Kampf der Gerichte
Internationale Gerichte verurteilen Israel häufig - Grundlage dafür sind völlig unterschiedliche Rechtsauffassungen zwischen internationalen Gerichten und den israelischen Gerichten zur Frage, ob Gaza besetzt ist oder nicht. Auch diese Woche wird sich dies vor dem Internationalen Gerichtshof fortsetzen.

Diese Woche findet eine Reihe von Anhörungen vor dem Internationalen Gerichtshof zu Israel statt.
Die UN-Generalversammlung hat diese Anhörung forciert und will eine Klärung der völkerrechtlichen Verpflichtungen Israels hinsichtlich der Zivilbevölkerung in den palästinensischen Gebieten.
Dabei geht es einerseits um die Frage, ob Israel dazu gezwungen werden muss, die UN-Unterorganisation der Generalversammlung, die UNRWA, allgemein anzuerkennen und mit ihr zu kooperieren, obwohl diese ein handfestes Problem mit Unterwanderung durch Terrorgruppen hat.
Ebenfalls geht es um die Frage, wie weit Israels völkerrechtliche Verpflichtungen gegenüber der Versorgung der Zivilbevölkerung Gazas gehen, also wie viel humanitäre Hilfe sie nach Gaza durchlassen muss.
Vor allem letzterer Punkt ist hochaktuell, da nachweislich Israel seit dem 2. März keine Hilfslieferungen mehr nach Gaza durchlässt, nachdem die Hilfslieferungen während des Waffenstillstands ein sehr großes Volumen erreicht hatten. In den letzten Tagen ist die humanitäre Lage in Gaza deswegen immer schlechter geworden.
Dieser Prozess wird aber kaum dazu dienen, Druck auf Israel auszuüben.
Das hat vor allem einen abstrusen Grund:
Israels Gerichte und das Internationale Gericht haben eine völlig unterschiedliche Rechtsauffassung.
Die Beteiligten vor dem Gericht, Staaten, UN, Staatenbünde, sagen allesamt, dass Gaza besetzt sei und begründen damit sehr hohe Verpflichtungen, die Israel demnach habe. Israel müsse nicht nur Hilfslieferungen durchlassen, sondern auch eine Versorgung der Zivilbevölkerung selbstständig sicherstellen, weil sie ja das Gebiet vollumfänglich kontrolliere.
Israels unabhängiges Oberstes Gericht (das Gericht, das seine Unabhängigkeit gegen Netanjahus Justizreform bisher verteidigt hat) hat aber erst Ende Februar in einer wegweisenden Entscheidung (Opens in a new window) festgestellt, dass der Gazastreifen eben nicht besetztes Gebiet sei. Die Begründung: Zwei der drei Kriterien für besetzte Gebiete träfen nicht zu, und zwar fehlten eine eigene israelische Verwaltung Gazas und es gäbe weiterhin eine andere Regierung (hier die Hamas).
Das heißt, dass Israel nach Auffassung der obersten Gerichtshofs Israels Hilfslieferungen nur durchlassen müsse und das auch militärstrategischen Erwägungen unterwerfen könne. Sie dürfe Hilfslieferungen also lediglich nicht grundlos behindern oder blockieren, müsse aber nicht selbst tätig werden. Man dürfe lediglich eine Bevölkerung nicht aushungern, so wie es Aserbaidschan im Berg-Karabach-Konflikt getan hat.
Diese Entscheidung des obersten Gerichts war einstimmig, was für Israel sehr ungewöhnlich ist und maßgeblich verfasst hat die Entscheidung der vorsitzende Richter Amit, der monatelang von Netanjahu an der Ausübung seines Amtes behindert worden war.
Internationale Gerichte haben sich bislang jedoch nie sonderlich für die Urteile des israelischen Rechtsstaats interessiert und hat eine ganz eigene Rechtsauffassung. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag wird selbstverständlich entscheiden, dass Israel seine völkerrechtlichen Verpflichtungen massiv verletzt habe, weil es Gaza wie ein Kriegsgebiet behandelt und nicht wie ein besetztes Gebiet, das von Israel verwaltet wird.
Aus israelischer Sicht ist das aber ein Hohn, weil die Hamas nachweislich nach wie vor den Gazastreifen verwaltet, nicht Israel, was ja auch eines der Gründe dafür ist, warum die Hamas noch immer in Gaza regiert.
Aus einstimmiger(!) Sicht des israelischen obersten Gerichts ist das israelische Verhalten bei den Hilfslieferungen zumindest bis Ende Februar rechtskonform. Denn aus Sicht der Richtenden Amit, Sohlberg, etc. handelt es sich bei Gaza um fremdes Gebiet mit reduziertem völkerrechtlichem Schutz und nicht um besetztes Gebiet. Da das Gebiet in Kriegshandlungen verwickelt ist, ist demnach der völkerrechtliche Schutz noch etwas geringer. Und dementsprechend verhält sich die israelische Regierung auch, zumindest bis Ende Februar.
Aber der internationale Gerichtshof in Den Haag wird es anders sehen, Gaza wurde dort niemals aus der Besatzung entlassen und so wird auch Israel nach anderen Maßstäben beurteilt.
Die mit großer Mehrheit oder einstimmig erfolgen werdende Entscheidung des internationalen Gerichtshofs gegenüber Israel in der Frage Gazas (die separate UNRWA-Frage ist wesentlich interessanter, wird in der Berichterstattung aber ziemlich untergehen) wird deswegen in Israel verurteilt werden, denn der oberste Gerichtshof Israels hatte das ja gerade erst geklärt. Und war zu ganz anderen Ergebnissen gekommen als das UN-Gericht in Den Haag kommen wird.
