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Neugier und ADHS - ein anderes Modell

Die Studie "Distractibility and Impulsivity in ADHD as an Evolutionary Mismatch of High Trait Curiosity" von Anne-Laure Le Cunff liefert eine bemerkenswerte Perspektive auf die Entstehung und das Wesen von ADHS. Sie postuliert, dass die Kernsymptome Ablenkbarkeit und Impulsivität nicht als Defizite oder Fehler der neurologischen Entwicklung verstanden werden sollten, sondern vielmehr als Ausdruck einer evolutionär vorteilhaften Eigenschaft: einer überdurchschnittlich ausgeprägten Neugier, die sich in explorativem Verhalten und schneller Reaktionsfähigkeit zeigt. Dieses Konzept der "Hyperneugier" ermöglicht einen Blick auf ADHS, der sowohl die Herausforderungen als auch die besonderen Stärken dieser Neurodivergenz betont.

Evolutionäre Perspektive: Warum Hyperneugier adaptiv war

In der Menschheitsgeschichte, insbesondere in der Zeit der Jäger und Sammler, war das Überleben eng mit der Fähigkeit verbunden, neue Informationen zu suchen und auf unvorhersehbare Veränderungen in der Umgebung zu reagieren. Menschen, die neugierig und explorativ waren, hatten Vorteile: Sie konnten neue Ressourcen entdecken, besser auf potenzielle Gefahren reagieren und schneller Lösungen für neue Herausforderungen finden. In solchen Kontexten war es nicht nur nützlich, sondern essenziell, ständig nach neuen Reizen Ausschau zu halten, Ablenkungen wahrzunehmen und sich flexibel an neue Umstände anzupassen.

Die Studie verweist hier auf das Konzept der "evolutionären Mismatch-Hypothese". Dieses Modell erklärt, wie Eigenschaften, die einst unter bestimmten Umweltbedingungen vorteilhaft waren, in modernen Gesellschaften zu Herausforderungen werden können. Die Welt, in der wir heute leben, ist stabil, informationsreich und oft monoton strukturiert. Anstatt ständig nach neuen Reizen suchen zu müssen, ist die Fähigkeit, sich auf monotone, aber komplexe Aufgaben zu konzentrieren, gefragt. Genau in diesem Kontext wird die einst adaptive Neugier zur Belastung – Ablenkbarkeit und Impulsivität, die in der Jäger-und-Sammler-Umgebung überlebenswichtig waren, werden nun als Symptome einer Störung klassifiziert.

Neugier als zentrales Element von ADHS

Ein besonders interessanter Punkt der Studie ist die Verbindung zwischen Neugier, Ablenkbarkeit und Impulsivität. Neugier wird hier als mehrdimensionales Konstrukt betrachtet. Sie umfasst zum einen die "epistemische Neugier", also das tiefe Bedürfnis nach Wissen und Verstehen, und zum anderen die "diversive Neugier", die auf flüchtige Reize und die Suche nach Abwechslung abzielt. Menschen mit ADHS scheinen besonders anfällig für letztere zu sein. Dieses Bedürfnis nach neuen Reizen führt zu einem ständigen Wechsel der Aufmerksamkeit – eine Eigenschaft, die in modernen Umgebungen oft als Ablenkbarkeit negativ bewertet wird.

Die neurologischen Grundlagen dieser Neugier liegen in dopaminerg gesteuerten Belohnungssystemen des Gehirns, insbesondere im Striatum und dem präfrontalen Kortex. Studien zeigen, dass bei Menschen mit ADHS die Belohnung durch neue Informationen und Reize überproportional aktiviert wird. Dieses Phänomen erklärt nicht nur die Ablenkbarkeit, sondern auch die Impulsivität – den Drang, sofort zu handeln, um eine potenziell belohnende Erfahrung zu machen. Dieser "Drang zu wissen" ist laut der Studie nicht nur ein Kernaspekt von ADHS, sondern auch ein möglicher Grund, warum Menschen mit ADHS oft außergewöhnliche Fähigkeiten im kreativen Denken und Problemlösen zeigen.

Formen von Neugier: Ein tieferer Einblick

Die Studie beschreibt verschiedene Formen von Neugier, die helfen, die Verhaltensweisen von Menschen mit ADHS zu verstehen. Zwei Hauptformen stehen im Mittelpunkt: epistemische Neugier und diversive Neugier. Diese werden durch weitere Dimensionen im Rahmen des 5-Dimensional-Curiosity-Modells (5DC) ergänzt.

Epistemische Neugier: Die Suche nach Wissen

Epistemische Neugier beschreibt das tiefe Bedürfnis, Wissen zu erwerben und Unsicherheiten zu reduzieren. Menschen mit epistemischer Neugier streben danach, Informationen zu sammeln, zu analysieren und zu verstehen.

  • Eigenschaften:

    • Zielgerichtet und langfristig orientiert.

    • Intrinsische Motivation, angetrieben durch die Freude am Verstehen.

    • Reduktion von Unsicherheiten als zentrale Triebkraft.

