Warum ich leibliche Kinder wollte (Artikel aus 2016)
Während meiner Schwangerschaft hörte ich oft den Satz „Ich bin so gespannt, wie er aussehen wird!“ So richtig hat es aber keiner formuliert. Denn die meisten wollten wohl sagen „Ich bin gespannt, wie deine Gene“ (Südost-Asiatin, dunkle Haut, durchschnittliche 168cm) „und die deines Mannes“ (Mitteleuropäer, helle Haut, 190cm groß) „in eurem Sohn raus kommen.“ Und ja, ich war auch gespannt. Die Familie meines Mannes hat immer orakelt, dass er bestimmt groß wird, wenn er besonders viele von ihren Genen abbekommt (in seiner Familie sind alle recht groß ). Insgeheim hoffte ich ja, dass er besonders viel von mir abbekommt: asiatische Augen, dunkle Haut, schwarze Haare. Ich freute mich auf eine kleine Version von mir, ein Spiegelbild, ein Mini-Me. Ich wünschte mir das so sehr, habe das aber nie jemandem erzählt, weil ich ja sowieso keinen Einfluss darauf hatte. Zudem wäre die Frage gekommen: Warum ist dir das so wichtig? Um diese Frage zu beantworten, muss ich ein bißchen ausholen.
Ich bin die Jüngste von drei Töchtern. Meine älteste Schwester ist vier Jahre älter als ich, sie wurde von unseren Eltern aus Peru adoptiert. Ihre Haare sind tiefschwarz, ihre Haut leicht dunkler als die mitteleuropäische. Meine nächstältere Schwester ist zwei Jahre älter als ich und ist das leibliche Kind unserer Eltern. Sie hat sehr helle Haut und lange blonde (okay, blondierte) Haare. Jeder, der uns sieht, würde uns nicht für Schwestern halten. Diese Unglaubwürdigkeit haben Menschen gern auch schon früher laut zum Ausdruck gebracht. Beim Anblick meiner Mutter mit uns dreien: "Die treibt's auch mit jedem!" Oder auch das Gegenteil. Man wollte unserer Mutter Geld zustecken, weil man dachte, sie würde für ein Kinderheim arbeiten. Dass jede von uns anders aussieht und zwei von uns nicht die leiblichen Kinder unserer Eltern sind, war für uns niemals relevant. Wir haben gestritten und uns versöhnt, wir haben unsere Eltern stolz gemacht und Sorgen bereitet, ganz wie es Kinder eben tun.
Adoptierte Kinder teilen sich grob gesagt in zwei Kategorien (Anmerkung: So denke ich heute nicht mehr, die Sache ist viel komplexer.). Die, für die ihre Adoptivfamilie ihre "richtige" Familie ist, und die, die sich nie richtig zugehörig und identitätslos fühlen, auch wenn sie ihre Adoptivfamilie sehr lieben. Für die erste Kategorie kommt wohl trotzdem oft der Zeitpunkt, an dem sie zumindest ihr Geburtsland kennen lernen wollen oder sich auf die Suche nach ihren leiblichen Eltern machen. Dieser Zeitpunkt geht oft mit der Gründung einer eigenen Familie einher. Hochzeit oder die erste Schwangerschaft bringen Gedanken rund um Herkunft und Zukunft mit sich. Ich selber habe das gemerkt, als wir meine Geburtsurkunde von der Botschaft in Berlin anfordern mussten.
Ich fühle mich ganz und gar als Tochter meiner Eltern, ich fühle, dass Stuttgart meine Heimat ist. Für mich gibt es keinen Grund nach meinen leiblichen Eltern zu suchen. Trotzdem gibt es eine Sache, die tief in meinem Herzen schlummert, die ich ich noch nie laut ausgesprochen habe: In meiner Familie sieht mir keiner ähnlich. Einige von euch werden jetzt denken: Na, ist doch nicht schlimm, ich sehe weder wie meine Mutter noch wie mein Vater aus. Wenn ihr jetzt aber weiter denkt und vielleicht Bilder von euren Vorfahren anschaut oder die Kinder eurer Geschwister seht, dann blitzt da vielleicht doch eine Ähnlichkeit auf.