Diese ganze Diskussion über das Völkerrecht und Gaza leidet die ganze Zeit unter dieser Problematik: Dass die besonders israelkritischen Stimmen, also die UN und Menschenrechtsorganisationen, immer ihre rechtlichen Analysen davon abhängig machen, dass Israel den Gazastreifen vollumfänglich verwaltet und kontrolliert und daher Besatzungsmacht ist, obwohl die israelische Rechtsauffassung eine andere ist.
Nur deswegen verletzt Israel zumindest scheinbar systematisch in Gaza das Völkerrecht. Weil dessen Rechtssystem Gaza anders einstuft als viele Auswärtige und dementsprechend sein Verhalten nach der israelischen Rechtsauffassung ausrichtet und nicht etwa nach der Rechtsauffassung eines fernen Gerichts, das mit der Situation in der Region überhaupt nicht vertraut ist.
Solange dieser große Unterschied in der Frage besteht, ob Gaza besetzt ist oder nicht, und daraus dann so völlig unterschiedliche Schlussfolgerungen herauskommen, wird diese aus UN-Sicht "systematische Völkerrechtsverletzung Israels" weitergehen und die aus israelischer Sicht ungerechtfertigte Einmischung der UN in innere Angelegenheiten eines (Noch-)Rechtsstaats.
Und solange wird Israels Regierung gegen solche Urteile protestieren, die Menschen verfassen, die mit dem Nahostkonflikt nur beiläufig vertraut sind und sich ausschließlich auf UN-Berichte verlassen, die nicht unbedingt ausgewogen sind.
Wie sieht es jetzt aber mit der Situation der Hilfsgüter nach Gaza allgemein aus? Verstößt das gegen die israelische Auffassung von Völkerrecht?
Der oberste Gerichtshof Israels hat dazu keine Aussage getroffen, er bezog sich nur auf den Zeitraum bis Ende Februar, bis dahin wurden Hilfsgüter durchaus weitgehend durchgelassen und das sei nach israelischer Rechtsauffassung rechtskonform gewesen, obwohl es auch in dieser Zeit, vor allem im März und April 2024 Lebensmittelmangel gegeben hatte, die zumindest zu etwa 30 toten Menschen geführt hatte, überwiegend Kinder mit besonderen Erkrankungen.
Eine langanhaltende Blockade, wie sie seit Anfang März besteht, ist aber definitiv auch nach israelischer Rechtsauffassung nicht rechtens. Auch die IDF-Richter:innen wissen, dass sie zumindest eine Verpflichtung dazu haben, dass es keine Hungersnot in Gaza gibt und dass Hilfsgüter dorthin nicht blockiert werden dürfen, zumindest nicht über einen langen Zeitraum.
Das Problem dabei ist jedoch, dass die Hamas die Hilfsgüter als Haupteinnahmequelle nutzt, sie mit hohen Zöllen und Steuern belegt und sie seit Ende der Hilfslieferungen seine Kämpfer nicht mehr bezahlen kann. Das verkompliziert die rechtliche Situation aus israelischer Rechtsauffassung in gewisser Weise, weil so argumentiert werden kann, dass die Hilfsgüter ja eine Finanzierung der Hamas seien (was ja wirklich auch stimmt).
Ergo sei es doch widersinnig, die Hamas zu finanzieren und zu stärken.
Aber mit dem Argument kann man natürlich auch ein Aushungern der Bevölkerung "rechtfertigen", das definitiv völkerrechtswidrig wäre. Das ist im Übrigen auch der Vorwurf der Anklage des internationalen Strafgerichtshofs.
In der Tat gibt es starke Belege dafür, dass die israelische Regierung die Hilfslieferungen als Verhandlungsmasse bei den Geiselverhandlungen mit der Hamas nutzt und damit die Pflicht zum Durchlassen der Hilfslieferungen zu einem Privileg gemacht wird.
Das wird in Israel dann oft damit rechtfertigt, dass die Hamas ja auch völkerrechtswidrig die Geiseln als Verhandlungsmasse nutzt (was stimmt) und die Hamas nur die Geiseln freilassen und sich ergeben müsse, dann sähe die Versorgungslage der Zivilbevölkerung sofort viel besser aus (das stimmt auch).
Aber so begibt sich Israel natürlich in gewisser Weise auch aufs Niveau der Hamas, was vielleicht realpolitisch im Krieg vernünftig wirkt, letztlich aber unmoralisch ist.
Zudem wäre eine Blockade von Hilfslieferungen nach Gaza aufgrund von militärtaktischen Erwägungen gegenüber der Hamas letztlich auch eine Blockade von Hilfslieferungen für die israelischen Geiseln.
Fakt ist, dass man in Israel schon längst begonnen hat, darüber zu debattieren, wie man Hilfsgüter nach Gaza bekommen kann, ohne dass die Hamas davon profitiert. Man weiß also grundsätzlich schon, dass man dazu verpflichtet ist, selbst nach israelischer Rechtsauffassung, das hat der israelische oberste Gerichtshof auch so klargestellt. Aber man weiß auch, dass man die Hilfsgüter nicht von der Hamaskontrolle fernhalten kann, die IDF hat keinen Weg gefunden, die Hamas irgendwie zu umgehen.
Insofern schiebt man das Thema auf, aus Angst, die eigene Wähler:innenschaft zu verprellen.
Und das, obwohl viele westliche Staaten ein Wiederdurchlassen der Hilfslieferungen fordern und sogar Trump(!!!) dazu aufgerufen hat, auch wenn die Lage in Gaza noch längst keine Hungersnot erreicht hat.
Solange verschlechtert sich die humanitäre Lage im Gazastreifen aber weiter und wird Israel wieder stärker politisch isolieren.