  • Relevanz bei ADHS: Epistemische Neugier kann intensiven Hyperfokus auslösen. Wenn ein Thema als interessant empfunden wird, können Betroffene Stunden damit verbringen, tief in das Thema einzutauchen. Diese Fähigkeit ist eine Stärke, wird aber nur in Bereichen sichtbar, die als persönlich relevant wahrgenommen werden.

Diversive Neugier: Die Suche nach Abwechslung

Diversive Neugier beschreibt das Bedürfnis nach neuen, abwechslungsreichen und aufregenden Reizen.

  • Eigenschaften:

    • Reizgetriebenheit, fokussiert auf neue, unerwartete Stimuli.

    • Kurzfristige Orientierung, ohne tiefergehendes Interesse.

    • Wechselnde Aufmerksamkeit als Folge.

  • Relevanz bei ADHS: Diese Form der Neugier wird als Hauptfaktor für die Ablenkbarkeit bei ADHS beschrieben. Neue Reize ziehen die Aufmerksamkeit unwillkürlich auf sich. Dies kann zu Problemen in strukturierten Kontexten führen, aber auch Vorteile in kreativen und dynamischen Umgebungen bringen.

Fünf Dimensionen von Neugier im 5DC-Modell

Zusätzlich zu den beiden Hauptformen beschreibt das 5DC-Modell folgende Dimensionen:

  1. Joyous Exploration (Freudige Erkundung): Die Freude am Lernen und Entdecken neuer Dinge.

  2. Deprivation Sensitivity (Empfindlichkeit gegenüber Unwissenheit): Das Bedürfnis, fehlendes Wissen zu schließen.

  3. Stress Tolerance (Stress-Toleranz): Die Fähigkeit, trotz Unsicherheiten neugierig zu bleiben.

  4. Social Curiosity (Soziale Neugier): Interesse an sozialen Dynamiken und anderen Menschen.

  5. Thrill Seeking (Reizsuche): Suche nach aufregenden oder riskanten Erfahrungen.

Diese Dimensionen erklären, warum Menschen mit ADHS in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Stärken und Schwächen zeigen.

Hyperneugier: Eine übergeordnete Kategorie

Die Studie führt das Konzept der Hyperneugier ein, das epistemische und diversive Neugier verbindet. Hyperneugier beschreibt eine ausgeprägte Suche nach neuen Informationen und Reizen, oft gepaart mit Impulsivität und einem schnellen Wechsel der Aufmerksamkeit.

  • Exploration: Ständiges Suchen nach neuen Reizen, auch auf Kosten bestehender Aufgaben.

  • Impulsivität: Drang, neue Stimuli sofort zu erfassen, ohne Konsequenzen zu bedenken.

Hyperneugier ist adaptiv in dynamischen Umgebungen, aber herausfordernd in strukturierten Kontexten wie Schule oder Beruf.

Hyperneugier und ihre Rolle in modernen Gesellschaften

Die moderne Welt stellt besondere Herausforderungen für Menschen mit ADHS dar. Unsere Gesellschaft ist durch eine Überflut an Informationen geprägt, die ständig unsere Aufmerksamkeit fordern. Digitale Medien verstärken diese Problematik, da Menschen mit ADHS sich leicht in der Vielzahl an Reizen verlieren können. Gleichzeitig verlangen Bildung und Arbeitswelt die Fähigkeit, sich über längere Zeit auf monotone Aufgaben zu konzentrieren. Diese Diskrepanz wird als "Mismatch" beschrieben: Was früher adaptiv war, wird heute oft als Defizit wahrgenommen.

Positive Aspekte und Stärken von ADHS

Ein zentraler Aspekt der Studie ist die Betonung der positiven Seiten von ADHS. Menschen mit ADHS sind oft kreativ, innovativ und energisch. Ihre Fähigkeit, schnell auf neue Informationen zu reagieren und ungewöhnliche Verbindungen herzustellen, ist ein unschätzbarer Vorteil in Bereichen wie Forschung, Kunst und Technologie.

Vergleich mit anderen evolutionären Theorien

Die von Le Cunff vorgeschlagene Theorie ergänzt frühere Modelle, die ADHS als Anpassung an eine Jäger-und-Sammler-Umgebung erklären. Während andere Theorien Hyperaktivität und Impulsivität betonen, erweitert Le Cunff den Fokus auf Neugier und Exploration. Ihre Hypothese integriert zentrale Eigenschaften von ADHS in ein kohärentes Modell.

Wie ich es sehe…

Die Studie liefert einen innovativen Blick auf ADHS, der Defizitmodelle hinterfragt und Stärken hervorhebt. Ablenkbarkeit und Impulsivität sind Ausdruck einer besonderen Fähigkeit zur Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen. Dieser Ansatz bietet neue Perspektiven für Forschung, Therapie und Bildung. Wenn es gelingt, die Stärken von Menschen mit ADHS in den Vordergrund zu stellen und Herausforderungen der modernen Umwelt zu adressieren, könnte dies zu einem besseren Verständnis und einer inklusiveren Gesellschaft beitragen.


Was denkt ihr darüber ?

Le Cunff, AL. Distractibility and Impulsivity in ADHD as an Evolutionary Mismatch of High Trait Curiosity. Evolutionary Psychological Science 10, 282–297 (2024). https://doi.org/10.1007/s40806-024-00400-8 (Abre numa nova janela)

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