In meiner Familie sind optische Ähnlichkeiten kreuz und quer vorhanden. Die Töchter meiner Schwester sehen ihr so ähnlich, dass ich von weitem kaum sagen kann, wer da vor dem Haus steht. Und auch untereinander sehen ihre Kinder sich alle so ähnlich, dass man auf Kinderfotos nicht sagen kann, wer das nun ist. Es ist tatsächlich nur an der Jahreszahl zu erkennen. In der Stammfamilie meines Vaters gibt es die Kinnfalte. Mein Großvater und Großonkel haben eine richtige Spalte am Kinn, mein Vater eine Falte und meine Schwester ein tiefes Grübchen. Nicht, dass ich diese Kinnfalte haben möchte, aber es ist eben eine vererbte Ähnlichkeit, die ich so nicht habe. Auf dem Video unserer Hochzeit huscht ab und zu eine Person durchs Bild, die entweder mein Mann oder mein Schwiegervater sein könnte. Es ist nicht ganz klar, denn Statur, Haar, Größe und Bewegungen sind bei den beiden sehr ähnlich. Wenn meine Schwester in einem bestimmten Winkel nach unten schaut, sieht sie genau so aus wie meine Mutter auf diesem Bild aus den 70er Jahren: die blonden Haare, das Gesicht, die Mimik.
Und so gibt es viele, viele Beispiele für optische Ähnlichkeiten. Nur meine Optik beginnt und endet bei mir. So war es jedenfalls bisher. In der Schwangerschaft habe ich oft darüber nachgedacht, ob es Vor- oder Nachteile für meinen Sohn geben könnte, wenn er besonders wie ich aussieht. Einen kleinen Asiaten in Zeiten von Pegida und brennenden Flüchtlingsheimen in die Welt zu setzen, ist möglicherweise ein Wagnis. Wobei Stuttgart an sich, eine zwar sehr konservative, aber dennoch "offene" Stadt ist. Hier trifft man viele Schwaben, die nicht wie Schwaben aussehen. Jetzt erst verstehe ich, wie schwer es für meine Eltern in den 80er Jahren gewesen sein muss, Kinder zu haben, die optisch nicht in unseren Stuttgarter Vorort gepasst haben. Wie die Leute geguckt haben; wie man seine Kinder gern vor fremden Gaffern beschützt hätte.
Die Gaffer kennen mein Mann und ich zur Genüge. Oft schauen uns Menschen an, nein, sie starren eher. Und in ihren Augen spiegeln sich Gedanken wie "Aus welchem Katalog hat der die wohl bestellt?" Paare gemischter ethnischer Herkünfte sind hier wohl immer noch aufsehenerregend. Und da ist es ganz egal, ob wir uns mitten in der Innenstadt befinden oder im Baumarkt auf dem Land. Gerne schwäbel ich dann besonders ausführlich, um die Menschen noch mehr zu verwirren.
Aber kommen wir zurück zu meinem Sohn. Als mein Mann und ich begannen, über eine kleine Familie nachzudenken, gab es für uns zwei Optionen: ein Kind auf "natürlichem" Weg zu bekommen oder einem Kind die Möglichkeit zu geben, Teil unseres Lebens zu werden. Für viele Paare ist Adoption keine Option, weil natürlich ein Teil der körperlichen Erfahrungen weg fallen und man eben auch nicht seine Gene weiter gibt. Als wir einige Rückschläge hinnehmen mussten, war ich schon kurz davor, mich zum Thema Adoption zu informieren. Ich wusste aus den Unterlagen meiner Eltern, dass viel Schreibkram durch viele Hände gehen muss, und man viel Geduld mitbringen muss bis man ein nicht-leibliches Kind "mein Kind" nennen kann (Anmerkung: natürlich kann man "mein Kind" sagen, bevor der Schreibkram erledigt ist). All dies und eben die Tatsache, dass ich gerne ein kleines Mini-me gehabt hätte, hat mich der Natur nochmal eine Chance geben lassen.
Gegen Ende der Schwangerschaft habe ich mir nicht mehr viele Gedanken darüber gemacht, wie mein Sohn aussehen würde. Ich dachte nur "Hoffentlich tut das Ganze nicht so weh - Hoffentlich dauert die Geburt nicht drei Tage - Hoffentlich geht alles gut - Hoffentlich erkenne ich die Wehen, wenn es soweit ist....." Nach einer kurzen, nur am Ende etwas aufregenden Geburt war er endlich da. Ihm hing noch diverses Zeug in den Haaren und am Körper, aber eines konnte meine Mutter schon feststellen: "Er sieht aus wie du, als ich dich damals heimgeholt habe." Das war so schön und tat mir so gut.
Und auch jetzt, über 7 Monate nach seiner Geburt, sehe ich viel von mir, aber auch viel von Herrn M in ihm. Die Nase und die Augen hat er von mir. Diese tiefdunklen Augen. Dazu das dunkle, dichte Haar. Und wenn er so vom Boden zu mir hoch schaut, ist die Ähnlichkeit zu mir als Baby auf jeden Fall da. Und mehr hatte ich mir ja gar nicht gewünscht.