -, dass ich als Nachfahrin keine Rolle spiele. Dass irgendwie nach meinem Großvater und seinem Tod, spätestens aber nach dem Tod meines Vaters, Schluss ist mit dem Gedanken, es gäbe noch weitere lebende Angehörige. Als wäre ich kein Teil dieser Geschichte. Als hätten sich die Auswirkungen dieser Geschichte irgendwann im Nichts verloren.

Ich arbeite seit inzwischen sieben Jahren auch mit anderen Nachfahr:innen von NS-Verfolgten zusammen und kann sagen: Das ist bei niemandem von uns der Fall. Weder in der zweiten noch in der dritten Generation. Es gibt uns. Wir leben. Und wir leben oft mit dem traumatischen Erbe dessen, was unseren Eltern oder Großeltern passiert ist. Es gibt keinen Schlussstrich. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben sich die Nazis nicht einfach in Luft aufgelöst. Und ebensowenig die Angehörigen derer, die von ihnen verfolgt und ermordet wurden. Wenn also so etwas passiert, ist es durchaus sinnvoll und wichtig, uns mit einzubeziehen. Oder vielleicht mal nachzufragen, wie es uns geht, wenn wir solche Nachrichten erhalten.
Und auch hier habe ich ein interessantes Schweigen aus meinem Umfeld vernommen. Zahlreiche Menschen haben sich mein Reel und meine Story bei instagram (Abre numa nova janela) oder die Toots bei Mastodon (Abre numa nova janela) angesehen. Aber irgendwas dazu sagen konnten die allerwenigsten. Sich vorstellen, was das mit mir macht, wahrscheinlich auch. Aber um mich geht es hier auch in erster Linie nicht. Und das hat es mir tatsächlich schwerer gemacht, mich zu dem Sachverhalt zu positionieren.
Erstveröffentlichung am 15. April 2023 via Substack