Ein Hauch von Dreyfus?
Das Verhalten des Chefanklägers des internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, beschädigt die Glaubwürdigkeit seines Gerichts.

Der internationale Strafgerichtshof in Den Haag war bis letztes Jahr nicht allzu vielen Menschen ein Begriff, auch deren Chefankläger:innen nicht. Bis heute wird der in den 90ern gegründete Strafgerichtshof häufig mit dem zum UN zugehörigen Internationalen Gerichtshof aus derselben Stadt verwechselt, obwohl sie unterschiedliche Aufgaben haben.
Letztes Jahr hingegen katapultierte der amtierende Chefankläger des internationalen Strafgerichtshofs, der britische Anwalt Karim Khan, das Gericht ins internationale Rampenlicht. Es ging dabei um den Antrag auf Haftbefehle (Opens in a new window) zweier israelischer Politiker, den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und dessen Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit. Dabei ging es fast ausschließlich um die Versorgung der Zivilbevölkerung mit Hilfsgütern. In einem Atemzug wurden damit Anträge auf Haftbefehle gegen 3 Anführer der Hamas gestellt, von denen 2 damals schon tot waren und einer wenig später von Israel getötet werden würde. Diese Anträge bezogen sich auf die Verbrechen der Hamas beim Massaker vom 7. Oktober in Südisrael. Auch diese lauteten auf mutmaßliche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit. International entstand der Eindruck, dass die überwiegend toten Hamas-Anführer auf demselben Level stehen würden wie die israelischen Politiker.
Die internationale Medienaufmerksamkeit war immens, Khan gab eine Reihe von Interviews, um seine Sicht der Dinge als Ankläger zu untermauern. Vor allem aber stand Karim Khan nun als mutiger Kämpfer für die Rechte der Palästinenser da und die israelischen Politiker als Verbrecher, die mit Terroristen gleichzusetzen seien (oder sogar schlimmer).
Bis dahin hatten die Chefankläger:innen Anträge auf Haftbefehle erst nach deren Genehmigung durch ein Gericht öffentlich gemacht, um die Gerichte, die über den Antrag zu entscheiden hatten, nicht in ungebührlicher Weise unter Druck der Medienöffentlichkeit zu setzen.
Tatsächlich ist es in rechtsstaatlichen Verfahren eigentlich ein Unding, wenn Staatsanwaltschaften ihre Anklageschriften vor den Medien verlesen, insbesondere wenn es emotional diskutierte Fragen mit politischer Sprengkraft betrifft. Somit kann die Unschuldsvermutung infragegestellt und Druck auf das Gericht ausgeübt werden. Khans Vorgehen war daher selbst unter seinem eigenen Team umstritten.
Dennoch ließ das unter diesem politischen Druck stehende Gericht die Anklage anschließend zu und genehmigte den Antrag auf Haftbefehle (Opens in a new window).
Doch das Verhalten Khans hat nun trotzdem ein gehöriges Nachspiel.
Das Gericht hat jetzt Khan dazu verpflichtet (Opens in a new window), den Gang an die Medien bei weiteren Anträgen auf Haftbefehle in Zukunft zu unterlassen. Er könne erst mit Erlaubnis des Gerichts an die Öffentlichkeit gehen oder wenn die Haftbefehle bereits erlassen sind. Ironisch ist dabei, dass auch diese zunächst geheime Anordnung nun durch die Medien geht und bei manchen Kreisen für Zensurvorwürfe sorgt (Opens in a new window), was zeigt, auf welche Art und Weise die Vorwürfe Khans gegenüber Israel politisiert worden sind.
Dabei geht es längst nicht nur um Israel. Auch andere Anklageschriften wie die rund um Vorwürfe von Verbrechen in Afghanistan oder in Myanmar wurden von Khan seitdem medial veröffentlicht, obwohl es dazu noch immer keine Haftbefehle gibt.
Erst Anfang April 2025 hatte Khan in einem Interview mit dem vom autoritären türkischen Staat abhängigen Auslandssender TRT (Opens in a new window) gesagt, dass „Babys [in Gaza] zerstört, dezimiert, zerstückelt werden“. In der Beschreibung des Videos wurde auch von „Israels andauerndem Völkermord“ gesprochen.
Khans Vorgehen gegenüber Israel ist aber noch in einer anderen Frage umstritten.
Khan hatte die Anträge auf Haftbefehle gestellt, als die rechtlichen Grundlagen für den Haftbefehl noch nicht geklärt waren. Der Staat Israel, der das Rom-Statut nicht ratifiziert hat und damit nicht von sich aus dem Internationalen Strafgerichtshof unterworfen hat, hat vor dem Gericht eine Reihe von Bedenken bezüglich der Zuständigkeit des IStGH geltend gemacht (Opens in a new window). Dabei geht es insbesondere um die Frage, ob der Staat Palästina überhaupt das Recht hat, dem Rom-Statut beizutreten und Hoheitsrechte an den Gerichtshof zu übertragen. Dazu passt, dass die mit Israel unterzeichneten Oslo-Verträge es der palästinensischen Autonomiebehörde als offiziell anerkannter Regierung des Staates Palästinas eigentlich gar nicht erlaubt, israelische Staatbürger:innen rechtlich zu belangen. Wie könnte dann dieser selbsterklärte Staat eine Zuständigkeit an den IStGH übertragen, die er nach seiner eigenen Rechtslage gar nicht besitzt?
Diese Bedenken wurden von der Vorverfahrenskammer bei der Genehmigung der Haftbefehle einfach weggewischt und auf später vertagt (Opens in a new window), so wie es Khan gewünscht hatte.
Nun hat eine Berufungskammer des Strafgerichtshofs jedoch den israelischen Bedenken teilweise rechtgegeben (Opens in a new window) und angeordnet, dass das Verfahren nicht fortfahren dürfe, bis die Verfahrensfragen vom Gericht geklärt seien. Das Berufungsgericht selbst hob den Haftbefehl dabei solange allerdings nicht auf, das Vorverfahrensgericht könne dies jedoch noch tun.
Doch auch eine weitere Problematik könnte den Chefankläger und das Gericht belasten:
Das Gericht beruht auf dem Grundsatz der Komplementarität (Opens in a new window). Das heißt, der Internationale Strafgerichtshof übernimmt seinen Statuten nach erst einen Fall, wenn die nationalen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte entweder nicht fähig oder willens sind, Vergehen gegen das Kriegsvölkerrecht selbstständig zu verfolgen.
Somit muss sich der IStGH in der Regel zunächst darum bemühen, die nationalen Gerichte anzurufen oder juristisch zu beraten, damit diesen eine Chance gegeben wird, selbstständig tätig zu werden.
Es gibt starke Hinweise darauf, dass sich Khan kaum darum bemüht hat, dies zu tun. Auch wenn Israels Rechtsstaat in den letzten Jahren von den Netanjahu-Regierungen geschleift worden ist, besitzt Israel durchaus noch eine unabhängige Justiz, die auch eigene Urteile über völkerrechtliche Fragen verabschiedet hat, zuletzt Ende Februar in Bezug auf völkerrechtliche Verpflichtungen gegenüber dem Gazastreifen (Opens in a new window). Als Khan seinen Antrag auf Haftbefehle im Mai 2024 ankündigte, sagte er gleichzeitig einen monatelang geplanten Besuch Israels und der palästinensischen Gebiete ab (Opens in a new window), der direkt im Anschluss hätte geschehen sollen.
Bis dahin hatte Khan Israel und die Region nur ein Mal seit Beginn des Krieges besucht, nämlich im November 2023. Dabei besuchte er die palästinensische Autonomiebehörde und Überlebende der Massaker des 7. Oktobers in Israel (Opens in a new window). Gespräche mit israelischen Gerichten oder israelischen Politiker:innen standen nicht auf der Agenda. Ebenso wollte Khan palästinensische NGOs treffen, die Israel kritisieren, doch diese verweigerten das Treffen. Ihrer Meinung nach habe Khan palästinensische Anliegen ignoriert und israelische Anliegen über diese gestellt (Opens in a new window), indirekt warfen sie ihm aber auch seinen Besuch in Israel und sein Treffen mit den Opfern des 7. Oktobers vor.
Kurios dabei auch: Karim Khan hatte bei diesem Besuch noch gesagt, dass Israel eine robuste unabhängige Justiz habe. Umso überraschender war daher der Antrag auf Haftbefehle nur 6 Monate später, vor allem für die israelische Justiz, die sich daher kaum darauf vorbereiten konnte. Die unabhängige israelische Generalstaatsanwältin Baharav-Miara sowie die für israelische Kriegsverbrechen zuständige unabhängige Militäranwältin Tomer-Jeruschalmi verurteilten Khans Vorgehen (Opens in a new window) daher als Verstoß gegen den Komplementaritätsgrundsatz und als ungerechtfertigtes Misstrauen gegenüber ihnen und dem israelischen Rechtsstaat. In Israel wird das Vorgehen des IStGH daher als politisch motiviert eingestuft und über fast alle politischen Lager hinweg abgelehnt.
Auch ein Treffen Khans mit dem syrischen Übergangspräsidenten Ahmed al-Shara’a im Januar 2025 (Opens in a new window) stand in der Kritik, werden al-Shara’a doch diverse Kriegsverbrechen vorgeworfen, die er als islamistischer Rebellenanführer begehen ließ. Da Syrien das Rom-Statut derzeit jedoch nicht ratifiziert hat, wäre der Gerichtshof für al-Shara’a vorgeworfene Verbrechen ohnehin nicht zuständig, was ein gehöriges Geschmäckle hinterlässt.
Und selbst Khans persönliches Verhalten steht in der Kritik, wurden gegen ihn doch Vorwürfe der sexuellen Belästigung (Opens in a new window) gegenüber einer Kollegin laut.
Letztlich steht das Ansehen des Gerichtshofs als rechtsstaatliches Instrument nun lädiert da. Und sei es nur, weil die Öffentlichkeit häufig den Chefankläger Karim Khan mit dem Gerichtshof als Ganzes gleichsetzt. Verfehlungen Khans fallen damit auf den Gerichtshof an sich zurück, der sich jedoch oft als Garant der regelbasierten Ordnung inszeniert. Alle Kritik am Gerichtshof wird somit oft als Feindseligkeit gegenüber der regelbasierten Ordnung abgetan (Opens in a new window).
Der Internationale Strafgerichtshof ist von seinem Ansehen abhängig, nur wenn der Gerichtshof höchsten rechtsstaatlichen Kriterien genügt, wird er sich seinen Platz in der Weltordnung verdienen. Nur so werden mehr Staaten das Rom-Statut unterschreiben, mit dem Gericht kooperieren oder es unterlassen, Sanktionen gegen den Gerichtshof zu verhängen, so wie es Putins Russland (Opens in a new window) als auch Trump mit einem Präsidialdekret (Opens in a new window) getan haben.
Wenn auch nur geringe Zweifel an diesem rechtsstaatlichen Ansehen aufkommen, gerade in Bezug auf eine Demokratie mit relativ unabhängiger Justiz, verrät der Gerichtshof seine eigenen behaupteten Werte und gefährdet damit seine eigene Existenz. Und die regelbasierte Ordnung, die der Gerichtshof zu verteidigen behauptet.